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Bericht des Stockholmer Sipri-InstitutsAtomare Abrüstung war einmal

Alle Nuklearmächte stocken ihre Arsenale auf – zu dem Ergebnis kommt das Forschungsinstitut Sipri. Das globale Risiko durch Atomwaffen steige.

Wettrüsten in Moskau: Interkonti­nentalrakete aus russischer Produktion bei Parade 2009

Stockholm taz | „Die Atommächte loben die Abrüstung, lehnen aber alle Vorschläge ab, sich zu konkreten Abrüstungsmaßnahmen zu verpflichten.“ So kritisierte das Jahrbuch 1968/69 des internationalen Friedensforschungsinstituts Sipri die Diskrepanz zwischen Worten und Taten anlässlich des 1968 geschlossenen Atomwaffensperrvertrags.

In der diesjährigen Ausgabe dieses Jahrbuchs, das am Montag veröffentlicht wurde, fällt das Fazit der Stockholmer FriedensforscherInnen noch weniger ermutigend aus: Es gehe mittlerweile gar nicht mehr um die Frage einer möglichen Reduktion der Atomwaffenarsenale. Vielmehr gebe es eindeutige Anzeichen dafür, dass die Welt vor einem neuen nuklearen Wettrüsten stehe.

„Ein sehr besorgniserregender Trend“, sei nicht nur, dass „alle Atomwaffenstaaten ihre Arsenale aufstocken und modernisieren“, konstatiert Wilfred Wan, Direktor des Sipri-Programms für Massenvernichtungswaffen. „Die meisten verschärfen auch ihre nukleare Rhetorik und haben die Rolle der Nuklearwaffen in ihrer militärischen Strategie hochgestuft.“

Ebenso wie die USA und Russland, die über 90 Prozent aller Atomwaffen verfügten, seien auch die übrigen sieben Nuklearwaffenstaaten dabei, neue Systeme zu entwickeln oder hätten entsprechende Absichten angekündigt. Es gebe „klare Anzeichen dafür, dass die Zeit der Reduzierungen, die die globalen Atomwaffenarsenale seit dem Ende des Kalten Krieges geprägt haben, vorbei ist“, sagt Hans Kristensen, dänischer Friedensforscher und Direktor des Nuclear Information Project des Bundes amerikanischer Wissenschaftler (Federation of American Scientists, FAS).

Statistischer Tiefstand nur scheinbar

Statistisch gesehen habe zwar die Zahl aller weltweit vorhandenen atomaren Sprengköpfe Anfang des Jahres 2022 mit 12.750 einen neuen Tiefstand erreicht. Zu Beginn des Jahres 2020 waren es noch 13.400, im Januar 2021 13.080 Sprengköpfe gewesen.

Aber offiziell ausgemustert worden sei im Wesentlichen nur das, was sowieso veraltet und schon seit Jahren nicht mehr einsatzfähig war. Und das, was da ausgemustert wurde, bewegt sich auch nur im Rahmen dessen, wozu sich die USA und Russland im New-START-Abkommen von 2010 ohnehin verpflichtet hatten.

Der Bestand der mit „hoher operationeller Bereitschaft“ unmittelbar einsatzbereiten Atomwaffen liegt dagegen mit rund 1.750 für die USA und 1.580 für Russland seit einigen Jahren nahezu unverändert auf gleichem Niveau. „Gleichzeitig haben sowohl die USA wie auch Russland umfangreiche und teure Programme im Gange, um diese zu ersetzen“ konstatiert Sipri. Das gelte sowohl für Atomsprengköpfe als auch für die Modernisierung von Raketen- und Bombenflugzeugträgersystemen sowie für die Produktionsanlagen für Atomwaffen.

Kehrtwende in Großbritannien

Auch China ist laut Sipri „mitten in einer bedeutenden Modernisierung und Erweiterung seines Nukleararsenals“. Satellitenbilder zeigten den Bau von über 300 neuen Raketensilos. Neue mobile Trägerraketen und ein zusätzliches U-Boot seien für Atomsprengköpfe einsatzbereit gemacht worden. Insgesamt schätze man den Bestand chinesischer Atomsprengköpfe auf rund 350. In Indien und Pakistan liege die Anzahl bei jeweils rund 160, in Nordkorea bei 20 und in Israel bei 90.

Frankreich verfügt demnach über 280 einsatzbereite Atomwaffen, Großbritannien über 120. Frankreich startete im Frühjahr 2021 ein Programm zur Entwicklung einer dritten Generation von Atom-U-Booten mit ballistischen Raketen. Das Budget für Wartung und Modernisierung des nuklearen Arsenals wurde von 23 Milliarden Euro für den vorangegangenen Fünfjahreszeitraum deutlich auf 37 Milliarden für den Zeitraum bis 2025 aufgestockt.

Die britische Regierung vollzog fast zeitgleich einen völligen Strategiewechsel. Nach einer rund 15 Jahre andauernden schrittweisen Abrüstungspolitik will das Land die Zahl der nuklearen Sprengköpfe wieder erhöhen.

Warnung vor Atomwaffen

Über Details und Hintergründe rätselt auch Sipri: Anders als Frankreich, das relativ transparent mit Informationen zur nuklearen Rüstung umgehe, „kündigte das Vereinigte Königreich an, keine Zahlen mehr über das operative Atomwaffenarsenal, die stationierten Sprengköpfe oder die stationierten Raketen des Landes offenzulegen“. Wobei man aber selbst „China und Russland wegen mangelnder nuklearer Transparenz kritisiert“.

„Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen und darf nie geführt werden“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der atomar bewaffneten ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats vom 3. Januar 2022. Trotzdem, so Sipri, „erweitern und modernisieren sie weiterhin ständig ihre Nukleararsenale“ und „scheinen die Relevanz von Nuklearwaffen in ihren militärischen Strategien zu erhöhen“. Die Konsequenz: „Das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen scheint heute höher als je zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges“, sagt Sipri-Direktor Dan Smith.

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12 Kommentare

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  • "„Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen und darf nie geführt werden“...Trotzdem, so Sipri, „erweitern und modernisieren sie weiterhin ständig ihre Nukleararsenale“..."

    Wer da einen Widerspruch sieht, hat offenbar immer noch nicht kapiert, wie Atomwaffen machtpolitisch funktionieren (also z. B. warum in so engem zeitlichen Zusammenhang dieses Credo beschworen und fleißig genau jene nukleare Einsatzbereitschaft hergestellt wird, die aus dem Credo mehr macht als ein paar warme, kreuznaive Worte). Oder er sitzt der völlig abwegigen Fehleinschätzung auf, "die Atommächte" seien ein einheitlicher, abgestimmt handelnder Block, der einander auch nur einen Millimeter weiter trauen könnte, als er die jeweils Anderen treten kann.

    Was auch immer es von beiden ist, von jemandem, der so wenig durchblickt, lasse ich mir nichts über Friedenspolitik vorbeten.

  • 9G
    93851 (Profil gelöscht)

    „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen und darf nie geführt werden“...

    Genau diese Aussage zeigt das absolut desaströs- vernichtende Umgehen von gewissen Menschen mit der Welt unter Federführung von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Höher, schneller,weiter; Ausbeutung aller Ressourcen; Wachstum ohne Grenzen..in allen Kapitalgesellschaften— der Wahnsinn schlechthin, um "zu guter letzt"mit einem "Riesenfeuerwerk" Leben auf der ganzen Welt zigmal komplett zu vernichten.



    "Konkret bedeutet dies, dass die Atomwaffenarsenale der Welt heute eine Gesamtsprengkraft von rund 7.500 Megatonnen (vergleichbar mit 7.5 Milliarden Tonnen TNT) haben. Auf die Weltbevölkerung aufgeteilt, würde eine Sprengkraft von über 1 Tonne TNT auf jeden von uns entfallen....



    Im 2. Weltkrieg sind 55 Millionen Menschen gestorben. Die gesamte verwendete Zerstörungskraft des 2. Weltkrieges gleicht 3 Megatonnen. Der heutige Overkill gleicht 2.500 Zweiten Weltkriegen."



    (vgl. www.atomwaffena-z....elt/overkill.html)

    Was hat das bitteschön mit Intelligenz zu tun? Keine Maus dieser Welt käme auf die Idee, sich auch nur – eine einzige – Mausefalle zu bauen. Sehr klug, wie ich finde, denn sie "weiß", vor lauter Schreck könnte sie selbst mal hineintappen. Der Mensch inszeniert sich mit Selbstschussanlagen zu Hauf in den eigenen "vier Wänden". Nur keine falsche Bewegung! Hund, Katze oder Wellensittich...fliegen gleich mit in die Luft, letztere vollkommen unschuldig. gewisse Menschen verfügen also über zigmal höhere Aggressionspotentiale als das gefährlichste Tier auf dieser Welt.



    Barbaren sind "ausgestorben"?

    Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser spricht von –allen– Menschen, die zur Menschheitsfamilie gehören. Es gibt sie also – intelligente Menschen mit Herzblut: Krieg ist keine Lösung. Verrückt, Psychosen sind nichts dagegen, mit welch wahnwitzigen Territorialansprüchen so manche Leute ihren Kopf und ihr Herz ausschalten.

    Leben ....– die noch?

  • In "Die letzten Kinder von Schewenborn" wird absichtlich offengelassen, wer die Welt in's Unglück gestürzt hat. Deutschland war von NATO und Warschauer Pakt zum atomares Schlachtfeld auserkoren.

    Im Atomwaffensperrvertrag haben sich Russland, USA, Großbritannien, China und Frankreich zur vollständigen(!) Abrüstung verpflichtet. Klappt so was von gar nicht, sanktionslos.

    Nordkorea, Israel, Pakistan und Indien sind wenigstens so ehrlich und sind gar nicht erst Mitglied, können also machen was sie wollen.

  • Sieht leider so aus als müsse man „ Die letzten Kinder von Schewenborn“ wieder zur Pflichtlektüre machen. Der russische Diktator stürzt die Welt ins Unglück und hinterher kann ihn keiner mehr feiern…

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Und nach dem Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine ist jedem Staatschef auf der Welt klar, das man Nachbarn mit Machtgelüsten sich am besten mit Atomwaffen vom Hals hält. Den eine Schutzgarantie von anderen Staaten (wie bei der Ukraine) ist im Zweifel nichts Wert.

    Von daher werden Staaten wie Taiwan, Iran, Polen, Südkorea oder Venezuela eigene Atomwaffen sehr attraktiv finden und versuchen in den nächsten Jahren zu bekommen.

  • Die Russen sind wirtschaftlich und auch militärisch ein Zwerg gegen Europa und den USA, sofern man die vielen Atomraketen nicht berücksichtigt.



    Das ist der einzige Grund, warum Putin weiterhin sein Unwesen treiben kann.

    Dem Beispiel will auch der Iran folgen sowie andere Staaten, die technisch dazu in der Lage sind.



    Den Mullahs ist nicht zu trauen. Deren Atomanlagen sollten lahmgelegt werden. Ich hoffe, die Israelis haben weiterhin ein wachsames Auge und agieren, wenn nötig.

    • @cuba libre:

      Am Beispiel Iran zeigen sich aber auch die Konsequenzen politischer Einflussnahme der USA seit 1953. Die USA haben die Demokratie dort aus Wirtschaftsinteressen mit einen von ihnen finanzierten und geplanten Putsch zerstört und einen brutalen Diktator auf den Thron gesetzt, der ihnen den Zugriff auf das Iranische Erdöl sicherte. Im ersten Golfkrieg (1980-1988, eine Million Opfer), der Irak überfiel den Iran, hatten die USA Saddam Houssein militärisch mit Waffenlieferungen hochgerüstet, weil es nach dem Sturz von Mohammad Reza Pahlav mit dem Zugriff auf das iranische Öl vorbei war . Es hat schon einen Grund, warum sich der Iran bedroht fühlt und Atomwaffen will.

      • @Andreas J:

        ...oder es liegt daran, dass Israel Atomwaffen hat, deshalb im Nahen Osten den Dicken Max spielt und frecherweise jedesmal völlig unverfroren die armen Mullahs bei ihrem Gotteswerk stört, endlich Israels wohlverdiente Vernichtung in die Wege zu leiten.

        So zumindest muss man die Rhetorik derer verstehen, die in der Vergangenheit ernsthaft das iranische Atomprogramm betrieben haben.

        • @Normalo:

          Ich habe da keinerlei Wertung vorgenommen. Es geht mir überhaupt nicht darum den Iran zu verteidigen. Ich hoffe der Iran wird nie Atomwaffen besitzen. Aber ohne Operation Ajax der USA 1953 währe es nie zu dem Mullahregime gekommen.

      • @Andreas J:

        Es kam nur ein kleiner Teil der Waffen des Iraks aus den USA der Großteil kam aus der Sovietunion und Frankreich, die USA haben die Sanktionen gegen den Irak aufgehoben.

        • @Machiavelli:

          Aus den USA kam auch viel Geld damit das Ganze auch finanziert werden kann. Und die Anlagen für das Giftgas was Saddam auch gegen den Iran einsetzte waren aus Deutschland.

          • @Andreas J:

            Der Großteil des Geldes kam aus den Golfstaaten.