Volksaufstand vor 70 Jahren: „Die Mehrheit war gegen die DDR“

Historiker Stefan Wolle über die Bedeutung des 17. Juni 1953 für Ost und West, bewaffnete LPG-Vorsitzende und die aktuelle DDR-Verklärung.

Menschen auf einem Feld bei der Ernte

Bäue­r*in­nen der LPG Pasewalk in Vorpommern 1954 bei der Getreideernte Foto: Marco Bertram/imago

wochentaz: Herr Wolle, in der kollektiven Erinnerung an den Aufstand vom 17. Juni 1953 sind vor allem die Bilder in der Ostberliner Stalinallee präsent: die Panzer, die gegen die Demonstrierenden vorrücken, und die Menschen, die die Panzer mit Steinen bewerfen. Aufstände gab es damals aber überall in der DDR.

Stefan Wolle: Berlin ist als Zentrum der Aufstände bekannt, sicher weil es der einzige Ort ist, von dem Filmaufnahmen des Tages existieren. Aber Demos gab es in rund 700 Orten, in Merseburg, Jena, Görlitz, Dresden. In Halle gab es die größte Demo mit mehr als 100.000 Teilnehmenden. Studierende der Veterinärmedizin hatten damals den Stadtfunk gekapert, ein unglaublicher Coup, so konnten sich die Ereignisse rasant verbreiten. Und mit den Menschen, die aus Leuna und Buna in den Westen geflohen waren und von den Aufständen dort berichteten, änderte sich die Perspektive.

72, war Referent bei der Bundesstiftung zur Auf­arbeitung der SED-Diktatur. Seit 2005 Wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin.

Was kaum jemand weiß, dass sich die Menschen auf dem Land schon viel früher als in den Städten erhoben.

Das hatte mit der Kollektivierung auf dem Land zu tun …

die zum Teil noch privaten Landwirtschaftsbetriebe sollten sich nach sowjetischem Vorbild freiwillig zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, den LPG, zusammenschließen.

Das wollten die meisten Bauern nicht, also wurden sie dazu gezwungen. Gleichzeitig wurde das Ablieferungssoll, also das, was die Bauern an Milch, Fleisch, Obst und Gemüse an den Staat zu liefern hatten, so hoch geschraubt, dass das niemand erfüllen konnte. Diese Aktionen waren ganz klar ein Feldzug gegen den Mittelstand.

Die Repressalien gegen die Bauern waren härter und kompromissloser als gegen die Arbeiter?

Die Arbeiterklasse war ja schon laut Selbstverständnis die herrschende Klasse, allein deshalb konnte man die nicht so hart angehen. Viele widerständige Bauern wurden wegen angeblicher Steuerhinterziehung verhaftet, es gab Schauprozesse, die abschrecken sollten – und dies auch taten.

Am 11. Juni 1953 konnten die Bauern im SED-Parteiorgan Neues Deutschland dann aber lesen, dass die Bauern zu Unrecht bestraft worden waren. Was passierte danach?

Ehefrauen, Kinder und Geschwister liefen zu den Gefängnissen und forderten die Freilassung ihrer Angehörigen. Die lokalen Behörden waren überfordert, die hatten nämlich noch keine Anweisungen aus Berlin. Es stand die Frage im Raum: Wenn das hier eskaliert, sollen wir dann auf die Leute schießen?

Stimmt es, dass neben den bewaffneten Organen auch jeder LPG-Vorsitzende und nahezu jeder Kreisparteichef eine Waffe besaß?

Ja. Sie sollten sich im Zweifelsfall verteidigen können und mussten regelmäßig militärische Übungen abhalten. Die meisten besaßen die Waffen bis zum Ende der DDR.

Echt?

Die Waffe des Sektionsleiters Geschichte an der Humboldt-Uni in Berlin lag bis 1989 dort im Panzerschrank. Er und andere, die auch Waffen besaßen, fanden das ziemlich lächerlich.

Viele Bauern flohen nach dem 17. Juni in den Westen. Die DDR versuchte, sie zurückzuholen. Kam jemand zurück?

Darüber gibt es keine Zahlen. Ich gehe davon aus, dass im Westen blieb, wer erst einmal dort war. Den Ausgereisten haftete zudem der Makel der „Republikflucht“ an, und die war eine Straftat. Die Folgen hatten damals vor allem Angehörige zu tragen, manche konnten kein Abitur machen, andere nicht studieren. Und sie sagten: Wir werden dafür bestraft, dass wir hier geblieben sind. Die Mehrheit der Bevölkerung war gegen die DDR und den SED-Staat. Es war aber auch klar, dass das System nicht zu stürzen ist, solange die Sowjetunion existiert.

Schon ein Jahr nach der gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR wurde der 17. Juni im Westen zum ersten Einheitsfeiertag. Dabei war eine Wiedervereinigung damals weit weg.

Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer und die CDU wollten die Einheit gar nicht. Und – wenn überhaupt – nur zu ihren Bedingungen: die Unterordnung der DDR unter die BRD. Auch die DDR hätte einer Einheit ausschließlich zu ihren Bedingungen zugestimmt, und das wäre ein neutrales Deutschland unter der Vorherrschaft der Sowjetunion über Europa gewesen. Denn damals war klar: Die DDR gibt es nur durch und mit der Sowjetunion.

Für Roland Jahn, Dissident und der letzte Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, ist der 17. Juni wichtiger als der 3. Oktober, der heutige Einheitstag. Nachvollziehbar?

Das wäre schwierig zu vermitteln. Die Ereignisse um den 17. Juni herum betreffen ja nur einen Teil der deutschen Bevölkerung, den im Osten. Im Westen spielten der Tag und seine Ereignisse in den 70er und 80er Jahren keine Rolle mehr, in der DDR wurde er sowieso unter den Teppich gekehrt.

War nicht jeder Aufstand in der DDR im Westen willkommen?

1953 hat sich der Westen bewusst aus dem Konflikt im Osten herausgehalten. Die westlichen Schutzmächte insbesondere aus Angst, die Aufstände könnten auf ihre Sektoren in Berlin übergreifen. Man hat nur den einsetzenden Flüchtlingsstrom ins Land gelassen, die gut ausgebildeten Arbeitskräfte aus der DDR konnte die Bundesrepublik gut gebrauchen.

Gerade ist wieder eine Ost-West-Debatte aufgeflammt, Bücher wie die des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, der Autorinnen Katja Hoyer und Anne Rabe werden kontrovers diskutiert, scheinen aber einen Nerv getroffen zu haben. Was ist los?

Die Bücher sind unabhängig voneinander entstanden, werden aber meist in einem Atemzug genannt. Zum Teil findet eine Verklärung der DDR statt, die sämtliche wissenschaftlichen Forschungsergebnisse negiert. Dirk Oschmann würdigt das, was Ost und West nach dem Mauerfall gemeinsam erreicht haben, herab und stellt Dinge, die tatsächlich zu kritisieren sind, drastisch heraus. Damit missachtet er die Leistung von Ost- und Westdeutschen, die eine Wiedervereinigung und gesellschaftliche Transformation weitgehend erfolgreich geschafft haben.

Und doch finden viele Ostdeutsche: Endlich sagt’s mal jemand.

Mit seiner eigenen Biografie – vom DDR-Arbeiterkind zum Literaturprofessor im vereinigten Land – widerlegt er seine eigene These, dass Ostdeutsche nach wie vor diskriminiert sind. Er polarisiert und holt sich Zuspruch vor allem von Leuten, die sich benachteiligt fühlen.

Sie sprechen die AfD an?

Aktuell würden 18 Prozent der Menschen die AfD wählen, besonders stark ist die AfD mit 30 Prozent im Osten. Diesen Leuten spielt Oschmann mit seiner Polemik in die Hände, er stützt die AfD-Welle mit einer Synthese aus SED-Verklärung und Miesmachen der Wiedervereinigung. Das ist gefährlich.

Ostdeutsche sind doch aber in Führungspositionen von obersten Bundesbehörden und in der Justiz mit 13 Prozent nachweislich unterrepräsentiert. Auf den Leitungsebenen darunter halbiert sich der Anteil sogar.

1989 war es richtig, dass das Stasi-Gesindel aussortiert wurde, sowohl in den Schulen und an den Unis als auch in den Medien und in der Politik. Ich sagte damals: Lieber Leute aus dem Westen als die alte Bande. Dass sich der Ost- und Westanteil bis heute nicht angeglichen hat, ist der Preis des geschichtlichen Umbruchs.

Gibt es derzeit eine neue Ostalgiewelle?

Ich würde es als Doppelostalgie bezeichnen: Es wird gerade vieles schlechtgemacht, was erreicht worden ist seit der Wende, dabei aber vergessen, dass die ostdeutsche Mehrheit 1989 eine schnelle Wiedervereinigung wollte. Auch wenn manche anders argumentieren: Nahezu allen Ostdeutschen geht es heute besser als in der DDR. Selbst ein Hartz-IV-Empfänger hat heute mehr Komfort als in seiner maroden DDR-Wohnung mit Außenklo.

Für Kri­ti­ke­r:in­nen zählt aber eher Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die ihnen nach dem Mauerfall abhandengekommen scheint.

Wenn Sie den Werteverlust, den frühere SED-Kader beklagen, meinen, kann ich nur sagen: Richtig so. Spricht man mit Kritikern jenseits der ­einstigen Nomenklatura über ihr eigenes Leben, dann sagen die meisten: Nein, nein, mir persönlich geht es gut. Was also ist das Problem? Wenn Dirk Oschmann in seinem Buch beklagt, dass im Osten weniger vererbt wird, hat er zwar recht, aber dafür kann doch der heutige wiedervereinigte Staat nichts. Dafür muss er die DDR verantwortlich machen, weil die den Mittelstand und die Grundeigentümer enteignet hat. Die Frage des Erbens wird sich aber auch im Osten für die nächsten Generationen ändern.

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