Übergriffe gegen flüchtende Frauen: Zwischen Panikmache und Gefahr
Viele warnen Frauen aus der Ukraine vor sexualisierter Gewalt. Fälle gibt es, aber auch eine Diskrepanz zwischen Horrormeldungen und Datenlage.
Eine Woche nachdem die ersten russischen Bomben auf Kiew gefallen sind, beschwert sich ein Mann im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs: „Ich stehe jetzt seit zwei Stunden hier und keiner will mitkommen.“ Ein Pappschild baumelt um seinen Hals. Darauf steht: 1 Zimmer, 2 Personen, Englisch/Russisch. Doch jedes Mal, wenn die Helferin mit der gelben Warnweste vor das Absperrband tritt, gleitet ihr Blick über den alleinstehenden Mann hinweg. Durch ein Megafon ruft sie: „Zwei Frauen, ein Kind, ein paar Nächte!“ Der Mann meldet sich ein letztes Mal. Wieder kommt niemand mit zu ihm. Frustriert geht er.
Zbigniew Lasocik, Universität Warschau
Zu diesem Zeitpunkt kursieren bereits online Warnungen, alleinstehende Männer würden mit zwielichtigen Angeboten am Hauptbahnhof rumlungern. Ein Post auf Instagram zeigt einen Mann Mitte 30, blonder Bart, randlose Brille, Jeans und Sportjacke. Darüber wurde ein Text gelegt: „Wir haben gerade gesehen, wie dieser Mann sehr aggressiv versuchte, eine 14-Jährige und ihre Freundin zu überreden mitzukommen, bis wir eingegriffen haben.“ Der Post wird so oft geteilt, dass sein Ursprung in einer endlosen Kette aus Reposts versandet. Wo und wann sich dieser Vorfall ereignet haben soll und wer ihn ursprünglich beobachtet haben will, geht aus dem Post nicht hervor. Am Tag darauf warnt die Bundespolizei vor unseriösen Angeboten insbesondere alter Männer am Berliner Hauptbahnhof.
Die Auffangstruktur wird zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich ehrenamtlich gestemmt. Freiwillige Helfer:innen koordinieren die Bettenbörse, vermitteln Shuttles und Privatunterkünfte. Mit der sogenannten Welcome Hall wird diese Struktur am 8. März abgelöst. Vor dem Berliner Hauptbahnhof steht jetzt ein großes weißes Zelt, organisiert von der Stadtmission. Unter Wachschutz können sich bis zu 1.000 Ankommende täglich hier aufhalten, schlafen, sich sortieren.
Private Schlafplätze können nur noch über Plattformen von Nichtregierungsorganisationen angeboten werden. Dort werden die Anbieter:innen registriert und ihre Identität erfasst. Die Warnungen vor Menschenhandel und Zwangsprostitution reißen trotzdem nicht ab. In der ersten Aprilwoche titelte eine großer öffentlich-rechtlicher Sender: „Ukrainischen Frauen droht sexueller Missbrauch und Menschenhandel“. Eine große Tageszeitung: „Europarat: Menschenhändler bedrohen Ukraine-Flüchtlinge“. Konkrete Fälle liegen den Medienberichten nicht zugrunde.
Sicherheitsbehörden nehmen Gefahr ernst
309.868 Menschen sind seit dem Angriff auf die Ukraine vor mehr als einem Monat bis Mitte vergangener Woche nach Deutschland geflohen. Diese Zahl wird in einer internen Lagedarstellung des Innenministeriums genannt, die der taz vorliegt. Aus dem Dokument geht auch hervor, dass die Sicherheitsbehörden die potenzielle Gefahr von Menschenhandel beobachten und ernst nehmen. Länder- und Bundespolizeien kooperierten eng, außerdem würden Ankommende wie Helfende sensibilisiert und bei Verdachtsfällen Platzverweise ausgesprochen, heißt es darin. Man habe allerdings noch keine Erkenntnisse zu Menschenhandelsdelikten oder ausbeuterischen Handlungen.
Den Sicherheitsbehörden in Deutschland ist aktuell also kein Fall organisierter Kriminalität bekannt, bei dem geflüchtete Frauen oder Kinder aus der Ukraine im Kontext der Flucht vor dem aktuellen Krieg verschleppt, genötigt oder missbraucht wurden. Sexualisierte Gewalt und Übergriffe gibt es aber trotzdem. In einem Schreiben des Innenministeriums vom 5. April, das der taz vorliegt, heißt es: „Es wurden erste Straftaten unter Ausnutzung der vulnerablen Situation gegen die sexuelle Selbstbestimmung zum Nachteil ukrainischer Vertriebener festgestellt.“
Acht Vergewaltigungen gemeldet
Eine weitere Quelle konkretisiert der taz gegenüber: Bis Anfang April seien den Sicherheitsbehörden acht Vergewaltigungen gemeldet worden und es habe 15 Feststellungen mit Sexualdelikten vorbestrafter Männer gegeben, die am Hauptbahnhof anwesend gewesen sein sollen. Hinweise von NGOs oder Helfer:innen seien bisher ins Leere gelaufen. Nichtregierungsorganisationen warnen weiterhin. Auf einem Flyer, der unter anderem am polnischen Grenzpunkt Medyka verteilt wird, steht: „Liebe Frau aus der Ukraine, willkommen in Polen! Du kannst dich auf unsere Hilfe in dieser schweren Zeit verlassen.“
Dann etwas weniger fett gedruckt darunter: „Aber bitte, sei vorsichtig! Es gibt Menschen, die von deinem Leid profitieren wollen und dich statt an einen sicheren Schlafplatz an einen Ort bringen, der dir schaden wird. Nimm keine Fahrangebote von unautorisierten Fahrern an. Sie könnten Menschenhändler sein, die dich ausbeuten wollen.“ Darunter befinden sich die Telefonnummer der Polizei sowie die der internationalen Beratungsstelle gegen sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel „La Strada“.
Zu früh für Daten
Professor Zbigniew Lasocik hat dieses Flugblatt, das in weiteren Sprachen auch schon in der Ukraine verteilt wird, mitentwickelt. Er arbeitet am „Human Trafficking Studies Center“, einem an die Politikwissenschaften angegliederten Forschungsprojekt der Universität Warschau. Auch den polnischen Sicherheitsbehörden lägen keine Fälle organisierter Kriminalität in Bezug auf Menschenhandel geflüchteter ukrainischer Personen vor, sagt er im Gespräch mit der taz.
Aus seiner jahrelangen Forschung zu Menschenhandel und Zwangsprostitution schließt er in Bezug auf die Ukraine aber: „Es ist noch viel zu früh dafür. Während der Fluchtbewegung aus Syrien im Sommer 2015 hat man erst Monate, teils Jahre später Strukturen von Menschenhandel aufdecken können.“ Er ist sich sicher, dass auch dieser Krieg von organisierter Kriminalität an den Grenzen begleitet wird, „alles andere wäre wider die Geschichte jedes Krieges“. Gleichzeitig sagt er, dass die Aufklärung über potenzielle Gefahren der Flucht sogar schon vor der Grenze, in den Erstaufnahmestellen in Polen und in anderen Nachbarstaaten der Ukraine sehr gut funktioniere.
Ausbeutung im Niedriglohnsektor
Dem Professor sei nur ein Fall durch eine Hilfsorganisation zugetragen worden. Mit diesem Fall einer Frau, die gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen genötigt worden sein soll, ist es wie mit vielen Erzählungen, die an der Grenze kursieren: Professor Lasocik kann den Fall nicht überprüfen, die Frau wolle aus Scham nicht mit ihm reden und habe aus diesem Grund auch noch keinen Kontakt zur Polizei aufgenommen. Scham, die Angst, als Opfer stigmatisiert zu werden, und der Zweifel an Behörden und Justiz seien oft Gründe, weshalb potenzielle Spuren nicht verfolgt werden könnten, sagt Lasocik. Er ist sich dennoch sicher: „Wo Krieg und Elend herrscht, wird es immer Menschen geben, die sich daran bereichern.“
Wie real die Gefahr von Ausbeutung geflüchteter Menschen ist, legte eine Recherche des ARD-Politikmagazins „Panorama“ vergangene Woche offen: Der Fleischkonzern Tönnies versuchte, ebenfalls mit Flyern, den Ankommenden unterirdische Arbeitsangebote schon an der polnisch-ukrainischen Grenze zu machen. Dass Ukrainer:innen im Niedriglohnsektor, insbesondere in der Pflege, schon vor dem Krieg angeworben und ausgebeutet wurden, legten zahlreiche Recherchen während der Coronapandemie offen. Die Gefahr, an der Grenze in zwar legale, aber dennoch verheerend prekäre Arbeitsverhältnisse zu rutschen, scheint aktuell akuter als die der Verschleppung durch organisierte Menschenhändler.
Diskrepanz zwischen Panikmache und Datenlage
Dennoch will das Bundeskriminalamt nach eigenen Angaben eine Sondereinheit auf den Weg bringen, die sich ausschließlich mit der Gefahr der organisierten sexuellen Ausbeutung von Geflüchteten aus der Ukraine beschäftigt. Man wolle außerdem, so heißt es in einem internen Dokument, „im Rahmen der diesjährigen DEU G7-Präsidentschaft (…) eine der Prioritäten des BMI auf den Bereich der Menschenhandelsbekämpfung“ legen.
Obwohl die Diskrepanz zwischen Horrormeldungen, Warnungen und der tatsächlichen Datenlage groß zu sein scheint – deutsche Behörden, Wissenschaft und freiwillige Helfer:innen begegnen der Bedrohung sexueller Ausbeutung mit Ernsthaftigkeit. Denn die Gefahr der sexualisierten Gewalt, ob sie organisiert oder als Einzelfall innerhalb privater Unterkünfte auftritt, bleibt ein Problem, das potenziell jede Frau aus der Ukraine betreffen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen