Aufrüstung statt Zivilschutz in Polen: Polens Bunkermentalität
Die PiS-Regierung hat ihre Militärausgaben drastisch erhöht und bestellt wie wild Panzer und Raketenwerfer. Doch wo bleibt der Zivilschutz?
„Voller Genugtuung“ hatte Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak noch Anfang der Woche auf das Angebot Deutschlands reagiert, mit Eurofighter-Kampfflugzeugen und Patriot-Raketenabwehrsystemen dabei zu helfen, die polnische Ostgrenze und damit auch Nato- und EU-Grenze zu schützen. Vor Kurzem war eine Rakete rund sechs Kilometer hinter der Grenze in einem polnischen Dorf eingeschlagen. Dabei waren zwei Männer ums Leben gekommen. Auch Premier Mateusz Morawiecki, der wie Blaszczak der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) angehört, begrüßte die leihweise Patriot-Aufstellung.
Doch seit Mittwochabend ist das alles Schnee von gestern. PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, der schon seit Monaten gegen die Deutschen hetzt, um damit Punkte für die Parlamentswahl 2023 zu sammeln, lehnt das Angebot als „deutsche Propaganda“ ab. Lieber verzichtet er auf die Sicherheit Polens und der ganzen Nato als auf seine antideutsche Wahlkampfrhetorik.
Noch Mitte Oktober hatte Polens Vize-Innenminister Maciej Wąsik verkündet: „Wir bereiten uns auf die schwärzesten Szenarien vor.“ Gemeint war ein möglicher Angriff Russlands auf Polen. Zugleich beruhigte er: „Polen verfügt über 62.000 Schutzräume und Bunker.“ Doch seit dem Raketeneinschlag im polnischen Dorf Przewodów, sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, fragen Polens Bürger immer lauter: „Wo sind sie eigentlich, die Schutzräume für uns?“ und „Wieso haben die Sirenen nicht geheult? Wieso wurden die polnischen Grenzbewohner nicht gewarnt?“
Oberst Krzysztóf Przepiorka, der einst in der elitären Antiterroreinheit GROM kämpfte, fordert auf der Titelseite des Boulevardblatts Fakt: „Die Menschen müssen wissen, wie sie sich retten können. Wir brauchen ein umfassendes Sicherheitstraining für die gesamte Zivilbevölkerung.“
Atombunker zu Diskos
Kleinlaut musste Wąsik bekennen, dass sein Ministerium erst jetzt an einer App arbeite, die demnächst vor Bomben- und Raketendrohungen warnen und auch den Weg zum nächsten Schutzraum aufzeigen solle. Das Problem ist allerdings: Polen hat zurzeit keinen Zivilschutz. Kurz nach dem Überfalls Putins auf die Ukraine beschloss das polnische Abgeordnetenhaus, der Sejm, ein neues „Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes“, strich dabei aber 14 Gesetze, darunter auch das über den Zivilschutz.
Schlimmer noch: Schon vor knapp 20 Jahren hatten die Abgeordneten bei einer Gesetzesnovelle die Definition „Schutzraum“ aus dem Text entfernt. Dies hatte zur Folge, dass sich ab 2004 niemand mehr für die Instandhaltung der Schutzräume zuständig fühlte, die es ja offiziell nicht mehr gab. Selbst die Hochsicherheits-Atombunker verfielen mit der Zeit, andere Schutzräume wurden zu Diskos, Bars oder Kegelkellern umgebaut.
Wąsik ordnete nun eine Inspektion aller verbliebenen Bunker an. Im ganzen Land sollen Feuerwehrleute nicht nur klären, in welchem Zustand die Altbunker sind, sondern auch, ob sich eventuell die Metrostationen in Warschau oder die überall im Lande entstandenen Tiefgaragen und Keller unter den Neubauten als Schutzraum für die Zivilbevölkerung eignen könnten. Obwohl die nationalpopulistische PiS, die von 2005 bis 2007 und erneut ab 2015 bis heute die Regierung stellt, immer wieder laut vor den Gefahren der neoimperialistischen Großmacht Russland warnte, tat sie nichts für den Schutz der Zivilbevölkerung.
Nur der umstrittene Bildungsminister Przemysław Czarnek, der vor allem für seine nationalklerikalen Ansichten bekannt ist, brachte im März 2022 ein Zivilschutz-Gesetzesprojekt in den Sejm ein. Die zunächst von der liberalen Opposition heftig kritisierte Sicherheitserziehung von Schülern in der achten Grundschulklasse und der ersten Klasse an weiterführenden Schulen wurde inzwischen von allen gut angenommen.
Butangas oder Kohle-Grill?
Die 15-Jährigen lernen vor allem Erste-Hilfe-Maßnahmen kennen, wissen, wie ein zweiwöchiger Notfallvorrat für die eigene Familie auszusehen hat, kennen Gefahrensignale wie auch diverse Notrufnummern und können einen Fluchtrucksack für drei Tage packen. Nach Abschluss des auf ein Jahr angelegten Programms sollen sie auch mit einem Kompass und einer schlichten Straßenkarte zurechtkommen – für den Fall, dass das GPS-System oder überhaupt der Mobilfunk ausfallen sollten.
Die Kritik entzündete sich vor allem am Schießtraining mit Pistolen und Gewehren. Dass es sich lediglich um einen einzigen Ausflug auf einen Schießstand handelte – mit gerade mal 15 Schuss pro Person –, ging in der Aufregung unter. Wer einen Waffenschein erwerben will, muss die weiteren Schießstunden und insbesondere die Patronen selbst bezahlen. Dafür aber muss man sehr tief in die Tasche greifen und mehrere tausend Złoty auf den Tisch legen, was angesichts der hohen Inflation von fast 20 Prozent nur noch für die sehr gut Verdienenden erschwinglich ist.
Doch auch Erwachsene meiden inzwischen die Schießstände. Waren sie kurz nach Beginn des Angriffskrieges Putins auf die Ukraine geradezu überlaufen, herrscht dort inzwischen gähnende Leere. Stattdessen tauschen immer mehr Polen Tipps aus, welche und wie viel Essensvorräte man für einen Katastrophenfall im Haus haben sollte, wie viel Flaschen Mineralwasser und ob es sinnvoller ist, sich einen Kohlegrill für draußen zu kaufen oder doch besser einen Butangas-Campingkocher. Besorgte Bürger können sich seit April auf der Webseite des polnischen Innenministeriums die Broschüre „Sei bereit!“ runterladen und sich auch Videoclips zu verschiedenen Notsituationen ansehen.
In der Öffentlichkeit aber herrschte ein anderes Thema vor: Polens massive Aufrüstung und die teuren Waffenkäufe des polnischen Verteidigungsministers Mariusz Blaszczak. Mit dem Gesetz zur „Verteidigung des Vaterlandes“, das der PiS-Parteichef und für einige Monate auch Vizepremier Jarosław Kaczyński vorbereitet hatte, wurde das Rüstungs- und Verteidigungsbudget auf mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben.
213 Milliarden Euro für Rüstung
Die polnische Armee soll von derzeit rund 110.000 auf 250.000 Berufssoldaten anwachsen, und auch die Territorialen Streitkräfte, in der zurzeit 30.000 Freiwillige Dienst tun, sollen auf rund 50.000 Männer und Frauen aufgestockt werden. Noch läuft die Rekrutierung nur schleppend, da das Eintrittsgehalt von umgerechnet rund 855 Euro wenig attraktiv ist. Die sogenannten Militär-Picknicks mit eintägigen „Schnupperkursen“ für Interessierte finden daher auch vor allem entlang der polnischen Ostgrenze statt, wo die Angst vor einem Übergreifen des Krieges am größten ist.
Kurz vor den Wahlen im Herbst 2023 soll dann allerdings wieder eine große Militärparade in Warschau stattfinden. Die PiS will dann mit den neuesten Panzern, Flugabwehrraketen und Jagdfliegern zeigen, dass sie die wahre Verteidigerin Polens ist. So hat Blaszczak in Südkorea 1000 Panzer und knapp 700 unbemannte Sprengladungsträger gekauft, dazu noch 48 Schulungs-Jagdflieger. In Südkorea schätzen Medien, dass der polnische Auftrag über 20 Milliarden Dollar wert sein dürfte.
Dann wollte Blaszczak bei den US-Amerikanern 500 Raketenwerfer des Typs Himars bestellen. Die freuten sich zwar über den kauffreudigen Kunden, sehen sich aber nicht in der Lage, über mehrere Jahre hinweg nur für Polen zu produzieren. Im April kaufte Blaszczak – ebenfalls in den USA und anscheinend ohne jede Ausschreibung – 250 neue Abrams-Panzer, kurz danach bei den Italienern 32 Hubschrauber des Typs AW149 und schließlich noch bei der polnischen Rüstungsindustrie 600 schultergestützte Boden-Luft-Flugabwehrraketensysteme des Typs Piorun samt Munition.
Das linksliberale Nachrichtenmagazin Polityka geht davon aus, dass Polen bis 2035 über 1 Billion Złoty (umgerechnet rund 213 Milliarden Euro) für Rüstung und die Armee ausgeben wird. Kosten für den Zivilschutz sind nicht eingerechnet, da es diesen – zumindest zurzeit – in Polen nicht gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein