piwik no script img

Foto: akg-images/picture alliance

NS-Verbrechen in der UkraineAuf der Spur der Täter

Viele Deutsche wollen wissen, welche Verbrechen Familienangehörige während des NS in der Ukraine begangen haben. Ein Historiker hilft dabei.

F ür seine Kunden fertigt Johannes Spohr oft historische Karten an, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er trägt Städte und kleinere Orte ein, dazu einzelne Kriegsereignisse und Routen, die Wehrmachtseinheiten oder Einsatzgruppen genommen haben. In den ersten Wochen nach Russlands Überfall auf die Ukraine sei ihm das aber schwer gefallen, erzählt er in einem Eckcafé in Berlin-Neukölln. „Die ersten zwei Monate habe ich kaum an meinen Aufträgen arbeiten können.“

Viele der Städte und Dörfer, die Johannes Spohr in die Karten eintrug, tauchten plötzlich Tag für Tag in den Nachrichten auf. Wo Wehrmachtssoldaten und SS-Männer vor 80 Jahren abgründige Verbrechen begangen hatten, herrschte jetzt wieder Krieg, wurde wieder getötet, gefoltert, geplündert, vergewaltigt.

Johannes Spohr ist Historiker, er bietet einen besonderen Service an. Wer wissen möchte, was seine Großeltern oder Urgroßeltern in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht haben, wie sehr die eigenen Vorfahren womöglich in Verbrechen verstrickt waren, kann ihn mit der Suche in Archiven beauftragen. Er durchforstet dann Wehrmachtsakten, Einsatzpläne, Kriegstagebücher, Parteiunterlagen, Entnazifizierungsprotokolle.

Spohr, 40 Jahre alt, spricht vorsichtig, abwägend. Oft macht er eine kurze Pause, bevor er antwortet. Er trägt Sneakers und im linken Ohr einen silbernen Ring. Als Ausgangspunkt brauche er Namen und Geburtsdatum der Angehörigen, sagt er. Aber auch alle weiteren Unterlagen aus der Zeit würden helfen.

Spuren vieler Deutschen führen in die Ukraine

Die Spuren vieler deutscher Familien aus der Zeit des Nationalsozialismus führen in die Ukraine. 17,3 Millionen Männer dienten im Laufe des Zweiten Weltkriegs in der Wehrmacht, zusammen mit der Waffen-SS waren es 18,2 Millionen Soldaten. Ein großer Teil von ihnen wurde an der Ostfront eingesetzt. Wie viele genau, ist nicht zu sagen, da es viele Truppenverschiebungen gab.

Gräbt sich gern durch Archive: Historiker Johannes Spohr Foto: Doro Zinn

In den Erzählungen der Wehrmachtssoldaten waren der Überfall auf die Sowjetunion und der Kampf gegen die Rote Armee aber meist ein Krieg nur gegen „die Russen“. Und dieses Denken wirkte noch weit über 1945 hinaus: Dass in der Roten Armee Menschen aus 15 sowjetischen Teilrepubliken kämpften, dass die größten Verwüstungen auf dem Gebiet der Ukraine und Belarus stattfanden, ging in der deutschen Debatte lange unter. Wenn es in den vergangenen Jahrzehnten um Aussöhnung mit Nationen im Osten ging, stand meist Russland im Zentrum.

Wie sehr die ungleiche Wahrnehmung die deutsche Erinnerungskultur prägt, zeigt auch eine Umfrage, die Anfang 2022 kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld durchgeführt wurde. Auf die Frage, welche drei heutigen europäischen Länder sie am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden, nannten – nach Frankreich, Polen und Großbritannien – 36,3 Prozent der Befragten Russland. Aber nur 1 Prozent die Ukraine und 0,1 Prozent Belarus.

Der neue Krieg könnte diesen Blick verändern. Viele Deutsche beschäftigen sich jetzt das erste Mal intensiver mit der Ukraine, mit ihrer komplizierten Geschichte und der Frage, welche Verantwortung aus deutschen Verbrechen dort erwächst. Sowohl Gegner als auch Befürworter von Waffenlieferungen beziehen sich in den aktuellen Debatten auf die Geschichte.

„Mein Großvater war Teil einer verbrecherischen Organisation in einem Vernichtungskrieg“

Johannes Spohr, Historiker

Die einen wollen verhindern, dass durch deutsche Waffen wieder russische Soldaten sterben. Die anderen entgegnen, dass gerade ein Land, das so unter deutschem Terror gelitten hat wie die Ukraine und nun erneut angegriffen wird, mit allem unterstützt werden muss, was es zu seiner Verteidigung braucht.

Was bedeutet es aber, wenn die große Geschichtsdebatte auf die eigene Familie heruntergebrochen wird? Wenn es nicht um abstrakte Täter geht, sondern den eigenen Großvater? Welche Verantwortung entsteht daraus? Und wie blicken Menschen, die sich mit ihrer Familiengeschichte in der NS-Zeit beschäftigen, auf die aktuelle Debatte um den Krieg in der Ukraine?

Seine eigene Familiengeschichte führt in die Ukraine

Die Großeltern von Johannes Spohr, Nordenham, 1942

Johannes Spohr zeichnet ukrainische Orte nicht nur in historische Karten ein, er kennt viele von ihnen aus eigener Anschauung. Seine Familiengeschichte hat ihn in die Ukraine geführt.

Spohrs Großvater war nach dem Krieg in der norddeutschen Kleinstadt Nordenham eine wichtige Persönlichkeit, 25 Jahre lang Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft der Stadt, „Chef des Bildungsbürgertums“. Nach seinem Tod im Jahr 2006 findet sein Enkel in Schreibtischschubladen Schwarzweißfotos aus der Kriegszeit, dazu stapelweise Dokumente, eine Wehrmachtsuniform hängt im Schrank. Spohr fragt sich, wie tief sein Großvater in NS-Verbrechen verstrickt war – und beginnt zu recherchieren.

Rudolf Spohr hat in der Wehrmacht schnell Karriere gemacht, er nahm 1940 am Westfeldzug teil, kam dann zum Oberkommando des Heeres. Als Ordonnanzoffizier, einer Art Hilfsoffizier, machte er ab 1942 Inspektionsreisen in die Ukraine, auch auf die Krim, zu einer Zeit, als Deutsche dort Verbrechen verübten. 1943 wurde er als Hauptmann nach Italien versetzt, nahm dort an Kämpfen teil und wurde schließlich in höheren Kommandoebenen eingesetzt.

Johannes Spohr findet keinen eindeutigen Nachweis, dass sein Großvater direkt an Kriegsverbrechen beteiligt war. Was er aber herausfindet: Rudolf Spohr war an vielen Orten, etwa der ukrainischen Stadt Winnyzja, als deutsche Kommandos dort mordeten, teils unter Beteiligung der Wehrmacht.

Und er hieß das offenbar gut. In einem Reisebericht von der Krim vom September 1942 schreibt er über den Krieg, er werde einen Frieden hervorbringen, „der den Einsatz von diesen Mengen Blut immer und ewig lohnen wird“. Seine Ehefrau freute sich derweil daheim über geraubte Produkte aus den besetzten Gebieten.

Seine Verbände, etwa das in Italien aktive 76. Panzerkorps, werden teils mit Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht. „Mein Großvater war Teil einer verbrecherischen Organisation in einem Vernichtungskrieg“, fasst Johannes Spohr seine Ergebnisse zusammen. „Aus den Dokumenten geht teilweise eine rassistische, antikommunistische und slawenfeindliche, teils auch koloniale Gesinnung hervor.“ Seinen Großvater könne man als Opportunisten und Karrieristen charakterisieren.

2013 fährt Johannes Spohr das erste Mal in die Ukraine, er besucht die Orte, an denen sein Großvater im Krieg war. Das Land fasziniert ihn. Er beginnt Russisch zu lernen, macht Sprachkurse in Odessa, fährt durch viele Dörfer, hält oft spontan an und kommt mit Menschen ins Gespräch. Immer intensiver beschäftigt er sich auch mit dem deutschen Vernichtungskrieg – nicht nur als Enkel, auch als Historiker. Ein Schwerpunkt werden für ihn die „verbrannten Dörfer“. Als Strafaktionen gegen Partisanen, vor allem aber auch auf ihrem Rückzug zerstörte die Wehrmacht unzählige Dörfer. Die Menschen wurden erschossen, erhängt oder verbrannten in den Häusern, in die sie eingesperrt worden waren.

Eine Doktorarbeit über die Zeit in der Ukraine

Über diese Zeit in der Ukraine, den Rückzug der Wehrmacht 1943/44 und ihre Verbrechen, schreibt Spohr seine Doktorarbeit. „Es ging um einen Zeitraum, in dem mein Großvater schon nicht mehr in der Ukraine gewesen war“, sagt er. „Das war wichtig, um einen nüchternen Blick zu bewahren.“

Nach Abschluss der Dissertation überlegt er, was er machen will. Als Historiker an der Universität eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen, erscheint ihm nicht attraktiv. Er mag aber die Arbeit in Archiven, den Geruch alten Papiers und den Sog, den Recherchen entfalten können. „Das mit dem Recherchedienst war dann eine Verbindung meiner Interessen.“

Zusätzlich hält er Vorträge zur Geschichte der Ukraine, schreibt Fachaufsätze und gibt Workshops, in denen er erklärt, wie jeder selbst die Vergangenheit seiner Großeltern oder Urgroßeltern recherchieren kann – etwa, wie man an das Archivmaterial kommt.

Durch seine Reisen und seine wissenschaftliche Arbeit hat Spohr viele Kontakte in der Ukraine. Er ist Vorstandsmitglied des Berliner Vereins Kontakte – Kontakty, der sich für den Austausch mit Ländern der ehemaligen Sowjetunion engagiert und ehemalige Kriegsgefangene, Überlebende der verbrannten Dörfer und der Shoah in Armenien, Belarus und der Ukraine unterstützt.

Die ersten Wochen des russischen Angriffs treffen ihn auch deshalb hart. Spohr macht sich Sorgen um Freunde und Bekannte. „Im März haben wir dann ein Netzwerk von über 50 Gedenkstätten und Initiativen gegründet, um Überlebenden der NS-Verfolgung in der Ukraine direkt zu helfen.“ Es geht um humanitäre Hilfe für sehr betagte Menschen, Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten, sichere Unterkünfte, Evakuierungen in den Westteil der Ukraine oder nach Deutschland, aber auch um den Austausch mit Kollegen vor Ort und die Bewahrung der Archive in der Ukraine. Um konkrete organisatorische Fragen. „Das hilft auch ein wenig gegen das Gefühl der Ohnmacht“, sagt Spohr.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Gestiegenes Interesse seit Kriegsbeginn

Seit Russlands Angriff bemerkt er ein gestiegenes Interesse an der Geschichte der Ukraine. Buchverlage legen Standardwerke neu auf, die plötzlich ganz andere Verkaufszahlen erreichen, Podcast-Serien mit Osteuropa-Historikern werden gestartet. Auch Spohr wird jetzt öfter um Vorträge zum Thema seiner Dissertation gebeten. Die Nachfrage nach den Recherche-Workshops ist ebenfalls gestiegen.

An einem Montag im Januar ist ­Spohr in Leipzig. Die Landes­ver­einigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen hat einen Workshop für junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren organisiert. An Tischen in einem Halbkreis sitzen sieben Teilnehmer um ihn herum. Er wirft mit einem Beamer Formulare an die Wand, zeigt, wie Archivanfragen aussehen, worauf man beim Ausfüllen achten muss. Bundesarchiv, Abteilung Personenbezogene Auskünfte, Zentrale Stelle Ludwigsburg, Militärarchiv Freiburg: Anlaufpunkte gibt es viele.

In einer Übung sollen die Teilnehmer sich private Schwarzweißfotos aus der Kriegszeit anschauen und beschreiben, was sich aus ihnen schließen lässt, was aber auch nicht. Ein Bild zeigt eine Person, die durch knöcheltiefes Wasser watet. Auf der Rückseite hat jemand geschrieben: „Die Minenprobe 1942“. Bei der Wehrmacht war es eine weit verbreitete Praxis, Zivilisten mit vorgehaltener Waffe dazu zu zwingen, durch möglicherweise vermintes Gebiet zu laufen. Aber ist das Bild authentisch?

In einer Diskussion unter Historikern wies ein Kollege auf die Perspektive des Bildes hin, erzählt Spohr: Es wurde von schräg oben aufgenommen, vor allem aber aus einer Nähe, die den Fotografen bei der Detonation einer Mine selbst in Lebensgefahr gebracht hätte. Wahrscheinlich ist es gestellt. Bei der Übung geht es darum, nicht voreilig Schlüsse zu ziehen. Und noch wichtiger: auszuhalten, dass sich manche Fragen gar nicht oder nicht eindeutig beantworten lassen.

„Barbara, wusstest du eigentlich, dass dein Vater bei den Einsatzgruppen war?“

Ein befreundeter Historiker im Gespräch mit Barbara Brix

In Auszügen aus Wehrmachtsakten, die der Beamer an die Wand wirft, tauchen öfter ukrainische Städte auf. Verweise auf den aktuellen Krieg blitzen im Workshop so immer wieder auf, doch es ist nicht die Motivation der Teilnehmer, ihre Familiengeschichten zu erforschen. Sie haben persönliche Gründe, stehen mit der Recherche auch noch ganz am Anfang, wissen nicht, wo sie sie hinführen wird.

Ihr Großvater lese an Weihnachten der Familie immer aus dem Kriegstagebuch ihres Urgroßvaters vor, erzählt Pauline, Politik- und Soziologiestudentin, 21 Jahre alt, grauer Pullover, schwarze Jeans. „Mein Opa liest aber immer nur die Stellen, in denen er als kleines Kind mit zwei Jahren selbst zum Flüchtling wurde.“ Was der Urgroßvater über die Zeit davor geschrieben habe, was er im Krieg genau gemacht habe, lasse ihr Großvater weg. „Er will es mich partout nicht lesen lassen, obwohl ich ihn schon öfter gefragt habe.“ Sie will jetzt schauen, was sie in Archiven herausfinden kann.

„Für mich war klar, ich will alles darüber wissen, ich will nicht wegschauen“: Barbara Brix Foto: Miguel Ferraz Araujo

Neben ihr sitzt Paula, 18 Jahre, Strickpulli, Jeans-Latzhose. Sie macht gerade ein Jahr Bundesfreiwilligendienst. Ihr Großvater sei zu DDR-Zeiten sehr engagiert in der SED gewesen, erzählt sie. „Er war richtig begeistert dabei. Und ich habe mich immer gefragt, wie das geht: Von einem System einfach so ins nächste zu springen.“ Neben den NS-Unterlagen wolle sie deshalb auch die Stasi-Akten ihres Großvaters einsehen, sagt Paula.

Der Blickt auf andere Länder kommt oft zu kurz

Wie sieht sie die Debatte um eine spezielle Verantwortung für die Ukraine wegen der deutschen Vergangenheit? „Die Aufarbeitung der NS-Zeit wird bei uns als eine deutsche Angelegenheit gesehen, als eine Beschäftigung mit uns“, sagt Paula. Der Blick auf andere Länder komme da oft zu kurz, eben auch der auf die Ukraine. „Aber die Debatte um den Krieg in der Ukraine ist mir zu sehr aufs Militärische verkürzt. Ich finde das nicht richtig. Ein Land, das so viel Leid mit Waffen angerichtet hat wie unseres, sollte sich mit Waffenlieferungen zurückhalten.“

Ortswechsel, eine kleine Erdgeschosswohnung in einem Seniorenstift im Hamburger Schanzenviertel. Hier lebt Barbara Brix, 81 Jahre alt. Sie bittet ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegt ein blauer Aktenordner, prall mit Dokumenten gefüllt. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit der Geschichte ihres Vaters. Eine Recherche, die auch sie in die Ukraine geführt hat.

Brix war sechs Jahre alt, als sie ihren Vater 1947 kennenlernte. „Wir waren Fremde füreinander“, erzählt sie. Er war gerade aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen worden. Ein Kriegsinvalide, dem beide Beine amputiert worden waren. Zu zweit fanden sie bei einer Tante im Ruhrgebiet Unterschlupf, ihre Mutter und ihre zwei Geschwister kamen als Vertriebene erst später aus Thüringen nach.

„Mein Vater und ich hatten einen schwierigen Start, aber mit der Zeit sind wir ein Herz und eine Seele geworden.“ Der Vater erzählte den Kindern oft Geschichten, die Weltliteratur in Kurzfassung, im Schein der Wohnzimmerlampe las er ihnen Romane von Charles Dickens vor, machte mit ihnen Ausflüge in einem für seine Behinderung umgerüsteten Auto. Als sie älter wurden, diskutierte er ihre Schulaufsätze mit ihnen. „Er hat sehr für unser intellektuelles Bildungsniveau gesorgt. Er war wirklich ein vorbildlicher Vater.“

Der Vater von Barbara Brix nach dem Krieg Foto: privat/Miguel Ferraz Araujo

Mit seinen Holzprothesen konnte ihr Vater nur mit Krücken gehen. Sie habe ihn aber nie gefragt, wieso er keine Beine mehr habe, erzählt Brix. „Ich hatte nur den vagen Gedanken, dass es etwas mit dem Krieg zu tun hat.“ 1980 stirbt ihr Vater mit 68 Jahren.

Ihr Blick auf ihn verändert sich 26 Jahre später für immer. 2006 macht sie einen Osterspaziergang mit einem befreundeten Historiker, dessen Familie wie ihr Vater aus Riga stammt. Der Freund beschäftigt sich gerade mit Baltendeutschen in der SS. „Barbara, wusstest du eigentlich, dass dein Vater bei den Einsatzgruppen war?“, fragt er. „Er hat das so beiläufig gesagt“, erzählt Brix. „Für mich war es aber ein Schock. Und zugleich das Gefühl: Ah, das war es also, was durch das Familiennarrativ verdeckt wurde.“ Sie hatte all die Jahre zuvor geglaubt, ihr Vater sei ein Arzt in der Wehrmacht gewesen.

Alle töten, die da nicht reinpassten

Die Einsatzgruppen folgten unmittelbar auf die Wehrmacht in den besetzten Gebieten. Sie sollten die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik umsetzen. Das hieß: alle zu töten, die da nicht reinpassten. Die Einsatzgruppen ermordeten mit Hilfe der Wehrmacht Juden, Roma, kommunistische Funktionäre, Partisanen, psychisch Kranke sowie geistig und körperlich Behinderte. Dem „Holocaust durch Kugeln“ fielen anderthalb Millionen Juden zum Opfer. Er fand auf einem Gebiet der Sowjetunion statt, das heute zur Ukraine, Belarus, Litauen und dem westlichen Russland gehört. Allein in der Ukraine gab es Massenerschießungen an 2.000 Orten.

„Für mich war klar, ich will alles darüber wissen, ich will nicht wegschauen“, sagt Brix. Sie hatte sich zuvor schon in der Erinnerungsarbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in der Nähe von Hamburg engagiert. Als Lehrerin hatte sie bis zu ihrer Pensionierung Geschichte unterrichtet. „Aber die großen Nazis waren für mich trotzdem ferne Personen gewesen, Hitler, Himmler. Nichts, was direkt mit mir zu tun hatte.“

Sie stürzt sich in die Recherche, fragt die verschiedensten Archive an und findet nach und nach heraus: Ihr Vater gehörte als Arzt dem Stab der Einsatzgruppe C an. Anderthalb Jahre war er in der Ukraine eingesetzt, arbeitete in Kiew im Hygiene-Institut der Waffen-SS und war, nach allem, was Brix weiß, auch bei dem Massaker von Babyn Jar dabei. „Es gibt den begründeten Verdacht, wenn auch keinen konkreten Beweis“, sagt sie.

In der Schlucht von Babyn Jar erschossen Angehörige der Einsatzgruppe C und der Polizei mit Hilfe der Wehrmacht und ukrainischer Helfer im September 1941 innerhalb von zwei Tagen mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Es war das größte Einzelmassaker an Juden im Zweiten Weltkrieg. Barbara Brix hat Ermittlungsakten dazu einsehen können, in denen es heißt, der Stab der Einsatzgruppe sei anwesend gewesen. Also auch ihr Vater.

Strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn gab es nach dem Krieg nie, als Zeuge wurde er in den 1960er Jahren dreimal von Ermittlern in anderen Verfahren vernommen.

Je länger sich Barbara Brix mit der Vergangenheit ihres Vaters beschäftigt, desto mehr verändert sich ihr Ansatz: „Am Anfang dachte ich, ich mache das für mich und meinen Sohn, vielleicht noch für meine Geschwister.“

Dann wagt sie sich mehr und mehr in die Öffentlichkeit. Für einen Sammelband schreibt sie einen Aufsatz über ihre Recherche und nimmt an einer Konferenz teil, auf der Fachhistoriker mit Täter-Nachfahren diskutieren, die ihre Familiengeschichten aufarbeiten. „Da habe ich gemerkt: Es hat auch etwas Politisches, wenn ich öffentlich darüber spreche. Indem ich über meine Nachforschungen, meinen Vater und meine Rolle nachdenke, werden Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt, sowohl bei mir als auch beim Publikum.“

Heute spricht sie öfter vor Hamburger Schulklassen, tritt bei Gedenkveranstaltungen auf. Sie sieht es als Teil ihrer Verantwortung, mit ihrer eigenen Geschichte zu zeigen, dass es keine gesellschaftlichen Randexistenzen waren, sondern auch liebevolle Familienväter aus dem Bildungsbürgertum, die als Täter den Vernichtungskrieg und den Holocaust in die Tat umsetzten. Sie kämpft gegen das, was der Publizist Ralph Giordano die „zweite Schuld“ nannte, das Schweigen, das die Täter schützt.

Eine Reise auf den Spuren der Einsatzgruppe

2016 besucht Brix erstmals die Ukraine, sie organisiert eine Gruppenreise mit Menschen, die in der Erinnerungsarbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme aktiv sind. Es wird eine Reise auf den Spuren der Einsatzgruppe C. „Das hat mich da angesprungen: Diese Orte, die ich bisher nur aus Listen in Ermittlungakten kannte – selbst dort zu sein und sich vorzustellen, wie das damals war, als die Deutschen und mein Vater dort waren“, sagt Brix.

Sie und ihre Gruppe interessieren sich nur für die deutschen Verbrechen. Die zwei ukrainischen Reiseleiterinnen zeigen aber auch mehrere Burgen der Kosaken, sie stünden für die demokratische Tradition des Landes. Und sie sprechen viel über den Holodomor, die von Stalin geschaffene Hungersnot, die in der Ukraine bis zu vier Millionen Tote forderte. „Ich habe mich am Anfang richtig dagegen gewehrt, dass die Ukraine in der Gegenwart ganz andere Fragestellungen hat“, erzählt Brix. „Dass das Erinnern an die Opfer der Nazis nicht oberste Priorität ist.“

Gegenüber Ukrainern gebe es eine überhebliche und geschichtslose Haltung, sagt Johannes Spohr

Durch viele Diskussionen mit den Reiseleiterinnen und Menschen vor Ort verändert sich das. „Wir haben angefangen, den eigenen Hochmut der Gedenkkulturbeflissenen zu reflektieren. Wir klopfen uns ja alle selber auf die Schulter, was für eine gute Gedenkarbeit wir machen. Dass das in anderen Ländern anders gesehen wird, und dass es Gründe in der Geschichte des jeweiligen Landes dafür gibt, mussten wir erst akzeptieren lernen.“

2017 besucht sie Odessa, 2018 ist sie mit derselben Reisegruppe noch einmal in der Westukraine bei Lwiw unterwegs, aber es ist vor allem die erste Reise, die sie tief beeindruckt.

Wie blickt sie vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte und dieser besonderen Beziehung zur Ukraine auf den Krieg jetzt?

Er sei fürchterlich, sie habe sich das nicht vorstellen können, aber: „Ich halte es für einen verfehlten Weg, immer mehr und immer schwerere Waffen dorthin zu liefern. Vor allem glaube ich nicht, dass man mit militärischen Mitteln einen dauerhaften Frieden schaffen kann.“ Sie trauert der Entspannungspolitik Willy Brandts hinterher, die sie „genial“ fand. Es sei schlimm, dass es für so etwas momentan keinen Raum gebe.

Die Ukraine ist aber Opfer eines brutalen Angriffkriegs. Wie soll sie sich verhalten, wenn sie nicht Waffen – auch aus Deutschland – bekommt, um sich zu verteidigen?

Brix sieht dieses Dilemma. Aber ihren Pazifismus, der für sie eine Lehre aus den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg ist, kann oder will sie nicht hinter sich lassen. „Das ist eine berechtigte Frage. Ich habe weder das Recht noch die Kompetenz, der Ukraine zu sagen, wie sie sich verhalten soll. Schon gar nicht, ihr wie manche andere zu raten, dass sie um des Waffenstillstands willen eben territoriale Verluste in Kauf nehmen müsse. Das maße ich mir nicht an. Das Recht habe ich nicht.“

Der Historiker Johannes Spohr bewertet Waffenlieferungen anders: „Da bin ich bestimmter geworden, auch aufgrund des massiven Terrors gegen die Zivilbevölkerung, den wir fast täglich erleben.“ Waffenlieferungen seien ein notwendiges Übel, sagt er. „Das hat sich gezeigt. Bestimmte Waffensysteme haben den Menschen in der Ukraine auch dabei geholfen, Leben zu retten.“

Es geht hier um eine realpolitische Abwägung

Nur Verhandlungen zu fordern, ohne genauer zu benennen, worüber und wie diese ohne militärische Stärke der Ukraine funktionieren sollten, hält er für verfehlt. „Man weigert sich da, eine veränderte Realität wahrzunehmen. Letztlich ist das Kriegsapologetik.“

Er sei eigentlich kritisch der Bundeswehr und deutschen Waffen gegenüber. Aber es gehe um eine realpolitische Abwägung, sagt Spohr. „Ich sehe angesichts der erbarmungslosen russischen Kriegsführung keinen überzeugenden Vorschlag ohne Waffen, der keine weitere Katastrophe für die Menschen in der Ukraine bedeutet. Verteidigen tun sie sich derzeit ohnehin selbst.“

Seine Position begründet Spohr aber aus der Gegenwart. Die Ukraine ist das überfallene Land, man sollte es gegen den imperialen Aggressor unterstützen, dafür brauche man keinen Verweis auf die deutsche Geschichte. „Die historischen Bezüge finde ich da häufig schräg.

Vor allem, wenn in der Debatte deutsche Intellektuelle ihre Väter oder Großväter rauskramen, um gegen Waffenlieferungen zu argumentieren – oder dafür gar ein ehemaliger Wehrmachtssoldat interviewt wird, wie jüngst im Deutschlandfunk.“ Gegenüber Ukrainern sei es eine überhebliche und geschichtslose Haltung, darauf zu beharren, dass auch Deutsche im Zweiten Weltkrieg gelitten hätten.

Und welche Verantwortung leitet er aus seiner eigenen Familiengeschichte ab? „Wir erleben heute, dass einige derjenigen abermals bedroht sind, die der NS-Verfolgung entronnen sind. Sie zu unterstützen ist eine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.“ Und vor allem sollte man diesen Menschen mehr zuhören: „Ihre Perspektiven sind relevanter als die von unkritischen Nachfahren derjenigen, die die Ukraine überfallen, ausgeraubt und weitgehend zerstört haben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen