Obdachlose in Winter: Das Sterben auf den Straßen beginnt
Hamburg zwingt Obdachlose, trotz Minusgraden tagsüber die Gebäude des Winternotprogramms zu verlassen. Ein erstes Kälteopfer gibt es wohl seit Montag.
Gefragt, ob die Menschen auch angesichts der aktuellen Kälte die Notunterkünfte tagsüber verlassen müssen, erklärte Behördensprecher Martin Helfrich am Donnerstag früh um 10.10 Uhr: „Bei besonderen Wetterlagen gibt es die Möglichkeit der Tagesöffnung, eine entsprechende Wetterwarnung des DWD liegt bislang noch nicht vor.“
Zu dem Zeitpunkt hatten die Menschen ihre Unterkünfte in der Friesenstraße in den Stadtteilen Hammerbrook und Billbrook schon seit 40 Minuten verlassen müssen. Sie sollen – so die Theorie – zu Tagesaufenthaltsstätten in anderen Stadtteilen fahren, wo sie auch etwas zu essen bekommen. Doch die sind nicht immer offen und haben auch nur begrenzt Plätze.
Und ein Blick aufs Thermometer zeigte minus drei Grad. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) warnt für Norddeutschland vor Schnee und kalten Temperaturen. Für Hamburg galt am Donnerstag Vormittag die gelbe „Warnstufe 1“, laut einer Sprecherin hieß das Schnee bis fünf Zentimeter und Kälte bis minus fünf Grad. Nördlich von Hamburg galt die orange „Warnstufe 2“, mit Schnee bis zehn Zentimetern. Im Lauf des Tages weitete sich diese orange Zone auf der Karte rund um Hamburg Richtung Niedersachsen aus.
Schnee in ganz Norddeutschland
„Jeder Mensch, der aus dem Fenster guckt und überlegt, will ich da draußen stundenlang rumlaufen, sagt: nein, will ich nicht, weil es ungesund ist“, sagt Jörn Sturm, Geschäftsführer des Straßenmagazins Hinz & Kunzt. „Herr Helfrich guckt auf den Wetterbericht, das ist der Fehler.“ Der Deutsche Wetterdienst habe nicht die Aufgabe, der Sozialbehörde zu sagen, ob es menschenwürdig ist, bei dieser Kälte draußen zu sein.
Bei diesen kalten Temperaturen bestehe für die oft gesundheitlich geschwächten Menschen eine „Gefahr für Leib und Leben“, sagt Ronald Kelm vom Gesundheitsmobil, das ehrenamtlich Obdachlose medizinisch versorgt. „Einen Schutz vor Erfrieren muss es auch von 9.30 bis 17 Uhr geben.“ Deshalb müsse unbedingt die Winterunterkunft tagsüber offen sein.
Das Gesundheitsmobil habe vergangene Woche durch das Ausstellen eines ärztlichen Attests für zwei Menschen erreicht, dass sie drinnen bleiben durften. „Der eine hatte eine Lungenentzündung, der andere konnte kaum gehen“, sagt Kelm.
„Dass Menschen trotz der eisigen Temperaturen tagsüber das Winternotprogramm verlassen müssen, ist unmenschlich und macht mich fassungslos“, sagt die Linken-Politikerin Stephanie Rose. Im Winter 2020/2021 seien binnen weniger Wochen 13 Menschen auf Hamburg Straßen verstorben. „Das darf sich nicht wiederholen“.
Polizei fand Mann ohne Puls und Atmung
Ein erstes Kälteopfer in diesem Winter gibt es offenbar seit Montag. Ein Obdachloser habe vor einem Supermarkt nahe des Hauptbahnhofs gelegen – mit einer Körpertemperatur von unter 30 Grad. Die Polizeipressestelle bestätigt, dass es am Abend des 5. Dezember so einen Einsatz dort gab.
„Polizisten bemerkten eine leblos wirkende Person. Es konnten weder Puls noch Atmung festgestellt werden. Es wurden Reanimationsmaßnahmen durchgeführt und die Person durch die Feuerwehr ins Krankenhaus verbracht“, heißt es auf Nachfrage. Am Montag ist der 58-jährige Pole verstorben. Die Ermittlungen zur Todesursache laufen noch an, so die Polizei weiter. Es gebe keinen Hinweis auf Fremdverschulden.
Auch Klaus Wicher, der Hamburger Landesvorsitzende des Sozialverbandes (SovD), unterstützt die Kritik am Winternotprogramm. Zwar werde dort inzwischen einiges besser gemacht, aber dass die Menschen tagsüber in die Kälte müssen, sei „unmenschlich“ und gehe an die Substanz der Gesundheit. „Die Menschen sind ständig auf der Suche nach einem warmen Ort, werden oftmals vertrieben und müssen wieder in die Kälte.“
Besonders besorgt sei er um die obdachlosen EU-Bürger aus Polen, Rumänien und Bulgarien, die aufgrund ihres Status nicht einmal Anspruch auf den Schlafplatz im Winternotprogramm haben – so wie der am Montag Verstorbene. Für sie gibt es nur eine Wärmestube mit Sitzplätzen. „Das finden wir nicht in Ordnung“, sagt Wicher. „Was spricht dagegen, diesen Menschen ein Bett zu geben und mit ihnen ins Gespräch zu kommen?“
Der SoVD ist im Verwaltungsausschuss der Sozialbehörde vertreten, in dem auch über das Winternotprogramm gesprochen wird. Er habe dort auf das Problem hingewiesen, sagt Wicher, bekomme aber zur Antwort, dass Hamburg, wenn das Winternotprogramm zu gut sei, Obdachlose anlocken könnte. Wicher: „Ich habe Zweifel, ob das stimmt.“
Aktualisierung: Etwa eine halbe Stunde nach Erscheinen dieses Berichts schickte die Stadt eine Mail an verschiedene Hilfseinrichtungen, dass das Winternotprogramm „während der anhaltenden Kälteperiode“ täglich zwei Stunden länger geöffnet habe. Die Menschen müssten die Räume erst um 10.30 Uhr verlassen und könnten schon um 16 Uhr zurück. Allerdings soll das nur für drei Tage bis einschließlich Sonntag gelten. Denn ab kommender Woche werde ja wieder „mit milderen Temperaturen gerechnet“. Nur: Am Montag soll es regnen und mit minus zwei bis plus sechs Grad ist es immer noch zu kalt fürs Draußenleben.
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