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Hamburgs Jugendämter sind überlastet„Eine Art Triage“

Hamburgs Allgemeine Soziale Dienste (ASD) senken Standards ab, weil sie zu viel zu tun haben. Hilfeplangespräche gibt es nur noch einmal im Jahr.

Ist auf regelmäßige Hilfeplangespräche angewiesen: Jugendlicher in einer Wohngruppe in Nürnberg Foto: Daniel Karmann/dpa

Hamburg taz | Hamburgs Jugendämter sind so überlastet, dass sie ihre Aufgaben nicht schaffen. Das bringt die Linksfraktion in der Bürgerschaft in einer neuen Anfrage zur Sprache. Die Fachkräfte beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) seien „mehr als am Limit“, und angehalten, in einer „Art Triage“ ihre Aufgaben in „wichtig und weniger wichtig“ zu einzuteilen.

Den Anstoß hatte ein Papier vom 16. Dezember über „Maßnahmen zum Umgang mit der aktuellen Arbeitssituation“ gegeben, das die Jugendamtsleiter aller sieben Bezirke unterzeichnet haben. Sie hätten alles versucht, um ihre Ressourcen bestmöglich einzusetzen, heißt es darin. „Dies reicht jedoch nicht mehr aus, um den Kinderschutz dauerhaft zu gewährleisten.“ Als Gründe dafür nennen sie neue Aufgaben durch neue Gesetze und aufwendigere Fälle, verstärkt durch fehlende Plätze für die Kinder.

Darum sollen zunächst befristet bis Juli eine Reihe von „Standards“ nachrangig bearbeitet oder ausgesetzt werden. Gravierendster Punkt: Die Hilfeplangespräche, die laut Fachanweisung alle sechs Monate stattzufinden haben, soll es nur noch ein Mal im Jahr geben.

Doch diese Gespräche sind enorm wichtig etwa für Kinder, die außerhalb Hamburgs im Heim leben. Dort sitzen ein Jugendamtsmitarbeiter, das Kind, die Sorgeberechtigten und die Einrichtung zusammen und besprechen zum Beispiel, wie lange der Aufenthalt noch dauert oder wann ein Kind zur Schule gehen darf.

Jugendämter müssen für Schulplatz sorgen

Als kürzlich in Schleswig-Holsteins Bildungsausschuss das Thema der fehlenden Schulpflicht für auswärtige Heimkinder erörtert wurde, hatte die Ombudsfrau für Heimkinder, Samiah El Samadoni, moniert: „Das Problem ist, dass die Jugendämter sehr weit weg sind.“ Die Präsenz der Jugendämter aus anderen Bundesländern sei sehr gering. Sie treffe immer wieder auf Kinder, die keine Beziehung zu ihrem Heimat-Jugendamt haben. „Mir ist mal ein Kind begegnet, das steif und fest behauptet hat, es hätte gar kein Jugendamt.“

Aus einer Anfrage des schleswig-holsteinischen SPD-Abgeordneten Martin Habersaat geht hervor, dass im Land aktuell 392 Schüler aus anderen Bundesländern im Heim mit „anderweitigem Unterricht“ auf den Besuch einer Schule vorbereitet werden. Wie der Vorsitzende des Verbandes privater Träger der Kinder- und Jugendhilfe, Pierre Steffen, der taz unlängst sagte, dauert die Heimbeschulung bei den dort organisierten Einrichtungen „in der Regel selten länger als zwei Jahre“. Laut der Kieler Regierung läuft dieser Prozess „unter Federführung des entsendenden Jugendamtes“. Habersaat sagt nun: „Mir ist ein Rätsel, wie diese Federführung ohne persönlichen Kontakt und körperliche Anwesenheit funktionieren soll.“

Die Hamburger Linke wollte vom Hamburger Senat wissen, welche Auswirkungen es für die Betroffenen hat, wenn die Hilfe­plangespräche nicht wie vorgeschrieben alle sechs Monate stattfinden. Der Senat antwortete ausweichend. Falle so ein Termin aus, sei das jeweils „eine Einzelfallentscheidung“. Dann erhalte die „ohnehin stattfindende Kommunikation“ mehr Gewicht. Nachteile für die Betroffenen ergäben sich daraus nicht.

Auf taz-Anfrage, ob die Reduzierung der Hilfeplangespräche auch Heimkinder betrifft, antwortete ein Sprecher der Hamburger Sozialbehörde vage, diese sollten so häufig stattfinden, wie es erforderlich sei. Die regelhaften Intervalle würden „gerade noch mit dem ASD abgestimmt“.

72 Überlastungsanzeigen seit 2021

Immerhin räumt der Senat auf die Linken-Anfrage ein, dass es seit 2021 72 Überlastungsanzeigen in den Jugendämtern gab. Die Arbeit werde aber „regelhaft ausgeführt“. Alles Verschobene werde nachgeholt. Kindeswohlgefährdungen seien von der Priorisierung ausgenommen. So sei der Kinderschutz „zu jeder Zeit“ gewährleistet.

Die Linken-Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus ist enttäuscht von den Antworten. „Der Senat banalisiert und verharmlost die Situation.“ Ein Papier, in dem alle sieben Jugendamtsleitungen schreiben, der Kinderschutz sei nicht gewährleistet, müsse die Stadt „sehr ernst nehmen“.

Bereits kurz vor Weihnachten hatte die Gewerkschaft Ver.di vor Personalmangel bei Hamburgs ASD gewarnt. Das sei noch akut, sagte Ver.di-Sekretär Max Stempel nun zur taz. „Unseres Wissens sind etwa ein Fünftel der Stellen nicht besetzt.“ Ein Problem sei, dass die Nachbarländer den Fachkräften mehr Geld und freie Tage böten.

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6 Kommentare

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  • Das verstehe ich nicht, Stationen, gar ganze Krankenhäuser und Pflegeheime, Kindergärten bzw. Kinderkrippen und Familien werden platt gemacht, wenn sie überlastet sind. Bei Familien muss das noch nicht einmal zutreffen!



    Wie auch immer, worauf wartet man beim ASD in Hamburg?

  • Solange nicht Eltern, Sozialarbeiter, Träger und Lehrer auf die Straße gehen und dagegen protestieren, wird es mit den Jugendämtern so weiter gehen.

    Ein System, das nur noch Kinder aus extremer Not retten will, der Rest wird eher mäßig bis schlecht verwaltet. Und wie viele extreme Notfälle gibt es denn?

    Ich kann in der Hamburger Politik kein Interesse an einer echten Veränderung des ASDs entdecken.

    Alleine die schwergängige Software, die massive Unterrepräsentanz von Männern als FFK, der Mangel an erfahrenen, alten FFKs, zeigt doch, wie mies das da ist.

    In einigen ASDs bleiben Mitarbeiter maximal drei Jahre, wenn einer vier Jahre durchhält, wird er zur stellvertretenden Leitung befördert.

    Und wen bräuchte der ASD: Weil sie Fallmanager sind, müssen sie analytisch und praktisch extrem gut und erfahren sein. Sie müssen auch sehr gut Büro-Arbeit und organisatorische Abläufe können.

    Und so eine Sozialarbeiter-Elite arbeitet dann richtung Burn-Ourt im ASD?

    Nein, die ASD können gar nicht diese Leute mehr kriegen, zum einen weil die nicht mehr verfügbar sind, zum anderen weil die Arbeitsbedingungen legendär schlecht sind.

    Und gegenüber anderen Positionen im Öffentlichen Dienst sind das vielleicht 200 oder 300 EURO mehr, die sie dort verdienen. Wenn sie denn durchhalten und es schaffen.

  • Es wird keine Zeit sparen, wenn die Hilfekonferenzen nur noch 1 mal im Jahr sind. In der Praxis war das eh schon oft so. Das größte Problem: Es gibt nicht genug Wohngruppenplätze, besonders für psychisch erkrankte, sich selbst- oder fremdgefährdende Jugendliche. (Bildungsmöglichkeiten fehlen auch). Da gibt es schon lange eine Triage. Sie werden fallengelassen oder in sehr teure Maßnahmen abgeschoben. Diese teuren Maßnahmen sind berechtigt, leider haben das aber auch schon geldgeile skrupellose Einzelpersonen gemerkt und bieten so etwas an, aber stecken die Jugendamtsgelder ein und vernachlässigen die Jugendlichen. Hierzu nur eins von vielen Beispielen:www.nordkurier.de/...ht-2148634206.html



    Tatsächlich wurden zahlreiche Jugendliche dieses Vereins inoffiziell im Ausland "betreut".

    • @X Undso:

      Und was dazu kommt: Das Jugendamt Hamburg ist so froh, wenn für als "schwierig" geltende Jugendliche ein Platz gefunden ist, und hat zudem keine Zeit, so dass es null Kontrolle gibt, ob dort stattfindet, was angeblich alles stattfinden soll. Auch nachdem hohe Veruntreuung von Geldern durch die Liga Scolare festgestellt ist, zeigt das Jugendamt den Träger nicht an. Das Geld wurde bewilligt für die Jugendlichen, denen gleichzeitig ständig vorgehalten wurde, wie viel sie kosten. Sie müssen entschädigt werden.

  • Eine Triage greift für den Fall einer außergewöhnlichen Katastrophe. Was in Hamburg abläuft ist der alltägliche Standard.

    Insofern ist der Begriff völlig fehl am Platze. Was da anläuft ist Staatsversagen.

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Welche Vorschläge haben denn Die Linke um das Problem zu lösen? Ist ja nicht nur in Hamburg so, auch Städten wo Die Linke mitregieren.