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Unruhen in FrankreichKugel ins Herz

Essay von Selim Nassib

Ein Todesschuss und seine Folgen: Jedes Lager in Frankreich pflegt seine eigene Erzählung zu den Ereignissen der vergangenen Tage. Ein Essay.

Bilder der Gewalt: Ausgebrannte Autos im Pariser Vorort Nanterre am 30. Juni Foto: Abaca/imago

U ns Friedenshüter, uns Motorradpolizisten, er nervte uns, dieser kleine Idiot. Sein Lächeln, seine Augen, war doch klar. Nicht mal alt genug für den Führerschein, und dann dieses Auto, ein Mercedes, sicher gestohlen. Papiere bitte – und er gibt Gas mit quietschenden Reifen, wofür hält er sich, wir haben Motorräder, wir sind dafür ausgebildet; eine Drehung oder zwei, und wir haben ihn.

Er schämt sich nicht mal, der Kleine, er bereut es nicht mal, er lacht über uns, beleidigt uns, kein Respekt. Es gibt Schimpfworte, es gibt Grenzen, die Wut packt uns. Wir holen die Knarre raus, damit er Angst kriegt, damit er seinen spöttischen Blick abstellt, damit er sein Grinsen verschluckt, damit er versteht, damit er aufhört. Angst? Ach was! Er setzt eins obendrauf, fordert uns heraus, Hass in den Augen, Beleidigungen auf den Lippen.

Selim Nassib

wurde 1946 in Beirut geboren und lebt seit 1969 in Paris. Er war als Journalist für zahlreiche Zeitungen tätig, unter anderem als Nahost­korrespondent für die französische Zeitung „Libération“. Er arbeitet als freier Schriftsteller und Drehbuchautor.

„Du kriegst ’ne Kugel in den Kopf“, sagen wir ihm. Ist ihm egal. Erneut brettert er los, der Motor heult. Gut, stimmt, wir haben Mist gebaut, auch wir sind überspannt. Wir wollten das nicht, ich schwöre, wir wollten das nicht, das löste sich einfach, ein Unfall, wir hatten ihn gewarnt.

Und nun? Scheiße. Sagen wir doch, dass er auf uns losgefahren ist, ein Krimineller, ein Verrückter, eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Behaupten wir doch, dass er polizeibekannt war, ein Strafregister so lang wie unser Arm. Macht nichts, unsere Vorgesetzten haben uns gedeckt wie immer, Notwehr also und eine Klage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Aber es gibt ein Problem. Das Handy. Heutzutage hat immer jemand eins. Das ist das Problem. Das Video von einigen Sekunden, das zeigt, wie der Junge starb, ist viral gegangen, alles fliegt in die Luft.

* * *

Naël, das hätte ich sein können oder du oder jeder von uns. Wir sind alle 17. Wir wissen, wie die mit uns reden, schon immer, wie die uns erniedrigen, wie die uns zehnmal am Tag kontrollieren, Leibesvisitation, sogar direkt vor unserer Hochhaustür. Wir sind damit aufgewachsen. Als wären wir zu viel, als hätten wir kein Recht, da zu sein. Wir sind hier zu Hause, aber wir sind hier nicht zu Hause. Nirgends.

Die Straße gehört denen. Die mögen nichts von uns, unsere Religion nicht, unsere Fresse nicht, unsere Hautfarbe nicht. Die jagen uns für das, was wir sind, nicht dafür, was wir tun. Deswegen laufen wir weg, sobald wir sie sehen. Naël, der hat ihnen standgehalten, das mochten sie nicht – aber ihm dann gleich eine Kugel ins Herz jagen … Genau das aber haben sie getan.

Und unser Blut begann zu kochen, die Wut, etwas Wildes stieg in uns auf. Wir sind Kinder, und wir rasteten aus. Wir wollten alles kaputtmachen, also los. Banken, Versicherungen, Präfekturen, Polizeiwachen, alle Autoritätsgebäude. Aber auch Rathäuser, Mediatheken, Kulturhäuser, die Autos der Nachbarn, die Lebensmitteltafeln … Wir haben unser eigenes Viertel zerstört, unser eigenes Fleisch gegessen, unsere eigenen Hilfsangebote verwüstet.

„Diese Gewalt wird nach hinten losgehen“, sagen sie, und sie haben recht. „Chaoten prügeln und plündern und nutzen die Gewalt aus“, sagen sie, und sie haben recht. „Es gibt auch friedliche junge Bürger, die verständlicherweise in Aufruhr sind“, sagen sie, aber ganz so ist es nicht. Auf der einen Seite stehen wir, auf der anderen ist die Abgrenzung schwieriger, als sie denken.

Wir sehen sie, die Plünderer, die die Apple-Stores ausräumen. Aber auch wir haben Feuer gelegt, Polizisten vermöbelt, Steine geschmissen, uns hatte ein unstillbarer Rachedurst im Griff, Schnauze voll; nichts, wirklich nichts konnte uns aufhalten. Und wenn wir gestohlen haben, war es Essen, Säcke mit Reis; wir wissen, was Elend ist. Wir sind die, denen zu viel angetan wurde.

Klar, es war auch Party dabei in unserem Aufstand, Zerstörungslust, endlich leben wir, endlich werden wir gehört. Und es funk­tio­niert: In Eile haben sie den Bullen wegen Totschlags angeklagt und hinter Gitter gesteckt, sein Handeln verurteilt, Macron persönlich nannte es „unerklärlich“, „unentschuldbar“. Einfach, um uns zu beruhigen. Sie mussten Busse und Straßenbahnen abstellen, Konzerte und Feste absagen. Sie denken an die Olympischen Spiele nächstes Jahr und scheißen sich die Hosen voll.

Um uns zu besänftigen, sagen sie, dass sie in 20 Jahren über 400 Millionen Euro investiert haben, um unser Umfeld zu verbessern, die verdreckten Hochhäuser abzureißen und menschliche Häuser zu bauen. Stimmt, haben sie, aber zu spät.

Wir haben zu lange gewartet. Wir werden nicht deswegen glauben, dass die Polizei zu unserem Schutz da ist, dass wir einen vollwertigen Platz in der Gesellschaft haben. ­Kylian Mbappé, die Filmstars und die Kulturwelt, die Theaterdirektoren, die Imame, die Linken, alle Gutwilligen dieses Landes rufen uns auf, uns zu beruhigen. Das wissen wir doch, dass wir das müssen. Aber es fällt uns schwer. Wir sind wütend. Endgültig.

* * *

Wir sind die extreme Rechte. Die denken, sie können den Leuten Angst machen, indem sie auf uns mit dem Finger zeigen, die können viel reden, wir stehen an der Schwelle zur Macht – und die Bilder von Bränden und Unruhen helfen uns bloß.

Zwei kleine Polizeiverbände trauen sich und sprechen von „wilden Horden“ und „Schädlingen“, die die öffentliche Ordnung herausfordern. Sie erklären sich „empört“ über die Festnahme und Anklage ihres Kollegen. „Morgen“, fügen sie an, „treten wir in den Widerstand, und die Regierung wird sich dessen bewusst werden müssen.“ Da gerät das „demokratische Lager“ in Aufwallung, und die Linke spricht von Staatsgefährdung.

Sie werden von allen Seiten kritisiert und müssen ihre Erklärung zurückziehen. Aber ihr Ziel haben sie erreicht: Sie haben es geschafft, die Empörung an der Polizeibasis auszudrücken.

Das ist gut für uns. Für die Familie des verhafteten Polizisten wurden 400.000 Euro gesammelt, für Naëls Mutter 50.000. Da sieht man’s doch. Wir haben immer gesagt: Gegen einen Aufstand hilft nur, ihn niederzuschlagen. Bei den nächsten Wahlen werden wir den Nutzen aus den Ereignissen ziehen.

* * *

Ich, Naëls Mutter, ich hatte keine zehn Kinder, ich hatte nur eins. Der Polizist, er hat ein Arabergesicht gesehen und geschossen. Aber ich habe nichts gegen die Polizei. Ich habe nur gegen einen etwas, gegen den, der meinen Sohn getötet hat.

Aus dem Französischen von ­Dominic Johnson

Der französische Originaltext erscheint unter taz.de/une-balle

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14 Kommentare

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  • Ein guter Artikel.



    Eine Anmerkung. Für junge Männer und männliche Jugendliche, deren Eltern aus konservativen, oft ländlichen Gegenden kommen, ist die Integation in 'westliche' Gesellschaften sehr schwer. Da Ehen oft nicht Liebesheiraten sind, sondern aus 'familienpolitischen' Gründen geschlossen werden, ist für viele Mütter der eigene Sohn der einzige Mann, den sie in ihrem Leben wirklich geliebt haben. Zu viel Liebe ist oft nicht gut. In der Familie werden sie in die Rolle des zukünftigen Oberhauptes gezwängt. Dann kommen sie in die Schule und sie sitzen neben Mädchen, die oft bessere Noten haben. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Ein Rettungsanker bietet dann die Religion. ( - daher sollte man den Islman nicht als eine Gefahr ansehen). Ein anderer Weg ist die Verweigerung, Machogehabe, (scheinbar) teure Autos, das scheinbar schnelle Geld mit Drogen. Und vor allem: die Anderen sind schuld. Die Polizei, die Politik, die Rassisten, die Schule. Mädchen haben es da oft leichter, sie müssen nicht die großen Sieger sein. Bildung ist für sie ein Weg in die Gesellschaft.



    - Ich habe vor kurzem ein spannendes Buch zu diesem Thema gelesen : 'Dschinns' von F. Aydemir. Ich kann das jedem empfehlen.

  • Nassib sollte ein dokumentarisches Theaterstück schreiben, dass auch auf deutsche Bühnen gehört! Zum Beispiel für das Deusche Theater in Berlin, das in dieser Hinsicht arbeitet.

  • Das ist ein Aufstand nihilistischer Verzweiflung und wir wissen schon heute, dass er sich morgen erschöpfen wird und ausser verfestigter Vorurteile und Animositäten nichts bringen wird. Das war schon 2005 so und da waren die meisten Randalierer von heute noch gar nicht geboren...

  • Aha.

    Und weil ich wütend bin, zerstöre ich Eigentum der Allgemeinheit und plündere Geschäfts aus..i.Ü. auch Geschäfte von Mitbürgern mit migrantischen Wurzeln?



    Ich glaube, es hackt!

    • @Wilmersdorfer:

      Dem kann ich nur zustimmen.

    • @Wilmersdorfer:

      Genau.

  • Solche Worte, solche Texte sollten viel häufiger geschrieben, gelesen und vervielfältigt werden. Ich kann mich in jeder der drei Positionen wiederfinden und mein Zorn, mein Ärger über die Tat und deren Folgen flauen ab.

    Danke dafür.

  • Die Vorgeschichte ist traurig, aber die Konfrontation mit den Fakten der Vergangenheit ist in der Analyse und zur Prävention unausweichlich. Alles wirkt wie ein Déjà-vu.



    //



    Als 2005 die französischen Vorstädte brannten, war es ein Leichtes, die Jugendlichen zu kriminalisieren. Robert Castel hingegen zeigt: Die Banlieue-Jugendlichen sind Bürger zweiter Klasse und von Prekarität und Ausgliederung bedroht"



    //



    taz.de/Hoer-die-St...-Marianne/!704794/



    //



    Wie sich die Einstellungen der Politik zur Problematik vielleicht geändert haben, werden Soziolog*innen im Monitoring wohl verfolgt haben, aber ob sich daraus relevante Verbesserungen für die Betroffenen ableiten ließen, wird wohl noch genauer betrachtet werden müssen. Immerhin ist es ja kein lokales oder regionales Thema, sondern ein grundsätzlicher Konflikt.

  • Das trifft es glaube ich ganz gut. Man könnte sicher auch einige mehr solcher Selbstaussagen schreiben, weil viele Gruppen irgendwie durch die Ereignisse betroffen, getroffen, geängstigt sind.

    Ob, wann und wie das mal wieder zu soetwas wie einer Gesellschaft zusammenfinden wird, kann man wohl nicht sagen. Vielleicht sind Phasen, in denen die Gemeinsamkeiten in Gesellschaften überwiegen, ohnehin nicht die Regel?

  • Danke, Selim Nassib.

  • Das Verhalten des Polizisten ist eindeutig als kriminell zu bewerten, das Video beweist es. Die Wut vieler vorwiegend Jugendlichen ist emotional verständlich, doch die maßlose Gewalt und Zerstörung nicht akzeptabel und auch kriminell.



    In Frankreich kann man seit vielen Jahren beobachten, wohin Einwanderung ohne echte Integration führt. Diese Wellen von Gewalt kommen immer und immer wieder.

    Aber das Schlimmste dürfte sein, daß diese Krawalle le Pen voll in Karten spielt, sie werden wohl dieses mal die Wahl gewinnen.

    • @Rudi Hamm:

      Ungerechtigkeit - global, national und regional - ist Ursprung des Problems nichts anders.



      Die Rassistin Le Pen wird sicherlich nicht gewinnen. Die Franzos: innen werden sie schon vorher enttarnen und Aufdecken, dass soziale Ungerechtigkeit, Gewalt und Kaos zum Geschäftsmodell der Rechten gehört und dass diese Politik nur ein minikleines Klientel von sehr sehr reichen und privilegierten Menschen dient, sonst niemand.



      Das wird sicher aus guten Gründen abgewählt und dann kann es ein stabileres Frankreich geben.

      • @Nilsson Samuelsson:

        Schön wäre es, wenn du recht behältst. Ich liebe Frankreich und die Art der Menschen dort, nicht so materialistisch denkend wie wir.

  • Pathos in Reinform. Mir wird speiübel davon.



    Das passt aber in die heutige Zeit. Ist so beschämend und entlarvend.



    Und nein, wir sind nicht alle 17 in der Art und Weise!