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Missbrauch in WermelskirchenEin Opfer war einen Monat alt

Der jüngst aufgedeckte Missbrauchsfall in Wermelskirchen verstört. Die EU-Kommission plant im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern ein EU-Zentrum.

LKA-Mitarbeiterinnen beim Pressetermin zum Start des Hinweistelefons im Landeskriminalamt NRW Foto: Christoph Hardt/imago

„Ich bin erschüttert und fassungslos. Ein solches Ausmaß an menschenverachtender Brutalität und gefühlloser Gleichgültigkeit ist mir noch nicht begegnet und so etwas habe ich mir auch nicht vorstellen können“, sagte der Kölner Polizeipräsident Falk Schnabel, als er am Montag über einen neuen Fall sexuellen Missbrauchs in Nordrhein-Westfalen berichtete.

Diese Worte fassen nur knapp zusammen, was fassungslos macht: Ein Mann aus Wermelskirchen soll mindestens zwölf Kinder, zehn Jungen und zwei Mädchen, sexuell missbraucht haben. Die Hälfte der Kinder sei nicht älter als drei Jahre gewesen. Unter den Opfern sollen fünf Säuglinge sein, darunter ein gerade einmal einen Monat altes Baby, und auch Kinder mit Behinderung.

Der 44-Jährige habe sich, so die Er­mitt­le­r:in­nen, als Babysitter angeboten und war dann mit den Kindern in den Wohnungen der Eltern. Manche Kinder soll der Mann nur ein oder zwei Mal betreut haben, andere Kinder bis zu drei Jahre lang in regelmäßigen Abständen. Die Taten sollen sich laut Ermittlungsbehörden zwischen 2005 und 2019 stattgefunden haben.

Darüber hinaus hat die Polizei gewaltige Datenmengen sichergestellt: etwa 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos, insgesamt 32 Terabyte Daten. Zudem hat der Beschuldigte über seine Taten, seine Opfer und die Neigungen anderer Täter Buch geführt – um nicht den Überblick zu verlieren, wie es am Montag hieß.

Den bisherigen Ermittlungen zufolge soll der Tatverdächtige keinem Pädophilenring angehören. Es soll aber Verbindungen zum sogenannten Missbrauchsskandal in Münster geben. Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass die mittlerweile zu langen Haftstrafen verurteilten Täter – ein sogenannter Haupttäter, dessen Mutter und drei Komplizen – zwischen 2018 und 2020 an Kindern in mindestens 29 Fällen sexuelle Gewalt verübt haben. Der mutmaßliche Täter aus Wermelskirchen soll dem „Täter aus Münster“ bei mindestens einer seiner Taten in einem Videochat zugesehen und sogar „Anweisungen“ zu Missbrauchshandlungen gegeben haben.

Reihe von Missbrauchsfällen in Nordrhein-Westfalen

Der Wermelskircher Fall reiht sich ein in eine „Serie“ von Missbrauchsfällen in Nordrhein-Westfalen: Lügde, Bergisch-Gladbach, Münster. Aber die Fälle beschränken sich keineswegs auf NRW. Erst am Montag präsentierte der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, die aktuellen Zahlen zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Demnach sind in Deutschland im Jahr 2021 mehr als 17.700 Kinder und Jugendliche Opfer sexualisierter Gewalt geworden, das sind durchschnittlich 49 Kinder täglich.

Die Zahlen steigen seit Jahren. Auch weil die Gesellschaft mittlerweile sensibilisierter gegenüber Gewalt an Kindern ist und mutmaßliche Taten öfter und schneller angezeigt werden. Zudem verfügt die Polizei über bessere Ermittlungsmethoden, sowohl technisch als auch logistisch. Münch schlussfolgert daraus: „Wir werden auch 2022 einen Anstieg der Fälle haben, weil nur jene Fälle in die Statistik kommen, die strafrechtlich behandelt wurden. Das bedeutet aber, das viele Taten ein Jahr zuvor passiert sind. Wir haben noch lange nicht die Spitze erreicht.“

Um Täter schneller und effizienter zu überführen und die ständig größer werdenden Datenmengen an kinderpornografischem Material im Netz effektiver auszuwerten, testet Niedersachsen gerade eine Software, die Bildmaterial sichtet und auswertet, sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius am Dienstagmorgen dem Deutschlandfunk. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) könnten laut der SPD-Politiker mehrere hundert Terabyte im Jahr überprüft werden, bei denen man mit händischer Auswertung nicht hinterher komme.

Zahl der Dateien im Netz steigt

Die Zahl der Dateien mit illegalem Inhalt im Netz steigt täglich, sie werden dupliziert und weiterverbreitet, in der Regel in geschlossenen Chats oder unter Verwendung besonders geschützter Netzverbindungen. Er­mitt­le­r:in­nen beklagen nicht nur die Größe der Datenmenge, sondern vor allem die fehlende Vorratsdatenspeicherung. Diese verhindert es, an die Personen hinter IP-Adressen heranzukommen, die Aufschluss über die Tä­te­r:in­nen geben.

Viele Hinweise zu Missbrauch und Kinderpornografie im Netz kommen aus den USA. Bis die Informationen hierzulande angekommen sind und ausgewertet werden können, vergehen in der Regel mehrere Tage. Verbindungsdaten werden aber nicht länger als sieben Tage lang gespeichert. In dieser Zeit ist es den Behörden meist unmöglich, die Fälle aufzudecken.

Die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus setzt auf mehr Prävention und Intervention, eine intensivere Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene. Darüber hinaus begrüßt sie den Vorschlag der EU-Kommission für ein EU-Zentrum zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt. Das Zentrum soll unter anderem die Anbieter von digitalen Diensten in deren Kampf gegen Missbrauch im Netz zu unterstützen und Präventionshilfen anzubieten. Konkret heißt das, dass die Anbieter das Missbrauchsrisiko, dem ihre Dienste ausgesetzt sind, selbstständig überwachen, bewerten und mindern müssen. Entsprechende Inhalte müssen demnach umgehend gelöscht und die Fälle gemeldet werden.

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6 Kommentare

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  • Da ich hier schon wieder den Begriff "Vorratsdatenspeicherung" lese erlaube ich mir die Frage, wie eine Vorratsdatenspeicherung (als tiefster anzunehmender Eingriff in die Grundrechte) die Ermittlungen vereinfachen kann, wenn doch die Kriminellen genau wissen, dass die Daten gespeichert werden.

    Wir sehen den Erfolg der Videoüberwachung bei Automatensprengungen (=NULL), Videoüberwachung an Bahnhöfen (nahe NULL), Lösch- bzw Sperrbemühungen bei Pornografie (=NULL)

    Vorratsdatenspeicherung klingt harmlos - aber es bedeutet in letzter Konsequenz z.B. auch, dass alle Telefongespräche aufgezeichnet werden, jede Strecke die wir mit dem Auto zurücklegen und auch jede Buslinie die wir nutzen.



    Und wenn man das bedenkt, wird einem auch klar, warum die Politik nicht aufhört und ständig zu belatschern Vorratsdatenspeicherung würde gegen Kindesmißbrauch helfen.

    • @Bolzkopf:

      Die Autorin hat das Problem in ihrem Kommentar unter der Überschrift "Den Fahndern eine Chance geben"



      taz.de/!5855057/ beschrieben.

      Wie kann es sein, dass Kommentator:innen die die Polizist:innen als inkompetent bezeichnen, die diesen Horror-Job machen?! Wie kann es sein, dass Vorratsdatenspeicherung allen Ernstes als "als tiefster anzunehmender Eingriff in die Grundrechte" im Kontext einer Berichterstattung über Verbrechen (wie sonst kann das bezeichnet werden?) bezeichnet wird, die Menschen für ihr gesamtes Leben schwerst traumatisieren?!



      Ich bin entsetzt über solche Kommentare hier.



      Liebe Kommentator:innen, Ihr solltet Euch wirklich mal fragen, wo eigentlich Eure Prioritäten und Werte liegen, wenn es das wichtigste überhaupt zu sein scheint, die Arbeit der Polizei – ja, der Polizei – zu erschweren auch dann wenn es um die Verfolgung schwerster Straftaten geht.

      • @PeteZ:

        Ich selbst würde sexualisierte Gewalt gegen Wehrlose als schwersten Angriff auf deren Grundrechte werten, die es mit allen gebotenen Mitteln zu verhindern oder zumindest zu verfolgen gilt.



        Manche hier scheinen diese Auffassung nicht zu teilen.

  • 6G
    6539 (Profil gelöscht)

    "Er­mitt­le­r:in­nen beklagen nicht nur die Größe der Datenmenge, sondern vor allem die fehlende Vorratsdatenspeicherung." - Ich denke die Polizei sollte aufhören zu versuchen, massiv in Grundrechte eizugreifen, um die eigene Inkompetenz zu kaschieren und sich die eigene Arbeit zu vereinfachen. Wäre auch die Frage, ob das wirklich die Ermittlerinnen fordern, oder das vielleicht doch eher nur eine Forderung des Polizeipräsidenten ist. netzpolitik.org/20...laert-werden-kann/

    • @6539 (Profil gelöscht):

      "beklagen nicht nur die Größe der Datenmenge, sondern vor allem die fehlende Vorratsdatenspeicherung"

      Interessant, - wird die Datenmenge denn durch die VDS kleiner ?

      • 6G
        6539 (Profil gelöscht)
        @Bolzkopf:

        Hej Bolzkopf, Du hast entweder den Text oder meine Kommentar nicht richtig gelesen. Das war ein Kommentar aus dem Text.