piwik no script img

Deutsches Desinteresse an ArmenienPeinliches Herumdrucksen

Tobias Schulze
Kommentar von Tobias Schulze

Der Bundestag rafft sich zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht zu einer eindeutigen Positionierung auf. Bei der Resolution von 2016 war das noch anders.

Menschen protestieren 2016 in Berlin mit armenischen Flaggen für die Anerkennung des Völkermords Foto: Markus Heine/imago

E rinnert sich noch jemand an die Armenien-Resolution? Sechs Jahre ist es her, dass der Bundestag die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich als Völkermord anerkannte. Explizit bedauerten die Abgeordneten die Rolle des Deutschen Reichs, das „trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten“ nichts gegen den Genozid unternahm, da es die Verbündeten in Istanbul nicht verprellen wollte. Im Bundestag ging der Beschluss 2016 mit nur einer Gegenstimme durch.

So immens die Solidarität mit den toten Armeniern auch war: Für weite Teile der deutschen Politik folgt daraus kein Engagement für die Lebenden. Eine Woche ist es her, dass Aserbaidschan das armenische Kernland militärisch angriff. Die aserbaidschanische Seite verbreitet selbst Aufnahmen besetzter Stellungen und geschändeter armenischer Frauenleichen. Inzwischen hält zwar seit mehreren Tagen eine Feuerpause. Zumindest die öffentlichen Reaktionen aus Berlin werden in Baku aber nicht den Eindruck hinterlassen haben, dass man von weiteren V­orstößen in Zukunft lieber absehen sollte.

Zusammenhalt von Demokratien gegen Völkerrechtsbrüche? Schluss mit beredtem Schweigen? Feministische Außenpolitik? Nach dem Angriff auf Armenien ist davon nichts zu spüren. Die Bundesregierung kann sich nicht mal dazu durchringen, Täter und Opfer der jüngsten Auseinandersetzung zu benennen. „Der Konflikt hat eine sehr lange Vorgeschichte und ist sehr komplex“, sagte eine Sprecherin des Außenministeriums am Montag nur.

Generell stimmt das. Die Genese der aktuellen Gefechte war aber nicht so kompliziert, dass man sich nach einer Woche noch um die Schuldfrage herumdrücken müsste. Die US-Regierung hat es geschafft, die aserbaidschanische Verantwortung zu benennen, ohne allzu sehr Partei für die armenische Regierung zu ergreifen. Dass es die Bundesregierung anders hält, ist moralisch falsch und strategisch kurzsichtig: Wer sich nur in ausgewählten Konflikten zu einer Positionierung aufrafft, kann im Kampf für eine regelbasierte Ordnung nicht glaubwürdig auftreten.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Guter Kommentar

  • Egon Bahr analysiert bereits 2013, also noch vor dem ‚Maidan‘, die machtpolitischen Spannungen zwischen den Weltmächten USA und Russland



    klar und nüchtern als „Vorkriegszeit“ und resümiert:



    „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

  • Sachlage ist, dass Gas aus Aserbaidschan bezogen werden soll. Dafür sind Maßnahmen gegen militärische Angriffe verzichtbar, damit alles auf einen anderen Angriffskrieg fokussiert werden kann. Es gibt keine wertebasierte Außenpolitik, sondern es gibt eine an den eigenen Interessen orientierte Außenpolitik, die Werte dann in Vordergrund stellt, wenn es opportun ist, und die ebenso Werte vergisst oder gegen sie verstößt, wenn dies opportun ist.

    • @PolitDiscussion:

      Da wird zum Abschlachten der Armenier geschwiegen, damit man gegen das Abschlachten der Ukrainer Waffen liefern kann. Es wäre dann wohl ehrlicher gewesen NS2 in Betrieb zu nehmen und weiter Gas aus Russland zu beziehen, statt den Teufel mit dem Belebub austreiben zu wollen.



      Es war übrigens Stalins Idee, das von Armeniern besiedelte Berg-Karabach Aserbaidschan zuzuschlagen. Das "Völkerrecht" verteidigt hier Grenzen, die der Terrorherrscher Stalin zog, m.E. eine absurde Situation.

      • @Dschou:

        nö, die Ukraine ist ja wohl ne andere Dimension. oder nicht? Es wird auch nicht geschwiegen zu den Angriffen Aserbaidschans. Pelosi war gerade in Jeriwan u die Amerikaner haben einen Waffenstillstand vermittelt.

        • @ingrid werner:

          @Ingrid Werner: Es geht aber im obigen Artikel um die Passivität der Regierung und des Bundestags und nicht um das, was Pelosi bzw die Amerikaner tun, oder ?

    • @PolitDiscussion:

      So ist es.

      Und so lange sich das System Putin in Russland an der Macht hält, wird man sich weiterhin darauf konzentrieren.