Antifeminismus aus der Kolonialzeit: Haft nach Fehlgeburt
El Salvador hat eines der striktesten Abtreibungsverbote weltweit. Doch die Wurzeln dieses Gesetzes liegen in Europa.
Doch das Gesetz hat seine Wurzeln nicht in El Salvador. Vielmehr ist es ein Beispiel dafür, wie stark die Kolonialisierung und die damit einhergehende Christianisierung reproduktive Rechte und Frauenbilder in Lateinamerika verändert haben.
Warum beschäftigen wir uns in einem Dossier mit Antifeminismus? Schon in vielen Liedern wird besungen: „Know your enemy“. Oft ist Antifeminismus subtil. Wie wir ihn entlarven können, wird klar, wenn wir uns mit ihm auseinandersetzen: Welche Formen nimmt er an? Wer sind die Akteur*innen? Und wie können wir ihm begegnen? Alle Dossiertexte gibt es im Online-Schwerpunkt zum feministischen Kampftag.
Tatsächlich war Schwangerschaftsabbruch dort eine jahrhundertealte Praxis. Untersuchungen belegen ihre Durchführung seit dem 6. Jahrhundert. In Mexiko etwa führten die Tlamatquiticitl, also die Medizinerinnen der Azteken, Schwangerschaftsabbrüche mithilfe von Tees oder Kräutern durch – wirksam, mitunter aber eine Gefahr für die Gesundheit. Abbrüche waren für die Tlamatquiticitl ein Weg, den normalen Menstruationszyklus wiederherzustellen. Im Fokus stand die Frage, ob die Schwangere gerade Mutter werden will – oder eben nicht. Die Historikerin Frieda Bequeaith schreibt, sie sei auch im Fall El Salvador „fest davon überzeugt, dass es diese Form des Widerstands in der Vergangenheit gab und dass sie bis heute anhält“.
Erst mit der Kolonialisierung Lateinamerikas durch Spanien im 15. Jahrhundert sowie dem Import spanischer Strafgesetze wurde der Schwangerschaftsabbruch in El Salvador illegalisiert. Die Missionare importierten das Christentum und mit ihm patriarchale Vorstellungen von Sexualität und Reproduktion. Indigene Gemeinden wurden unterworfen, ein Großteil ihres medizinischen Wissens wurde durch westliche Medizin ersetzt.
Koloniale Ideen blieben
Im Jahr 1821 wurde El Salvador unabhängig. Doch viele koloniale Gesetze und auch Ideen lebten weiter. Im Kalten Krieg hatten die USA ein Interesse daran, die mehrheitlich linksdemokratischen Regierungen in der Region zu sabotieren. Mit militärischen Interventionen und der Unterstützung von Militärputschs griffen sie in die Politik lateinamerikanischer Länder ein. In El Salvador führte das zu einem blutigen Bürgerkrieg.
70.000 Menschen starben. Tausende Indigene wurden ermordet – und mit ihnen ihr Wissen. Emanzipatorische Bestrebungen rückten immer weiter in den Hintergrund. Zwar gab es in den 1960er und 1970er Jahren durchaus feministische Bewegungen in Lateinamerika– in El Salvador lag der Fokus jedoch auf dem Widerstand gegen die Diktatur.
Erst in den 1990er Jahren rückte das Thema reproduktive Rechte stärker in den Blick der dortigen Frauenbewegung. Die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wurde als Forderung in die Friedensverhandlung nach dem 12-jährigen Bürgerkrieg eingebracht. Tatsächlich wurde in diesem Rahmen 1998 ein Gesetz zu Abtreibungen verabschiedet. Statt einer Liberalisierung brachte dieses aber eine weitere Verschärfung: Waren ein Schwangerschaftsabbruch zuvor beispielsweise legal, um das Leben der Schwangeren zu retten, wurde er nun allumfassend illegalisiert. Zu verdanken ist das dem starken Einfluss der (ebenfalls durch die Kolonisierung ins Land gekommenen) katholischen Kirche, die in den Verhandlungen als Vermittlerin aufgetreten war.
Staat schuldig gesprochen wegen Menschenrechtsverletzung
Konservative katholische Kräfte sind in Lateinamerika und El Salvador bis heute dominant. Evangelikale Fundamentalist*innen gewinnen an Einfluss. Der amtierende Präsident Nayyib Bukele etwa ist eng mit sogenannten Lebensschützern aus fundamentalistisch-evangelikalen Netzwerken verbandelt.
Erst im vergangenen Jahr sprach der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den Staat wegen der Verletzung von Menschenrechten schuldig. Es ging um den „Fall Manuela“: Die krebskranke Frau war nach einer Fehlgeburt zu 30 Jahren Haft verurteilt worden. Sie starb im Gefängnis.
Die Regierung erkannte dieses Urteil im Januar 2023 unter Druck an. Politische Willenskraft, etwas zu verändern, gibt es jedoch nicht. Schwangerschaftsabbruch bleibt verboten. Dabei zeigt der Blick auf die Geschichte des Landes: Nicht etwa die Kriminalisierung ist in El Salvador verwurzelt, sondern im Gegenteil: Es ist offenbar der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch, der Tradition hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!