piwik no script img

Militäranalysten in KriegszeitenDie neuen Virologen

Seit Beginn des Ukrainekrieges sind Militärexperten gefragte Gesprächspartner. Doch beenden könne einen Krieg nur die Politik, sagt Franz-Stefan Gady.

Derzeit sehr begehrter Gesprächspartner für Medien: Militärexperte Franz-Stefan Gady Foto: Jan Pfaff

Berlin taz | Jede Krise hat ihre Experten. So auch der Krieg. Mit Russlands Überfall auf die Ukraine drängt er mit Bildern von Panzern, Raketen, Bombern und millionenfachem Leid in die täglichen Nachrichten. Eine Gesellschaft, die sich in den vergangenen Jahren nur wenig mit dem Militärischen beschäftigt hat, studiert nun Frontverläufe, lernt verschiedene Panzerabwehrraketen zu unterscheiden, diskutiert Aufmarschstrategien und Nachschubprobleme.

Um zu verstehen, was bei den Kämpfen in der Ukraine eigentlich passiert, ist gerade das Wissen von Leuten sehr gefragt, die – wie Virologen vor Beginn der Pandemie – bisher nur einer Fachöffentlichkeit bekannt waren. Leute wie Franz-Stefan Gady.

Er ist Militäranalyst und Politikberater beim International Institute for Strategic Studies (IISS). Der Thinktank hat sich darauf spezialisiert, möglichst viele Daten zu den Armeen dieser Welt zusammenzutragen. Er veröffentlicht etwa Analysen zur russischen Militärreform, zum Drohnenkrieg und dem Einsatz künstlicher Intelligenz auf dem Schlachtfeld.

Gady wird mit seinen Einschätzungen zum Ukrainekrieg gerade in der Zeit und der Süddeutschen zitiert, er gibt dem Deutschlandfunk und tagesschau.de Interviews, hält Vorträge vor Bundeswehroffizieren und berät Bundestagsabgeordnete. Jeden Morgen veröffentlicht er auf Twitter einen Kurzüberblick über den Verlauf des Krieges.

Infos aus öffentlichen Quellen

Mit einem weichen österreichischen Akzent empfängt er einen an einem Dienstagvormittag in seinem Berliner Büro. Er ist in der Südsteiermark aufgewachsen. Den größten Teil seines Lebens habe er aber in den USA verbracht, sagt er. Er trägt einen grauen Anzug mit weißem Einstecktuch, 39 Jahre ist er alt.

Im Flur hängen große Infografiken, auf denen abgebildet ist, welche Länder wie viele U-Boote haben, wo die chinesische Armee ihre Divisionen stationiert oder wie weit die Raketen des Iran fliegen können. „Alle Informationen werden aus öffentlichen Quellen zusammengetragen“, sagt Gady. Akademische Literatur, soziale Medien, Presseaussendungen, Militärattachés und offene Quellen von Regierungsbehörden. Alles werde streng überprüft und verifiziert. Es sei verblüffend, was sich da so alles finden ließe.

Das Militär habe ihn schon immer interessiert, erzählt er. Mit 16 Jahren ging er an eine Highschool nach Maine, später studierte er internationale Beziehungen in Österreich und Japan, dann „Strategische Studien“ mit Schwerpunkt Militäranalyse an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. Anschließend arbeitete er in den USA bei einer NGO, die Vorschläge für eine nationale Sicherheitsreform formulierte, Vorträge im Pentagon inklusive.

Gady ist Reserveoffizier des österreichischen Bundesheeres. Er war als sogenannter eingebetteter Journalist bei Militäroperationen dabei und als Militärbeobachter in Afghanistan und im Irak, bei der US-Armee, der afghanischen Armee, bei rumänischen Truppen und kurdischen Peschmerga. Seine Rolle sei es gewesen, mit dem Blick von außen eine Einschätzung abzugeben. „Ähnlich wie ein Unternehmensberater.“

Er kann eindrücklich von einem Gefecht zwischen Peschmerga und dem IS erzählen. Er erinnert sich an das Pfeifen der Kugeln. „Wenn man das hört, sind sie wirklich nah.“ Es ist ihm wichtig zu betonen: Bei aller nüchternen Analyse von Waffensystemen sei ihm immer bewusst, was Geschosse und Granaten anrichten können. „Letztendlich geht es darum, eine große Anzahl von Männern so schnell wie möglich kampf­unschädlich zu machen“, sagt er. „Also zu töten oder zu verletzen.“ Es sei wichtig, dass auch er das nie vergesse.

Von seinem Schreibtisch kann er auf den Reichstag blicken, keine 200 Meter entfernt. Das IISS bekommt seine Mittel aus öffentlichen Geldern und von privaten Unternehmen, auch Rüstungsfirmen. 1958 in London gegründet, hat die Organisation Niederlassungen in Washington, Singapur und Bahrain. Vergangenen Herbst wurde mit Geldern der Bundesregierung das Berliner Büro eröffnet. Mit dem erklärten Ziel, den „strategischen Diskurs“ in Deutschland voranzubringen.

Man wolle mithelfen, mit einer klugen Verteidigungspolitik den Frieden zu sichern, sagt Gady. „Dazu braucht es ein gewisses Maß an Aufrüstung, um potenzielle Gegner abzuschrecken. Der Gedanke der Abschreckung geht in der deutschen Debatte oft verloren.“ Es ist eine andere Formulierung für die Maxime: Wenn du Frieden willst, rüste für den Krieg.

Am Morgen hatte er eine Gruppe Bundestagsabgeordnete zu Gast. Er hat ein Briefing zur militärischen Situation in der Ukraine gegeben. Über manche Nachfragen wunderte er sich. „Sie gingen in die Richtung: Der Ukraine schwere Waffen zu liefern, sei sinnlos.“ Mit dem Argument, dies würde das Leid nur verlängern.

Die Vorstellung, dass Kapitulation etwas per se Gutes sei, gehe in Deutschland vielleicht auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs zurück, sagt Gady. Damals sei es mutig gewesen, sich zu verweigern und nicht weiter für ein verbrecherisches System zu kämpfen. Das könne man aber nicht verallgemeinern.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Als Jugendlicher in der Südsteiermark hat ihn der Jugoslawienkrieg geprägt, das Kämpfen und Sterben unweit seiner Heimat. Der Einsatz der Nato, um die Belagerung Sarajevos schließlich zu beenden, beeindruckte ihn. „Ich habe da zwei Dinge mitgenommen: Militärische Macht kann Leben retten. Sonst wäre das Sterben immer weitergegangen. Und mich hat beeindruckt, wie die Amerikaner gesagt haben: Wir machen das jetzt, und ihr Europäer kommt mit oder nicht.“

In den vergangenen Jahren gehörte die russische Armee zu seinen Forschungsschwerpunkten. Ihr Vorgehen beim versuchten Sturm auf Kiew hat ihn aber überrascht. „Es waren zu viele Angriffsachsen, es war absehbar, dass es Versorgungsprobleme geben würde.“ Ein Land von der Größe der Ukraine mit 200.000 Soldaten einnehmen zu wollen, sei von vornherein unrealistisch gewesen. „Die politische Führung hat den russischen Streitkräften eine unlösbare Aufgabe aufgegeben, weil sie eine Generalmobilmachung vermeiden, zugleich aber möglichst große Teile okkupieren wollte.“

Verblüfft hat ihn auch die schlechte Koordination der russischen Streitkräfte, es fehlte am „Kampf der verbundenen Waffen“, wie das Militärexperten nennen. Dabei sollen sich die verschiedenen Teilstreitkräfte gegenseitig schützen, Panzer, Infanterie, mobile Flugabwehr, Fernaufklärung. Stattdessen konnte man auf Drohnenvideos russische Panzerkolonnen sehen, die ohne jede Absicherung in ein Dorf fuhren und von ukrainischer Artillerie zusammengeschossen wurden. „Die russischen Kräfte hatten den Kampf der verbundenen Waffen offenbar nicht trainiert – wohl auch, weil sie nicht damit gerechnet hatten, in der Ukraine einen hochintensiven Krieg zu führen.“

Der Gedanke der Abschreckung geht in der deutschen Debatte oft verloren

Franz-Stefan Gady, Militäranalyst

Die russische Armee setze auf eine überlegene Feuerkraft, die einzelnen Bataillonsgruppen führen viel mehr Geschütze mit als vergleichbare Nato-Verbände. „Zur russischen Militärdoktrin gehört es zu sagen, wir lösen unsere taktischen Probleme, indem wir den Gegner zerschießen“, sagt Gady. Das brauche aber sehr viel Munition, die Probleme habe man gesehen, als es den Ukrainern gelang, Nachschublinien abzuschneiden. Eigentlich sei Russlands Armee darauf ausgelegt, auf dem eigenen Gebiet einen Verteidigungskrieg zu führen.

Gady spricht detailreich und schnell, eine Faszination für Militärgeschichte klingt durch. Seine Freunde witzelten oft, dass er in jedem Gespräch auf Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs verweise, sagt er.

Bei der Analyse von Feldzügen gelte es verschiedene Faktoren zusammenzuführen: Wissen über die Waffen, geografische Gegebenheiten, Armeetraditionen und militärhistorisches Wissen, was etwas über den psychologischen Faktor sagen könne. „Napoleon meinte einmal, die Kampfmoral stehe zu den physischen Gegebenheiten im Verhältnis drei zu eins. Motivierte Soldaten können also unmotivierte Gegner immer besiegen, egal, welche technischen Fähigkeiten diese haben.“

Die erste Phase des Krieges hat die Ukraine gewonnen. Wie die meisten Experten sieht Gady nun einen langwierigen Abnützungskrieg im Osten. Dafür brauche die Ukraine schwere Waffen. „In der ersten Phase ging es darum, den weiteren Vormarsch zu stoppen – nun muss die Ukraine Gegenangriffe starten, wenn sie verlorenes Terrain zurückerobern will. Das geht nur mit gepanzerten Fahrzeugen.“

Gady betont immer wieder, dass es seine Rolle sei, eine militärische Einschätzung abzugeben. Alles andere sei Sache der Politik. Ähnlich wie die Virologen in der Pandemie zieht auch er eine Trennlinie zwischen seiner Expertise und politischen Entscheidungen. Nicht immer ist die Linie trennscharf.

Prognosen, wie lange der Krieg dauert, macht Gady nicht. „Wir wissen nicht, ob wir am Anfang, in der Mitte oder am Ende stehen“, sagt er. „Das entzieht sich militärischer Expertise. Einen Krieg zu beginnen und zu beenden, sind politische Entscheidungen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

23 Kommentare

 / 
  • Der Journalist und renommierte Nahost-Experte Markus Bickel beantwortete 2017 in einem Interview mit SPIEGEL ONLINE die Frage, ob durch Waffenlieferungen Konflikte eher stabilisiert werden mit den Worten "Schöne Umschreibung, ja, das trifft die Sache gut." Die Endverbleibsklausel ist realistisch ein praktisches Problem für die notwendigen Kontrollmaßnahmen, insbesondere bei Kleinwaffen und Munition. Die schaurig tödliche Effizienz deutscher Gewehre ist bekannt, weltweit geschätzt oder gefürchtet, mehr als 60 Prozent der Opfer, also verletzte oder getötete 'Weichziele', sind auf diesen Waffentyp Nummer Eins, Gewehre jeglicher Herkunft, zurückzuführen. Jetzt wird in wenigen Monaten alles komplett neu definiert, begründet und eine echte 'Zeitenwende' soll es sein. "Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten" - von Bertolt Brecht ergänze ich vorsorglich abwandelnd: Wirklich, ich lebe in sich verfinsternden Zeiten!" - noch vor wenigen Jahren lehnte in Emnid-Umfragen eine große Mehrheit der Deutschen Rüstungsexporte entschieden ab. Der Skepsis wird aktuell verbalartistisch Abhilfe geschaffen durch die neue Realität der Epoche nach der angekündigten Zeitenwende: Ausrüstungshilfe und Ertüchtigungsinitiative. Selbst Bertolt Brecht hatte in der Koloman Wallisch Kantate zwiespältig formuliert: "Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal den Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will; denn es wird kämpfen für die Sache des Feinds, wer für seine Sache nicht gekämpft hat." Für Frieden, Menschenrechte und Humanität einzutreten, ist auch kämpferisches Engagement mit einzukalkulierenden Niederlagen, die geteilt werden können, sozial verträglich.



    /



    www.rnd.de/politik...TBYEZM6W77AE.html/



    //



    www.bmvg.de/de/the...ung/ertuechtigung/



    //



    www.swp-berlin.org...-fuer-die-ukraine/

  • "Militärische Macht kann Leben retten" ... unter Strich wird sie wohl mehr Leben kosten, das wird in der Ukraine nicht anders sein als in allen historischen und gegenwärtigen Konflikten dieser Welt. Daher stimme ich Ihnen zu.

  • Für alle die sowas interessant finden, weil's hier praktisch nahtlos anknüpft, mit Bastian Giegerich grad jemand mit ganz ähnlichem Hintergrund dabei war und es wirklich schlechtere Diskussionen zum Thema gab: letzte Ausgabe "Wortwechsel", Deutschlandfunk Kultur.

    www.deutschlandfun...g-auswege-100.html

    Am Beispiel Jörg Baberowskis schon allein interessant zu hören, dass sich dieses komplizierte Russlandbild und das Zauderhafte dahingehend in Deutschland insbesondere weit durch die Geisteswissenschaften zieht, das ist nicht nur'n politisches Ding, ich glaube sogar es kommt aus den Geisteswissenschaften. Wie ja auch viele Politiker. Er sagt dort gar nicht viel Falsches, aber es ist die ganze Perspektive und die immer noch typische Naivität, die (für einen Fachmann) aufmerken lässt. Militäranalystisch allerdings hochwertiges Gespräch.

  • Leuten wie Franz-Stefan Gady sollte man einen Button ans Revers heften, mit der Aufschrift: Achtung! Ich kann den Krieg zwar erklären … aber wie man ihn beendet, weiß ich leider auch nicht.



    Gilt auch für manche Foristen hier.

    • @Abdurchdiemitte:

      Wenn es einfach wäre hätten wir Weltfrieden, man postfaktisch kann erklären wie Kriege enden aber der Weg zum Frieden aufzuzeigen wenn der Krieg noch läuft ist nahezu unmöglich. Putin will nicht verhandeln, daher liegt die Lösung wohl in einem Sieg der Ukraine.

      • @Machiavelli:

        Bin mir da überhaupt nicht sicher, @Machiavelli ... vielleicht wird umgekehrt eher ein Schuh daraus: weil es so einfach ist, drauflos zu schlagen, haben wir keinen Weltfrieden. Und dass es einfach ist, sehen wir ja am Beispiel Putin ... und das trotz nuklearer Option, was einigermaßen bedenklich stimmt.



        Früher hieß es doch immer, das "nukleare Gleichgewicht des Schreckens" verhindere ernstere Konflikteskalationen. Und jetzt erscheint es sogar denkbar, das nicht nur Chemiewaffen - in Syrien schon eingesetzt - ins Spiel kommen könnten, sondern auch sogenannte tactical nukes.



        Mich persönlich bestätigt das allerdings in meiner grundsätzlich pazifischen Haltung, denn die Hemmschwelle für den Einsatz immer schrecklicherer Waffen sinkt immer weiter ... wenn das einmal geschieht, kann - befürchte ich - die Lage nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden, weite Teile der Erde werden dann nicht mehr bewohnbar sein.



        Wenn es so weit ist, wird es auch keine Rolle mehr spielen, wer die erste Rakete mit Nuklearsprengkopf abgeschossen hat.

        • @Abdurchdiemitte:

          glaube ich nicht Jemen bspw. ist so ein Fall ich kann mir nicht vorstellen wie in dem Land jemals ein funktionierender Frieden entstehen soll. Das Land ist bettelarm, hohe Geburtenrate, starke Stammeskultur, Patriachat, Islamisten, religiöse Konflikte. Dauerhafter Frieden hier ist nahezu unmöglich.

          Gewalt ist einfach ja, aber nur auf niedriger Schwelle, moderne Kriege sind hochkomplex und wie wir am Scheitern Russlands sehen auch keine Lösung.

          Ich denke Nuklearkrieg würde selbst bei einem totalen Sieg der Ukraine (Eoerbung Donbas und Krim) nicht drohen.

  • "...Die Vorstellung, dass Kapitulation etwas per se Gutes sei, gehe in Deutschland vielleicht auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs zurück, sagt Gady. Damals sei es mutig gewesen, sich zu verweigern und nicht weiter für ein verbrecherisches System zu kämpfen. Das könne man aber nicht verallgemeinern.."

    Ich konnte nirgends lesen, wann oder wo Herr Gady selbst etwas mit der Waffe in der Hand verteidigt hat. Wann hat er denn persönlich zum letzten Mal sein Leben aufs Spiel gesetzt.... natürlich für eine gute Sache?

    Nun kann man sagen, das kann man nicht so klein betrachten, da muss man schon die größeren Zusammenhänge im Blick haben...

    Fakt ist aber, dass dass das Sterben im Krieg sehr individuell ist.



    Da sterben nicht 20 oder 30tausend sondern da sterben einzelne Väter, Mütter, Brüder, Söhne, Enkel...



    Alle mit ihrer eigenen Geschichte, mit ihren Träumen, Ängsten, die meisten mit dem Wunsch zu leben und nicht mit dem Wunsch für irgendein übergeordnetes Ziel zu sterben.



    Aus der Sicherheit eines Instituts, einer Redaktion, in Talkrunden oder vom heimischen Sofa aus lassen sich Kriegsstrategien am leichtesten entwickeln. Mit einem Glas Wein vorm Fernseher fällt es da schon mal leichter Kapitulation für einen Irrweg zu halten.

    Also ich persönlich hänge sehr an meinem Leben, zumal ich davon ausgehe, dass ich nur dieses eine habe.



    Man mag es feige oder verantwortungslos nennen, aber ich persönlich würde eher dazu neigen mein eigenes Fell und auch dass meiner Familie zu retten, anstatt mein Leben zu opfern. Lieber kapitulieren oder flüchten, als irgendwo als toter Held in einem Massengrab verscharrt zu werden.

    Das hört sich sicher nicht so edel an wie: kämpfen bis zum letzten Blutstropfen.



    Sicher kann man sagen, dass sich dann immer die Aggressiven durchsetzen... Aber vielleicht ist das ja auch heute - trotz der Verteidigungskämpfe - schon so.

    • @Bürger L.:

      Im Krieg zwischen der Sowjetunion und Finnland wurde Frieden ab 12:00 Uhr vereinbart. Um 11:45 Uhr hat Russland das größte Bombardement des gesamten Krieges auf die Finnen losgelassen.



      In Tschetschenien sind die Russen bereits nach dem militärischen Sieg durch die Wohnviertel gegangen und haben Männer entführt und zu Tode gefoltert sowie Frauen vergewaltigt.



      Auch im aktuellen Krieg wurden in eroberten Ortschaften durch die Russen unter anderem Rentner abgeschlachtet, Frauen und Mädchen vergewaltigt und Kinder entführt. Selbst pro-russische Ukrainer wurden tot in ihren geplünderten Wohnungen aufgefunden.

      Das einzige, was also das Leben retten könnte, ist die Flucht. Selbst die ist aber nicht sicher, wie man an Kinderleichen in mit Kugeln durchlöcherten Fluchtfahrzeugen sehen kann. Hinzu kommen diejenigen, die nicht fliehen können und die, die es nicht wollen.

      Und zu gut allerletzt: Die Ukrainer entscheiden, ob, wann und wie sie kapitulieren oder weiterkämpfen. Sie stellen es so dar, als ob deutsche Talkshows die Weiterführung des Krieges beeinflussen würden. Die Russen greifen weiter erbarmungslos an. Die Ukrainer wollen für ihre Freiheit und ihre Leben kämpfen. Das ist es, was zählt.

      • @Devil's Advocate:

        "Die Ukrainer wollen für ihre Freiheit und ihr Leben kämpfen".



        Dagegen ist ja nichts zu sagen.



        Die Frage ob wirklich alle Ukrainer ihr Leben aufs Spiel setzen möchten um den Russischen Angriff abzuwehren, wäre klarer zu beantworten, wenn die Männer auch die Freiheit hätten mit Frau, Kindern oder Eltern auszureisen.

        Ich habe ganz bewusst vom individuellen Leben und Sterben gesprochen. Das ist eine völlig andere Ebene als die der Strategen in sogenannten Denkfabriken.



        Die von ihnen aufgeführten Greultaten sind mir bekannt. Das ändert nichts daran, dass es durchaus eine Option sein kann, irgendwann zu kapitulieren um das Töten und Sterben zu beenden.

  • Wo ist der dazugehörige Podcast? Oder traut man sich das noch nicht?

  • Endlich: die Stimme der Rüstungsindustrie in der TAZ. Hat mir gerade noch gefehlt.

  • Sehr interessantes Interview, danke.

    Was mich beunruhigt ist, dass so etwas von der Rüstungsindustrie finanziert wird.

    Naheliegend, ja. Trotzdem ist es der fetteste Elefant im Raum: Was haben wir wohl davon, wenn es unermesslich reiche Akteure gibt, die ein vitales interesse daran haben, dass es mit dem Krieg nie aufhört?

    Das geht beim momentanen Kriegsgebrüll leider ein wenig unter, wie mensch das auch in diesem Forum sehen kann.

    • @tomás zerolo:

      "Kriegsgebrüll"? Das zieht das Leid der Ukrainer und die Hilfsbereitschaft des Westens ins Lächerliche.

      Natürlich profitiert die Rüstungsindustrie derzeit. Weder Russland noch die Ukraine haben ein Interesse daran, diesen Krieg in die Länge zu ziehen. Ab einem gewissen Punkt wird einem der beiden "die Luft ausgehen" (in welcher Form auch immer), da werden auch Superreiche nichts dran ändern können. Die werden ohnehin mehr Interesse haben, an den Rohstoffen einer Ukraine als Teil des Westens zu profitieren, weil a) beeinflussbar und b) weniger Risiko.

      • @Devil's Advocate:

        Die Superreichen werden jedenfalls zu den Gewinnern des Krieges zählen … das steht schon jetzt fest, gleichgültig, wie der weitere Kriegsverlauf sein wird und welche der beiden Seiten siegreich aus dem Konflikt hervorgehen wird (ich denke aber, am Ende wird es keinen Sieger geben, im besten schlechten Fall eine Pattsituation bzw. die Wiederherstellung des Status Quo, der wiederum schon den Keim für den nächsten Krieg in sich birgt).



        Opfer dieses Krieges wird es nicht nur in der Ukraine geben, sondern auch im globalen Süden, v.a. in Afrika, das den Preis für diesen Krieg in der Ukraine mitbezahlen muss. Wir hier im Westen werden noch relativ ungeschoren davonkommen.

  • "Frieden schaffen ohne Waffen" hat man sich getraut einzufordern, weil es hier möglich ist. Sollen mal in Russland probieren und dort anbieten, unser wehrloses Kommando abzugeben.

  • Irgendwas zwischen naivem Pazifismus und blindwütiger Aufrüstung.

  • Ganz frisch bin ich auch nicht mehr, doch bemühe ich mich mitzuhalten. Die letzten Jahre überfordern mich aber einfach.



    Erst war ich Klimatologe, dann Virologe und Epidemiologe und jetzt soll ich Militärexperte werden. Dabei hätte mir Bundestrainer eigentlich gereicht.

    • @Nairam:

      Sehen Sie, da bin ich froh, dass ich wenigstens mit Fußball nichts am Hut habe.😀

  • "Militärische Macht kann Leben retten." Das ist, bezogen auf den Konflikt in der Ukraine ein gewagtes Statement, denn der Ukraine schwere Waffen zu liefern, kann auch nach hinten los gehen. Oder?

  • So schwer es einem auch fällt, auch unsereins muss sein jahrzehntelanges Mantra 'Frieden schaffen ohne Waffen' schlussendlich hinterfragen und wohl auch ad acta legen. Aber es ist unausweichlich und man muss sich der Realität stellen, auch wenn es einem als



    'Linker und Antimilitarist (oder was auch immer) erstmals sehr schwer fällt.



    Man war wohl zu naiv gewesen gegenüber den Entwicklungen in der Welt und hat an das Gute im Menschen geglaubt, dabei aber die Realität aus den Augen verloren. Pippi Langstrumpfs Wahlspruch, "ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt", so erstrebenswert aber leider auch naiv er ist, konnte leider nicht aufgehen.



    Putin hats einem jetzt wieder vor Augen geführt.



    Und die Ukraine muss es ausbaden. Es ist einfach nur zum Kotzen.



    Was tun. Ich weiss es nicht....

  • puh. ich finde schwierig, virologie (oder zum beispiel auch klimawissenschaft?) und militäranayltik in einen topf zu werfen.

  • Wenn es nicht mehr um die Frage geht, ob es Kriegstreibende oder Kriegstreiber:innen heißt, sondern um das eigene Leben oder gar das Überleben einer der nuklearen russischen Bedrohung ins Auge schauenden Menschheit, dann ist es von existentieller Bedeutung, sich mit militärischen Stragien, Waffengattungen und Abschreckung durch Aufrüstung zu beschäftigen.