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Prozessauftakt nach MesserattackeIbrahim A. hält sich für unschuldig

In Brokstedt soll der 34-jährige Staatenlose auf mehrere Menschen eingestochen haben. Nun hat der Prozess gegen ihn begonnen.

Der Angeklagte Ibrahim A.an seinem Platz im Gerichtssaal in Itzehoe Foto: Christian Charisius/dpa

ITZEHOE taz | Mit Handschellen und Fußfesseln führen drei Justizbeamte Ibrahim A. in den Verhandlungssaal, der dunkelhaarige Mann wirkt klein und schmal neben den Beamten. Der staatenlose 34-Jährige, der aus Palästina stammt, soll am 25. Januar in einem Regionalzug bei Brokstedt in Schleswig-Holstein mit einem Messer auf sechs Menschen eingestochen haben. Zwei starben noch am Tatort, die übrigen erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen und bleibende Narben. Ein Opfer suizidierte sich einige Monate nach der Tat.

In dem Prozess, der sich bis Weihnachten hinziehen könnte, wird es darum gehen, ob der psychisch kranke A. schuldfähig ist. Wird er wegen Mordes verurteilt, droht ihm eine lebenslängliche Haftstrafe, kommt er in die Psychiatrie, droht ihm Sicherheitsverwahrung auf unbestimmte Zeit. Er selbst erklärte sich für unschuldig.

An jenem Januartag fuhr A., der gerade aus der U-Haft in Hamburg entlassen worden war, nach Kiel, um abgelaufene Papiere verlängern zu lassen – A. lebte seit 2014 geduldet in Deutschland. In der Kieler Behörde wurde er von Schalter zu Schalter geschickt. Vor der Rückfahrt nach Hamburg stahl er ein Messer in einem Supermarkt.

Staatsanwältin Janina Seyfert wertet das als Zeichen, dass die Tat geplant war. Sie wirft A. zweifachen Mord und vierfachen versuchten Mord mit Körperverletzungen vor: Er habe in dem Regionalzug aus Wut und „zum Zweck des Abreagierens wahllos auf Personen eingestochen“. Mit zahlreichen Stichen tötete er eine 17-Jährige und ihren 19-jährigen Freund, ging weiter durch den Zug, der gerade in Brokstedt einfuhr, und verletzte zwei weitere Frauen und zwei Männer, darunter einen, der einem anderen Verletzten zu Hilfe kam. Auf dem Bahnsteig überwältigten ihn mehrere Mitreisende. Mehrere der Betroffenen oder deren Angehörige treten als Nebenklagende auf.

Beleidigungen aus dem Fernseher

Während der Anklageverlesung stützte A. das Gesicht in die Hände oder sah geradeaus. Auf die Frage des Richters Johann Lohmann, ob er etwas zu Tat sagen will, antwortete A. auf Deutsch und Arabisch: „Das ist alles nicht richtig.“ Statt von den Ereignissen am 25. Januar berichtete er von seiner U-Haft in Hamburg: Ständig sei er verfolgt worden, Leute hätten bei ihm geklopft.

Sein Anwalt Björn Seelbach, der ihn bereits aus früheren Verfahren viele Jahre kennt, sagte: „Er wäre in einer Psychiatrie besser untergebracht als im Gefängnis.“ Ein Sachverständiger diagnostizierte eine Psychose. Doch er wie auch die Staatsanwältin gehen zur Zeit von der Schuldfähigkeit aus. „Aber das wird ein Thema sein“, sagte Seyfert.

Seelbach glaubt, dass die Krankheit sich in den vergangenen Monaten „galoppierend“ verstärkt und A. auch während der „unzweifelhaften und schrecklichen“ Tat im Zug beeinflusst habe. So fühle A. sich angegriffen und höre aus dem Fernsehen Beleidigungen, berichtet der Anwalt in einem Pressestatement nach der Verhandlung.

Faeser will ein Messerverbot in Zügen

Sofort nach der Tat begann auch die politische Aufarbeitung. Denn es stellten sich Fragen: Warum wurde ein Mensch, der bereits mehrere Gewalttaten begangen hat, der während der Haft psychisch auffällig war und sich unter anderem mit dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, verglichen haben soll, ohne Vorbereitung in die Obdachlosigkeit entlassen? Warum wussten die Kieler Behörden, bei denen Ibrahim A. gemeldet war, nichts von seiner Haft in Hamburg?

Die Kritik traf vor allem die Hamburger Behörden, die rasch reagierten: Mitte Februar stellten Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) und Innensenator Andy Grote (SPD) ein Konzept vor, um künftig Personen, die psychisch auffällig, aggressiv oder drogenabhängig sind, in der Untersuchungshaft besser zu betreuen. „Übergangscoaches“ sollen die Haftentlassenen begleiten, dazu werden die entsprechenden Landesgesetze geändert.

Die schwarz-grüne Regierung in Schleswig-Holstein will einerseits die Abschiebung gewalttätiger Aus­län­de­r*in­nen erleichtern, andererseits mehr für die Prävention tun. Auch die Justizministerkonferenz beriet Verbesserungen. So soll es auf Vorschlag von Hamburg und Schleswig-Holstein ein bundesweit einheitliches Verfahren für den Umgang mit straffälligen Aus­län­de­r*in­nen geben. Alle Straf- und Bußgeldsachen sollen künftig an eine zentrale Adresse geschickt und von dort an die zuständigen Behörden weitergeleitet werden. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) will zudem ein Messerverbot in Zügen durchsetzen.

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1 Kommentar

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  • "Faeser will ein Messerverbot in Zügen"



    Absolut sinnvoll. Und durchdacht. Bravo.



    Ich mein es ist ja nicht so, dass Auf-Leute-Einstechen nicht schon verboten wär. Ach, doch? Na sowas.



    Sieht man ja, wie gut Verbote wirken.

    * wer Sarkasmus findet, darf ihn behalten