Streit um Bildung für Heimkinder: Der lange Weg zur Schulpflicht

In Schleswig-Holstein drückt sich die Regierung darum, eine Schulpflicht für Heimkinder von außerhalb einzuführen. Neuer Erlass entpuppt sich als alt.

Ein Schüler sitzt an einem Tisch und schreibt mit einem Kugelschreiber in sein Heft

Die Vorbereitung auf die echte Schule im Heim kann schon mal über zwei Jahre dauern Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa

HAMBURG taz | Lisa (Name geändert) hofft ganz doll, bald zur Schule gehen zu dürfen. Über zwei Jahre lebt das Kind schon in einem kleinen Heim hoch im Norden. Doch ihr Wunsch, nach draußen zur Schule zu gehen und damit täglich mehr Kontakte zu Gleichaltrigen auch außerhalb ihrer Einrichtung zu haben, wurde Monat um Monat verschoben. Erst seit Kurzem sieht es so aus, als ob sich der Wunsch erfüllte.

Schleswig-Holstein ist das einzige Bundesland, in dem Kinder, die in Heimen leben und aus anderen Bundesländern kommen, nicht grundsätzlich der Schulpflicht unterliegen. Letzten Juli sah es kurze Zeit so aus, als würde sich das ändern. Die frischgebackene Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) erklärte in den Kieler Nachrichten, sie wolle diesen Sonderweg beenden und eine „echte Schulpflicht“ für alle Heimkinder verankern.

Danach war erst mal Funkstille. Touré tausche sich mit ihrer Kollegin, der CDU-Bildungsministerin Karin Prien aus, um „praktikable und rechtssichere“ Regelungen sicherzustellen“, teilte ihr Haus mit. Weiteres war nicht zu erfahren. Bis nun am 19. Januar das Thema im „Bildungsausschuss“ des Landtags auf die Tagesordnung kam. Die Überraschung: Es gibt keine Gesetzesänderung. Es bleibt dabei, dass die rund 3.000 Heimkinder aus anderen Bundesländern keine Schulpflicht haben, wenn sie, wie meistens der Fall, weiter in ihrer Heimat gemeldet sind.

Dass das ein Problem ist, weil die Beschulung dieser Kinder nicht sicher ist, hatten die Wohlfahrtsverbände vor Ort schon vor zehn Jahren kritisiert. Die Ombudsfrau Samiah El Samadoni von der Beschwerdestelle für Kinder und Jugendliche warnte 2019 in der taz gar vor einem „Verschwinden“ der Kinder in den Heimen und berichtete von einem Jungen aus Bayern, der drei Jahre nur heimintern beschult wurde und dem ohne Abschluss nur die Perspektive auf Tätigkeit in einer geschützten Werkstatt blieb.

Regierung hat Daten-Lücke

Schon damals berichtete die taz von der lückenhaften Statistik. Das Bildungsministerium hatte nur Daten von 3.373 schulpflichtigen Heimkindern, obwohl es etwas doppelt so viele Heimplätze gab. Niedersachsen, in dem alle Kinder gleich schulpflichtig sind, kann dagegen für alle Heimkinder genau sagen, welche Bildungsinstitution sie besuchen.

Dass Schleswig-Holstein hier eine Daten-Lücke hat, wurde auch in einem „Regierungsbericht“ aus dem September 2021 klar, den die SSW-Abgeordente Jette Waldinger-Thiering gefordert hatte, die seit Jahren für die Heimkinder-Schulpflicht kämpft. CDU-Ministerin Prien hatte zwar im Oktober 2017 einen Erlass verfügt, der vorsah, dass ein Kind wie Lisa „grundsätzlich“ Anspruch auf den Besuch einer Schule hat und Heime die Kinder der Schulaufsicht melden sollen. Deshalb sollten die Schulkreise „Konzepte“, „Routinen“ und „Formblätter“ entwickeln. Doch bevor diese Kinder den Fuß in eine Schule setzen, wird geguckt, ob sie Förderbedarf haben. Können sie aus „erzieherischen Gründen“ keine Schule besuchen, so hat das Heim für eine interne „pädagogische Förderung“ zu sorgen. Und zwar zur „Vorbereitung auf die Schule“ und „nur vorübergehend“.

Für den Regierungsbericht hatte das Sozialministerium im Mai 2021 den 306 Heimträgern einen Fragebogen geschickt. Doch nur 52 hatten geantwortet, da dies freiwillig war. Parallel befragte das Bildungsministerium die 15 Schulämter und kam zu dem Ergebnis, dass 2.807 Heimkinder zur Schule gingen und 590 Heim­unterricht erhielten. Kinder wie Lisa waren häufiger im Heimunterricht. Eine lückenlose Aufschlüsselung für die rund 6.000 Heimkinder bot der Bericht nicht. Es gebe bei den Daten eine „riesengroße Lücke“, sagte Waldinger-Thiering. Sie verstehe nicht, warum es keine Schulpflicht für diese Kinder gibt. „Scheitert es daran, dass die Kreise dann dafür bezahlen müssten?“

Sozialministerin Touré gab der SSW-Frau „absolut recht“, dass die Datenlage „nicht dahingehend zuverlässig ist, dass man sagen kann, so sieht die Situation in Schleswig-Holstein aus“. Doch die Grüne hat sich überzeugen lassen, das Problem anders zu regeln. Touré: „Wenn wir das mit dem Erlass hinbekommen, dass die Praxis gut läuft und die Kooperation, dann ist mir eine Gesetzesänderung egal“.

Dabei sprachen beide Ministerinnen von einem neuen Erlass aus November 2021, dessen Umsetzung in der Praxis Zeit und Unterstützung brauche. Doch vergleicht man die beiden Schriftstücke, ist der 2021er Erlass von dem aus 2017 kaum zu unterscheiden. Es wird nur an einer Stelle das Wort „Schülerakte“ durch „Daten“ getauscht und klargestellt, dass Aufnahmen in Kinderheime nur gemeldet werden müssen, wenn sie auch die Schule wechseln.Neu, aber nicht im Erlass erwähnt, ist auch, dass es in den Schulkreisen „Runde Tische“ zwischen Schulaufsicht, Jugendamt und Heimträgern gibt und dass die Schulämter in den Kreisen vom Sozialministerium die Daten der Heime erhielten, damit die wissen, wie viele davon es bei ihnen gibt. Bis Juli will man mit den Runden Tischen durch sein.

Nur, hilft das Kindern wie Lisa? Gefragt, was denn gegen die gesetzliche Schulpflicht spricht, sagte Prien, es sei nicht ihre Herangehensweise, alle Kinder gleich zu behandeln, sondern allen Kinder „gerecht“ zu werden. Die Kinder kämen „natürlich mit einem Paket an Themen“, und gucke man dann die räumliche Konzentration der Einrichtungen an, dann käme man in diesen Regionen in „sehr schwierige Situationen“. Ein Problem sei, dass Schleswig-Holstein kaum noch Sonderschulen und eine hohe Inklusionsrate habe.

El Samadoni, die auch in der Ausschusssitzung des Landtags saß, bezeichnete Priens Argumentation als „schräg“. Ihr begegneten regelmäßig Kinder, die sich sehr lange im Heim in den schulvorbereitenden Maßnahmen befänden. Im Gespräch mit der taz sagte sie später: Über zwei Jahre, das finde sie „sehr lang“: „Da steht im Raum, ob die Maßnahme nicht gescheitert ist.“ Sie stelle nicht infrage, dass es Kinder gebe, die eine heiminterne Schule brauchen. „Ich sage nur, dass die Stelle, die diese Entscheidung trifft, keinen Interessenkonflikt haben darf. Das kann nur die Schulaufsicht sein, die die Aufgabe hat, die Schulpflicht durchzusetzen.“ Die zuständigen Jugendämter für diese Kinder liegen weit entfernt und sind deshalb zu wenig präsent.

Interessant ist, dass auch die Jugendhilfe für die Schulpflicht eintritt. So schrieb zum Beispiel der Verband privater Kinder- und Jugendhilfeträger (VPK) 2018 in einer Stellungnahme, besagter Erlass von 2017 sei nicht ausreichend, da er „weiterhin Unsicherheiten“ für die Kinder eröffne.

Immerhin erteilten Prien der gesetzlichen Schulpflicht keine endgültige Absage. Sie wolle „nicht für alle Ewigkeit ausschließen, das wir das tun“. Ihre Kollegin Touré sei ja eigentlich eh dafür.

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