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Unwort „Asylreform“Die Deutung der anderen

Kommentar von Gunnar Hinck

Die Verschärfung des Asylrechts in der EU wird als "Reform" verkauft. Klingt gut, oder? Medien übernehmen den Spin der Politik kritiklos.

Hier noch ohne „Reform“: der Weg zum Asyl (Archivbild) Foto: Uli Deck / dpa

R eform ist ein schönes Wort. Es bedeutet Erneuerung, wörtlich eigentlich Wiederherstellung. 1957 war so ein Jahr, als das Wort seine semantische und auch klangliche Schönheit unter Beweis stellen konnte: Die damalige Rentenreform beendete oder linderte zumindest die extreme Armut unter Millionen Rentnern in der Bundesrepublik, weil sie die Rentenhöhe an die Lohnentwicklung koppelte, was vorher nicht der Fall war. So gewann Konrad Adenauer die nächste Bundestagswahl, aber das ist eine andere Geschichte. Reform – eine tolle Sache.

Seit einiger Zeit aber kleben Politiker, politische Spindoktoren und leider auch Medien das hübsche, Fortschritt suggerierende Wort gedankenlos an politische Entscheidungen, die für diejenigen, die es betrifft, eher eine schlechte Nachricht sind. Hartz IV war staatlich-offiziell gesehen eine „Sozialreform“, die aber bedauerlicherweise bedeutete, dass Arbeitslose nur 345 Euro bekamen und unter Sanktionsandrohung in meist sinnlose Maßnahmen gesteckt wurden.

Jetzt haben wir eine „Asylreform“ – Tagesschau, Spiegel, Zeit und auch hier und da die taz benutzen das Wort und übernehmen damit die Deutung – neudeutsch: „Framing“ – der politischen Entscheider. „Asylreform“ klingt nach Verbesserung, Entschlusskraft und Fortschritt.

Das mag der Fall sein für die Orbáns und Melonis der EU und hiesige Politiker, die Angst vor dem Höhenflug der AfD haben. Für sehr viele Asylsuchende bedeutet der Brüsseler Beschluss (schon klar, er muss noch durch das EU-Parlament) aber keinen Fortschritt – ihre Chance, ein faires Asylverfahren zu bekommen, dürfte damit künftig rapide sinken. Auch für Familien mit Kindern wird er einen Zwangsaufenthalt in abgeschotteten „Zentren“ bedeuten und eine mögliche Abschiebung in als sicher deklarierte Staaten wie die in Nordafrika.

Medien sollten sorgfältig mit Sprache umgehen, denn wer soll es sonst tun. Begriffe prägen die Sicht, mit der die Öffentlichkeit auf politische Entscheidungen blickt – es ist nicht der Job der Medien, die Spins der Politik kritiklos zu übernehmen.

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ist Redakteur im taz-Ressort Meinung.
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9 Kommentare

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  • FRAN ZOSE

    In der Zwischenzeit ist die Vermögessteuer abgeschafft worden (warum eigentlich?), ist die Einkommens- und Vermögensungleichheit extrem angestiegen.

    Nicht, dass das miteinander etwas zu tun hätte, neeeeein.

  • Das war 2015 in der Flüchtlingskriese auch.



    "Die Studie zeigt auf, dass große Teile der Journalisten ihre Berufsrolle verkannt und die aufklärerische Funktion ihrer Medien vernachlässigt haben. Statt als neutrale Beobachter die Politik und deren Vollzugsorgane kritisch zu begleiten und nachzufragen, übernahm der Informationsjournalismus die Sicht, auch die Losungen der politischen Elite. Die Befunde belegen die große Entfremdung, die zwischen dem etablierten Journalismus und Teilen der Bevölkerung entstanden ist."

  • Ich bin mir nicht sicher, ob die Beispiele des Autors gut gewählt sind: die gelobte umlagenfinanzierte Rente; zusätzlich gekoppelt an die Lohnentwicklung erweist angesichts des demographischen Wandels eher als ein Problem; auch wenn es Adenauer die Wiederwahl gerettet hat.

    Die gescholtenen Hartzreformen waren, trotz Fehlern ins Teilbereichen, notwendig und letztlich erfolgreich; auch wenn es Schröder die Wiederwahl gekostet hat.

    Ressourcen sind nun mal nicht unendlich.

    • @Fran Zose:

      Adenauer, das ist ewig her. Wenn die Reform heute mehr oder weniger noch immer so funktioniert, war das eine langfristig erfolgreiche Reform. Chapeau! Das da nun aufgrund des demographischen Wandels etwas modifiziert werden muss, ist klar, hat aber sehr lange funktioniert!

      Die Hartzreformen haben die Vermögenden und oberen Einkommensschichten entlastet und die mittleren und unteren Einkommensschichten belastet. Das war alles andere als solidarisch. Und dass dies erfolgreiche Reformen waren, bezweifeln sehr viele seriösen Ökonomen, insbesondere wenn die sozialen Verwerfungen betrachtet werden und die Zunahme der Kinderarmut.

      Die endlichen Ressourcen müssen angemessen verteilt werden. Nur mit einer optimalen Allokation der Ressourcen lassen sich die sozialökologischen Herausforderungen bewältigen. Indem die Vermögenden und oberen Einkommensschichten entlastet werden und die mittleren und unteren belastet werden, wird dies nicht gelingen. Der unsolidarische Weg ist ein Irrweg!

  • Danke dafür, dass Ihr Euch dem üblichen Framing entgegensetzt.

    In einem möchte ich nachhaken: "... hiesige Politiker, die Angst vor dem Höhenflug der AfD haben."

    Wenn Sie damit CDU/CSU und FDP meinen (und auch Teile wo anders): ich denke, es ist ein komplexeres Verhältnis. Die AfD ist für die auch die Wildsau, die den Pfad dorthin freischlägt, wo sie hinwollen. Die "Partei fürs Grobe". Das Haustierchen.

    Die wollen das so.

    Ab und zu gerät sie halt ausser Kontrolle, doof das.

    • 3G
      31841 (Profil gelöscht)
      @tomás zerolo:

      Ja, das schimmert immer wieder durch.

  • Danke. Genau das, was sie hier schreiben, ging mir auch durch den Kopf, als ich "Asylreform" im Radio gehört habe.

    • @Nansen:

      *anschließe mich*

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    RE-Form bedeutet alles so wie früher ...



    Tagesschau 09.06.2022, 20:00 Uhr, 02.07 Min.:



    "...Diplomaten machen hinter den Kulissen auch gar keinen Hehl daraus, die Asylreform soll potenzielle Flüchtlinge abschrecken, mit dem Ziel, es sollen weniger Menschen nach Europa kommen."