Böllerverbote als Klassenfrage: Je suis Problemklientel
Beim Böllerverbot sind sich Linksliberale und Polizei einig. Das ist nicht alles falsch, aber doch Verrat an denen, für die Linke angeblich kämpfen.
S ilvester 1998 in Hamburg-Altona. Von einer Nachbarin bekam meine Mutter das Angebot, den Neujahrsabend mit meiner Schwester und mir in ihrer Wohnung zu verbringen, während sie für den Jahreswechsel nach Frankreich fuhr. Vielleicht sagte meine Mutter zu, weil sie sich versprach, dass die Wände in der Wohnung der Nachbarin dicker waren als unsere. Vielleicht, weil das Wohnzimmer der Nachbarin einen besseren Blick auf die Nachbarstraße hergab – die Straße, in der alljährlich ein großes Spektakel herrschte.
Man muss mit dieser Formulierung vorsichtig sein, aber als Kind habe ich es so empfunden: Silvester in unserer Nachbarschaft, das war Krieg. Gegen 23 Uhr stieg die Taktzahl der Detonationen. Im Sekundentakt pfiffen die Raketen am Fenster im vierten Stock vorbei, Kanonenschläge hallten zwischen den Häusern wider, einige junge Männer schossen mit Leuchtspurmunition um sich. Furcht und Voyeurismus rangen in mir um die Vorherrschaft.
Ich hielt meinen Blick auf die Straße gerichtet und sah: Ein Linienbus, der blockiert und beschossen wurde; ein Erwachsener, der auf das Dach des Busses kletterte und sich von den Umstehenden feiern ließ; die Polizei, die kam, und versuchte, die Menge aufzulösen.
Olivier David, 34, ist Autor, freier Journalist und Kolumnist. 2022 erschien sein Debüt „Keine Aufstiegsgeschichte – wie Armut psychisch krank macht“ bei Eden Books.
Die Tage nach dem Jahreswechsel wateten wir durch einen Morast aus Böllermüll, Raketenüberresten und zerbrochenen Flaschen. Die Straßen waren gesäumt von Patronen aus Gas-, Schreckschuss- und Leuchtspurpistolen. Wie ein olfaktorisches Mahnmal hing der Geruch vom Schwefel noch tagelang über unserem Straßenzug.
Vielleicht kam es mir nur so vor, aber die Stimmung zum Jahresbeginn war bedrückt, ganz so, als habe man sich für ein paar Stunden getraut, ein zügelloses Leben zu führen, sei gescheitert und kehre nun an den angestammten Platz zurück. Der Alltag hatte gesiegt, er hatte die Hoheit über die Leben der Menschen zurückgewonnen.
Symbolischer Konsum
Seit jenem Silvester habe ich in einigen Gegenden und Städten gewohnt, mit sehr unterschiedlicher Sozialstruktur, aber die Faustregel blieb stets dieselbe: Je prekärer das Viertel, desto größer war die Eskalation.
Natürlich wird auch in höheren gesellschaftlichen Klassen geböllert. Als ehemaliger Waldorfschüler weiß ich, dass einige meiner wohlhabenderen Mitschüler sich ebenfalls bereits Wochen vor Silvester mit Raketen und Knallkörpern eindeckten. Von polizeilichen Maßnahmen wie den Böllerverbotszonen hingegen sind Wohlhabende strukturell nicht betroffen.
Berlin hat in diesem Jahr mehrere dieser Verbotszonen eingerichtet. Betroffen sind Gebiete in Schöneberg, Alt-Moabit, dazu der Alexanderplatz. In Hamburg gelten an der Binnenalster und in Teilen der Innenstadt Böllerverbote – wo sich zu dieser Uhrzeit vor allem Jugendliche herumtreiben. „Problemklientel“, wie es abwertend im Sprech der Sicherheitsorgane heißt.
Ein Teil des Phänomens, das hinter der Debatte über ein Böllerverbot steckt, nennt sich symbolischer Konsum. Die Spuren dieses Konsums lassen sich in der neueren Klassenliteratur finden. In „Wer hat meinen Vater umgebracht“ beschreibt der französische Schriftsteller Édouard Louis, wie sein Vater jährlich den Jahrmarkt herbeisehnte. „Im September wurden Fahrgeschäfte für den Jahrmarkt auf dem Dorfplatz aufgebaut, Schießstände, Spielautomaten. Dann gabst du in vier Tagen das Budget des ganzen Monats aus – das Geld, mit dem Essen, Rechnungen, Miete bezahlt werden mussten.“
Diese Art des symbolischen Konsums bedeutet für arme Menschen: Das Geld langt vorne und hinten nicht, aber wenigstens an ein oder zwei Tagen im Jahr möchte ich die Realität, in der ich als Verlierer gebrandmarkt werde, vergessen und so feiern, als wäre ich der König der Welt.
An guten Gründen für ein Verbot der Silvesterböllerei mangelt es nicht. Der Lärm; die Umweltverschmutzung; die Verletzungen. Mit all diesen Gründen kann ich etwas anfangen.
Seit der Coronapandemie ist ein neues Argument hinzugekommen: Die Überlastung des Gesundheitssystems, konkreter der Krankenhäuser. Ein Pflegebetrieb am Limit könne sich nicht auch noch um weggesprengte Finger und verletzte Augen kümmern. Allerdings verraten ein paar hundert Einsätze an Silvester, so überflüssig sie sein mögen, vor allem einiges über den Stand eines kaputtgesparten Gesundheitssystems, als dass sie eine Aussagekraft über Verletztenzahlen eines Landes mit 83 Millionen Einwohnern entfalten.
Es gibt wenige Gelegenheiten, in denen sich liberale Linke so moralisch überlegen fühlen, wie in der Debatte, ob am Jahreswechsel geknallt werden darf oder nicht. Die Wurzeln dieser Moral sind durch und durch bürgerlich, sie zeigen, wessen Geistes Bruder diese Linksliberalen sind. Schon in den 1980er Jahren gab die katholische Kirche unter der Losung „Brot statt Böller“ die Schlagrichtung vor: Charity als Überlegenheitsgestus wird gegen die niedere und proletarische Feierkultur armer Menschen in Stellung gebracht. Jeder Gesellschaft die Linke, die sie verdient.
Die Diskussion über ein Böllerverbot ist die perfekte Plattform, sich gegenseitig seines gesitteten Geschmacks zu gratulieren. Das Problem mit der Distinktion ist, dass es schon bald nicht mehr ausreicht, auf der richtigen Seite zu stehen, es gilt auch, die Richtigkeit der eigenen Argumentation durch Gesetze abzusichern. Aus unsichtbaren Codes soll – am besten sofort! – geltendes Recht werden.
Kulturkampf statt Klassenkampf
So hehr die Absichten hinter linksliberaler Kumpanei mit der Polizeigewerkschaft auch sein mögen: Wer ein Böllerverbot fordert, der ruft nach Kriminalisierung. Denn wo etwas verboten wird, da muss das Verbot umgesetzt werden. Zuständig dafür ist die Polizei, die genau dazu gegründet wurde – zur Sanktionierung armer Menschen. In Hamburg und Berlin (dort in Koalition mit der Linken) wird diese Kontinuität unter rot-grünen Landesregierungen auch diesen Silvester fortgesetzt, wenn migrantische Jugendliche durch ihre Viertel gejagt werden. Das ist weder progressiv noch links.
Dafür ist der Ruf nach einem Böllerverbot Ausdruck eines Zeitgeistes, in dem feministische Innenpolitik bedeutet, unter dem Credo der Sicherheit für Frauen, die Bundespolizei aufzustocken und die Kameraüberwachung an neuralgischen Punkten auszubauen. In beiden Fällen sind es migrantisierte und arme Menschen, die unter den Maßnahmen leiden werden.
Es ist derselbe Zeitgeist, indem sich die Linkspartei mit lauteren Argumenten für eine Impfpflicht einsetzt, die neben selbsternannten Querdenkern, vor allem jene sanktioniert, die nicht mitgemeint sind, wenn von „der Gesellschaft“ gesprochen sind. Die Abgehängten. Das „Problemklientel“. Diejenigen, die vermehrt zu Verschwörungstheorien neigen, häufiger als der Rest der Bevölkerung rechts wählen (wenn sie denn wählen) und sich seltener impfen lassen. Die Armen.
Das Phänomen, das in diesem Text aus verschiedenen Richtungen beschrieben wird, ist die Abwertung armen Lebens. Man kann dieses Phänomen Klassismus nennen oder auch Sozialchauvinismus, wichtiger ist jedoch eine Entscheidung: Ist man solidarisch mit den Angehörigen der unteren Klasse – selbst wenn sich manche von ihnen nicht regelkonform verhalten? Oder wählt man aus zwischen guten, weil moralisch integren Armen, und jenen, die förmlich darum zu betteln scheinen, dass man sich von ihnen distanziert?
Diejenigen, die jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um armen Menschen unter der Fahne des moralisch Richtigen ihre Solidarität zu verweigern, handeln – ob sie wollen oder nicht – nach den Spielregeln des progressiven Neoliberalismus.
Wider die Moral
Wessen Zunge nun ein voreiliges „Querfront“ formuliert, aufgepasst: Nein, hier wird nicht anhand einer Debatte übers Böllerverbot die Freiheit des kleinen Mannes verteidigt, vielmehr geht es darum, dass unter dem Banner der Moral ein Kulturkampf geführt wird. „Wenn politische Fragen immer weiter kulturalisiert werden, vollzieht sich eine Polarisierung entlang kultureller Differenzen, anstatt entlang der Klassengegensätze“, benennt Astrid Zimmermann im Jacobin den Konflikt, den eine klassenbewusste Linke nur verlieren kann.
Eine Linke, die es ernst meint mit Klassenkampf, entzieht nicht jenen reflexartig die Solidarität, die den Großteil ihres Arbeitslebens für die Gewinne höherer Klassen ausgebeutet werden. Eine Linke, die sich ihren Namen verdienen will, hakt sich ein, wo es möglich ist und kritisiert, wo es nötig ist. Aber sie verrät nicht diejenigen, für die zu kämpfen sie vorgibt, für ein paar Stunden Ruhe und eine Brise gute Luft.
Wer den Kontakt zur unteren Klasse nicht verlieren will, kann sich eine solche Moral nicht leisten. Auch ich kann sie mir nicht leisten, erst recht nicht als jemand, der 80 Prozent seines Lebens in Armut verbracht hat. Als jemand, dessen Vater Dealer war und mehrfach im Gefängnis saß.
Links sein und einen Klassenkompass zu besitzen bedeutet, den Freunden und Bekannten, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen, nicht die Solidarität zu entziehen, sondern ihnen zu helfen. Es bedeutet, nicht nach Regeln und Verboten zu rufen, die Armutsbetroffene kriminalisieren. Es bedeutet, dass der Fokus den Kämpfen jener Frauen gilt, deren Löhne vorenthalten werden, und nicht denjenigen, die die Vorstände von Rheinmetall und Thyssen-Krupp paritätisch besetzen wollen.
Ihnen zu signalisieren: Ich stelle meine Solidarität zu euch nicht vorschnell zur Disposition – das ist die Aufgabe, an der sich eine Linke messen lassen muss. Auch an Silvester, wenn Jugendliche in Berlin, Hamburg und anderswo von der Polizei durch ihre Viertel gejagt werden.
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