Lettischer Pastor über Krieg: „Das ist Russophobie“

Die lettische anglikanische Kirche sei liberal, sagt Pastor Valdis Tēraudkalns. Er ist gegen ein Schwarz-Weiß-Denken im Krieg.

Eine Menschenmasse bewegt sich. Darunter ist eine Frau, die ein Plakat auf dem Edgars Rinkevics in Regenbogenfarben zu sehen ist, hält

Die Wahl Edgars Rinkevics zum lettischen Präsidenten euphorisiert die LGTBQ-Gemeinde im Land Foto: Ints Kalnins/reuters

taz: Herr Tēraudkalns, mit Edgars Rinkēvičs wurde in Lettland ein Mann zum Präsidenten gewählt, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt. Ist das eine kleine Revolution?

Valdis Tēraudkalns: Der Präsident ist vor allem eine symbolische Figur. Deshalb sollte man nicht zu viel erwarten. Dennoch ist diese Wahl ein gutes, positives Zeichen. Sie zeigt eine gewisse Offenheit und das in einem Land, wo sich der Staat und die Gesellschaft lange Zeit Debatten über eine eingetragene Partnerschaft oder eine gleichgeschlechtlichen Ehe widersetzt haben. Rinkēvičs hat bereits angekündigt, Menschenrechte zu einer seiner Prioritäten zu machen. Doch die Entscheidung hängt nicht von ihm allein ab. Die Nachricht hat übrigens auch Widerhall in vielen internationalen Medien gefunden. Einige haben jedoch Lettland mit Estland verwechselt, wo es die eingetragene Partnerschaft bereits gibt.

58, ist Pastor der Anglikanischen Kirche in Lettland und Professor an der theologischen Fakultät der Universität Riga.

Bei den großen Kirchen in Lettland dürfte sich die Freude über die Wahl von Edgars Rinkēvičs wohl eher in Grenzen halten.

Die großen Kirchen stehen für konservative Werte. Diese Hinwendung zum Konservatismus ist eine allgemeine Tendenz. Anfang der 90er Jahre gab es in Lettland eine kurze Periode der Öffnung mit vielen neuen Ideen. Das ist vorbei. Viele Menschen suchen eher nach Stabilität, Autoritäten, aber auch nach Antworten auf ihre Fragen. Das alles finden sie in konservativen Bewegungen und eben auch in den Kirchen, zum Beispiel der orthodoxen Kirche, aber auch bei den Protestanten. Ab den 70er Jahren, das heißt noch zu Sowjetzeiten, wurden in der evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands Frauen ordiniert. Das ist mittlerweile nicht mehr der Fall. Was LGBTQ-Belange oder die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen betrifft – das sind rote Linien.

Demgegenüber war die Anglikanische Kirche Lettlands 2016 Mitunterzeichnerin eines offenen Briefes, in dem klar Position für die Istanbul-Konvention bezogen wird.

Unsere Kirche ist liberal und inklusiv. Dort gibt es Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten und sexuellen Orientierungen. Diese liberale Ausrichtung war immer stark. Sie spricht Menschen an, die nach einer Form des Christentums suchen, die nicht dogmatisch ist. Das Prinzip lautet: Du sollst selbst auf die Suche gehen. Natürlich kann die Kirche dabei Hilfestellung leisten. Aber auf die wichtigen Fragen des Lebens kann es nicht nur eine Antwort geben. Dass die Kirche Druck ausübt und den Menschen ihre Wahrheit aufzwingt, das braucht niemand.

Konfessionen 36,2 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner*innen in Lettland sind lutherisch, 19,5 Prozent römisch-katholisch. 19,1 Prozent hängen einem orthodoxen Glauben an. 1,6 Prozent sind Mitglieder in anderen christlichen Glaubensgemeinschaften.

Anglikanische Kirche Die erste Gemeinde wurde 1822 von britischen Geschäftsleuten gegründet, 1859 wurde eine eigens erbaute Kirche dem Heiligen Erlöser geweiht. Nach Lettlands Unabhängigkeit 1991 wurde erneut eine englischsprachige Gemeinde gegründet.

Zu den Gottesdiensten in ­englischer und lettischer Sprache kommen regelmäßig 20 bis 30 ­Menschen. (taz)

Wie ist das Verhältnis zwischen der Anglikanischen Kirche und den anderen Kirchen?

Es gibt Beziehungen, zum Beispiel die Nacht der offenen Kirchen. Da nehmen auch wir teil. Anfangs gab es Probleme, weil einige Kirchen dagegen waren. Diese Aura des Liberalismus gefiel ihnen nicht. Jetzt hat sich das etwas entspannt. Doch da vor allem Fragen wie Homosexualität oder die Rolle von Frauen nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, werden wir nicht überall sehnsüchtig erwartet. Und überhaupt: Außer der Nacht der Kirchen gibt es keine ökumenischen Veranstaltungen.

Die orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchiat wird in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Instrument des Kremls gesehen, um auch politisch Einfluss zu nehmen. Wie sieht das in Lettland aus – vor allem vor dem Hintergrund von Moskaus Krieg in der Ukraine?

In Lettland ist die Situation etwas komplizierter. Hier hat die orthodoxe Kirche immer versucht, gute Beziehungen zur politischen Elite zu unterhalten. Jetzt will sie ein Szenario wie in Estland vermeiden, wo es zwei orthodoxe Kirchen gibt. Eine untersteht dem Moskauer Patriarchiat, die andere dem Patriarchen in Konstantinopel. In Lettland hatte die Kirche Moskauer Patriarchiat immer eine starke Lobby. Viele Jahre war es unmöglich, eine zweite orthodoxe Kirche zu registrieren. Doch dann hat das Verfassungsgericht den Weg dafür frei gemacht. Jetzt gibt es auch eine lettische orthodoxe autonome Kirche. Sie ist unabhängig, untersteht nicht Konstantinopel und hat einige hundert Gemeindemitglieder.

Wie positioniert sich die Kirche Moskauer Patriarchiat zu dem Ukraine-Krieg?

Anfangs war es aufschlussreich, sich die Webseite anzusehen. Da fanden sich so allgemeine Sätze wie „Wir beten für den Frieden.“ Interessanterweise gab es in dem russischen Text andere Formulierungen, als in der lettischen Version, ein gefundenes Fressen für kritische Journalist*innen. Schließlich wurden die Texte geändert und der Krieg verurteilt. Auf Initiative des damaligen Präsidenten Egils Levits hat das Parlament im vergangenen Jahr ein Gesetz über die Unabhängigkeit der Kirche angenommen und der Justizminister einen entsprechenden Brief an den Moskauer Patriarchen Kirill geschrieben. Auf ihrer Synode hat die Kirche Moskauer Patriarchiat einen Beschluss gefasst, der in die gleiche Richtung geht.

Den Anstoß für diese Entwicklung hat der Staat gegeben. Was halten Sie davon?

Nichts, denn das fühlt sich sehr sowjetisch an. Doch das Argument der Regierung war, dass die Kirche eine Bedrohung darstelle und vielleicht ein moskauhöriger Bischof aus Russland kommen werde. Laut Gesetz kann aber nur jemand Bischof werden, der lettischer Staatsbürger ist und eine bestimmte Zeit lang in Lettland gelebt hat. Im Großen und Ganzen hat sich nichts geändert. Die Kirche bemüht sich um Neutralität, öffentliche Diskussionen über dieses Thema finden nicht statt. Die Kirche schweigt, auch in den Medien ist das kein großes Thema.

Wie ist das Schweigen der Kirche zu erklären?

Das ist so etwas wie eine Art Selbsterhaltungstrieb. Es geht darum, Kontroversen und Konflikte innerhalb der Kirche zu vermeiden – auch wegen der Gläubigen, die sich daran gewöhnt haben, dass ihre Kirche Teil des Moskauer Patriarchiats ist. Die Orthodoxie in Lettland ist jedoch nicht nur ein russisches Phänomen. Es gibt auch lettische Gemeinden. Für diese Menschen wäre die Autokephalie kein Problem, weil sie auf keinen Fall mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem, was Kyrill dazu sagt und tut, in Verbindung gebracht werden wollen.

Von religiösen Fragen einmal abgesehen: Hat der Krieg an den Beziehungen zwischen Let­t*in­nen und Angehörigen der russischen Minderheit etwas verändert?

Das hängt von den einzelnen Personen ab. Meine engsten Freunde sind Russ*innen, deshalb spüre ich das im persönlichen Bereich nicht. Doch in der Gesellschaft nehme ich eine wachsende Aggressivität wahr. Das hat viel mit der Politik zu tun. Vor kurzen wurde in Riga eine Statue für Alexander Puschkin entfernt.

Keine gute Idee?

Ich stehe dem negativ gegenüber, das ist Russophobie. Was sollte Puschkin mit Russlands aktueller Aggression zu tun haben? Wenn er jetzt leben würde, würde er wohl auch unter diesem Regime leiden. Dieser Krieg lässt uns nur noch in den Kategorien schwarz und weiß denken. Das ist schade. Es entwickelt sich eine Art von Selbst­zensur, die Menschen haben Angst, sich zu äußern. Zu ­Sowjetzeiten wurde dasselbe gemacht – etwas wurde verboten oder verschwand in der Versenkung. Offensichtlich haben wir aus der Geschichte nichts gelernt.

Kommt der Kirche in Kriegszeiten eine besondere Bedeutung zu?

Unbedingt. Sie ist ein Ort, wo die Menschen offen über ihren Schmerz sprechen können und auch gehört werden.

Gibt es spezielle Aktivitäten seitens der Anglikanischen Kirche?

Wir haben öffentliche Debatten zwischen ukrainischen und russischen Geflüchteten organisiert. Wichtig sind uns Menschlichkeit, dass wir zuallererst den Menschen sehen, dass die Menschen ins Gespräch kommen. Nicht jemanden ausschließen, sondern versuchen, den bzw. die andere/n zu verstehen, den großen Schmerz. Dieses Projekt hat das Rigaer Stadtparlament finanziert. Zudem machen wir Ukrai­ne­r*in­nen konkrete Hilfsangebote. Einen Raum schaffen, wo sie hinkommen, Tee trinken und einfach reden können.

In vielen Ländern ist eine wachsende Kriegsmüdigkeit festzustellen, das könnte sich auch auf die ­Solidarität mit der Ukraine auswirken. Zeichnet sich das auch in Lettland ab?

Ja. Dennoch sind viele Menschen immer noch bereit, ukrainischen Geflüchteten zu helfen. Solidarität ist da und es wird sie auch weiter geben, vor allem unter denjenigen, die sich noch gut an die Sowjetzeit erinnern.

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