Vermeintlicher Reichstagsbrandstifter: Sie sprechen von Leichenschändung
Das Grab des vermeintlichen Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe in Leipzig wurde geöffnet. Das stößt bei seiner Familie auf Unverständnis.
Der örtliche Denkmalverein hatte das bis dahin anonyme Grab auf einer Wiese des Leipziger Südfriedhofs gefunden. Im Anschluss wurde es zu Forschungszwecken auch geöffnet.
Der Vorsitzende der Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig, ein Verein des Friedhofs- und Denkmalwesens mit besonderem Augenmerk auf den Südfriedhof, Alfred E. Otto Paul, behauptete im Anschluss, von den Angehörigen des bekennenden Anarchisten grünes Licht dafür bekommen zu haben.
Da Wissenschaftler aus aller Welt seit Jahrzehnten an der alleinigen Schuld van der Lubbes am Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 zweifeln, wurde seine Leiche jetzt exhumiert. „Dafür haben wir die Erlaubnis von Verwandten wie Heleen Marijt“, erklärte Paul, der frühere Baudirektor der Leipziger Friedhöfe.
Toxikologen der Universität Leipzig untersuchen derzeit zusammen mit Oberarzt Carsten Babian vom Institut für Rechtsmedizin die exhumierte Leiche nach Spuren. Sie suchen nach sicheren Erkenntnissen, ob van der Lubbe zur damaligen Zeit vergiftet oder mit Drogen behandelt wurde. Bei seinem Prozess, der vom 21. September bis zum 23. Dezember 1933 vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig und Berlin stattfand, war er laut Zeugen schläfrig und geistesabwesend gewesen. Auch seine Familie kolportiert diese Sichtweise.
Prozessbeobachter sprachen über „Lustlosigkeit und Schlappheit“. Van der Lubbes Körper sei „gekrümmt, in einander gefallen, seine Gedanken schienen abwesend, sodass van der Lubbe, der ziemlich gut deutsch sprach, einen Übersetzer brauchte und schlecht sehen konnte“. Er war nicht in der Lage, gedruckte Buchstaben zu lesen. Er schien beinahe bewusstlos. Weil seine Nase andauernd lief, gab es die Vermutung einer Scopolamin-Vergiftung, einem dämpfenden Wahrheitsserum. Auch mögliche Folter wird nicht ausgeschlossen.
Gestohlene Leiche
„Wir sind nicht glücklich. Als Familie wollten wir genau wissen, wo das Grab ist, aber die Paul-Benndorf-Gesellschaft sollte sich nicht an seiner Leiche zu schaffen machen“, sagt die Sprecherin der Familie, die Cousine zweiten Grades Heleen Marijt (67) in Leiden, der ältesten Universitätsstadt des Königreichs an der Nordsee. „Sie sind mit seiner Leiche abgehauen. Eigentlich haben sie sie gestohlen.“
Die Tante von Marijt, die 77-jährige Elisabeth van der Lubbe, die in Spanien wohnt, war mit Jan, dem Bruder von Marinus van der Lubbe, verheiratet. Sie lässt sich von Marijt vertreten. „Wir sind einfach schockiert. Das ist Leichenschändung. Nur die Identifizierung war von uns beabsichtigt. Man hätte einfach ein Loch in die Holzkiste machen und nachschauen können“, so Marijt.
Aber Paul gab die Nachricht einer historischen Sensation flugs an Historikerinnen und Journalistinnen weiter. Er ließ das Grab öffnen und stellte fest, dass der Halswirbel der Leiche unter dem Schädel vom Fallbeil der Guillotine getroffen worden war. „Der Gerichtsmediziner konnte mir aufgrund der tödlichen Verletzungen genau sagen, dass es tatsächlich van der Lubbe war.“ Für den deutschen Spezialisten für Begräbniskultur ist es ein besonderes Gefühl: „So etwas passiert alle hundert Jahre einmal, das ist ein außergewöhnliches Ereignis für uns“, so der Vereinsvorsitzende, der mit seinen Mitstreiterinnen für Denkmäler und ihre Pflege an letzten Ruhestätten sorgt. „Diese Handlung hätte gereicht“, meint Marijt.
Urteil aufgehoben
Aber die Paul-Benndorf-Gesellschaft wollte die historische Wahrheit herausfinden. „Die Deutschen sind einen Schritt zu weit gegangen“, so die niederländische Verwandtschaft, die von der Unschuld van der Lubbes überzeugt ist. Marinus von der Lubbes Bruder Jan versuchte bereits im Jahr 1955 im damaligen Westberlin das Todesurteil durch das deutsche Gericht aufheben zu lassen. Das gelang erst 12 Jahre später.
„Für uns war diese lang ersehnte Rehabilitierung sehr wichtig“, sagt Marijt. „,Damals gab es die Aussage des SA-Manns Hans-Martin Lennings.“ Der von manchen Forschern kritisierte Zeuge hatte bei einem Notar in Hannover in einer eidesstattlichen Erklärung bestätigt, dass er van der Lubbe aus einem Berliner SA-Lazarett geholt hat und mit ihm zum bereits brennenden Reichstag gefahren ist. Während der Fahrt sei van der Lubbe „benommen“ gewesen. „Lennings bekam Gewissensprobleme, weil er mit der Verhaftung nicht einverstanden war“, mutmaßt Marijt.
Auf jeden Fall hatte der Brand große Folgen für die deutsche und europäische Geschichte. Die Nazis ließen noch in derselben Nacht Tausende, vor allem KPD- und SPD-Politiker sowie linksliberale Intellektuelle, nach längst fertigen Listen verhaften. Das ausgebrannte Parlament diente als Anlass, der verhassten Demokratie den Hals zu brechen, das Dritte Reich zu errichten, mit zig Millionen Toten und dem Holocaust als Folge.
„Marinus war das erste Opfer der Nazis“, glaubt Frau Marijt, die lange am Universitätsklinikum Leiden arbeitete. „Sie haben ihm eine Falle gestellt, ihn als Sündenbock benutzt.“ Das Thema verursachte viel Trauer in ihrer Familie. Im Jahr 2000 reiste man mitsamt Künstlern und Aktivisten nach Berlin, um vor Ort einen Gedenkstein für van der Lubbe zu errichten. Doch wurde dieser kurz nach der feierlichen Zeremonie am Deutschen Theater gestohlen. Auch in Leipzig wie in van der Lubbes Geburtsstadt Leiden wurde ein Monument aufgestellt.
Wurde gezwungen
Für Marijt und ihre Familie war Marinus van der Lubbe „ein Abenteurer“. „Er wollte die Deutschen wachrütteln und auf die Gefahr durch die Nazis hinweisen.“ Beim Prozess soll er zu einem Geständnis „gezwungen“ worden sein.
Während die deutschen Forscher fast ein Jahrhundert später den wahren Tatsachen nachjagen, will van der Lubbes Familie einfach ihre Ruhe haben. Und die Totenruhe des Prozessopfers gewahrt sehen. „Ob es gelingt, fast neunzig Jahre später Drogenspuren zu finden, steht in den Sternen. Für uns muss das nicht sein.“
Aber die Frage, ob van der Lubbe von den Nazis benutzt und vergiftet wurde, bewegt Wissenschaft und Amateurhistoriker nach wie vor. In der sächsischen Großstadt bezweifeln Gerichtsmediziner die Einzeltäterthese zum Reichstagsbrand, dessen genauer Ablauf nach wie vor umstritten ist.
Van der Lubbe war ein niederländischer Anarchist, der kurz vor der Machtübernahme des nationalsozialistischen Diktators Adolf Hitler nach Berlin gekommen war. Sein Schicksal ist in jedem deutschen und niederländischen Schulbuch nachzulesen. Von den fünf Angeklagten des Reichstagsbrandprozesses wurde er als einziger im Sinne der Anklage für schuldig befunden und somit am 23. Dezember 1933 auf der Grundlage eines rückwirkenden Gesetzes zum Tode verurteilt. Die übrigen Angeklagten sprach das Gericht mangels Beweisen frei. Van der Lubbe wurde am 10. Januar 1934 durch das Fallbeil hingerichtet.
Seine Leiche zu finden, war allerdings alles andere als einfach. Zu Zeiten der DDR wurde der Leipziger Südfriedhof, der der größte der Stadt ist, vernachlässigt. „In dem anonymen Grab, das mit einem tonnenschweren Findling markiert wurde, befand sich außerdem noch die Urne einer Frau“, so Paul. Der Stein musste mit einem Bagger gehoben und entfernt werden.
Leichtes Opfer
Die hinzugezogenen Toxikologen vermuten, dass van der Lubbe sukzessive vergiftet wurde. „Man geht davon aus, dass ihm während seines Prozesses peu à peu Medikamente verabreicht wurden“, erklärt Paul. „Und weil er zu schläfrig war, konnte er sich nicht anständig verteidigen.“ Ein leichtes Opfer also.
Die Historiker sind sich einig, dass dem linken Niederländer ein Schauprozess gemacht wurde, dass er der „nützliche Idiot“ war, um die Weimarer Republik ein für allemal zu vernichten und begraben. In der Tat markiert der Reichstagsbrand den ersten Höhepunkt des Nazi-Terrors, der im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust gipfelte.
Die Einzeltäterthese war allerdings auch nach 1945 noch sehr verbreitet. Möglicherweise hatten aber die Stoßtrupps der SA ihre Finger im Spiel. Im Reichstagsgebäude, dem jetzigen Bundestag, verläuft ein Tunnel bis zur Parlamentarischen Gesellschaft und dem Jakob-Kaiser-Haus, er kann heute besichtigt werden. Durch ihn könnten SA-Männer in die Volksvertretung gelangt sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Demokratie unter Beschuss
Dialektik des Widerstandes