Lockdown in Schanghai: Eine Stadt im Stillstand

26 Millionen Einwohner der chinesischen Metropole sind praktisch zu Hause eingesperrt. Über allem: die Angst, in einem der Covid-Lager zu landen.

Ein Mann mit blauer Schutzkleidung spricht in ein Megafon vor einem Haus

Die Ein­woh­ne­r:in­nen von Schanghai sind alle zu Hause eingesperrt Foto: Chen Jianli/dpa

PEKING taz | Vor der Pandemie hat wohl kaum eine Stadt in Asien junge Abenteuersuchende aus aller Welt derart magisch angezogen wie Schanghai. Auch Alessandro Pavanello ist dem verlockenden Ruf der Metropole gefolgt. Dort lebt er bereits seit Jahren. Es ist ein sorgenfreier, hedonistischer Alltag: Tagsüber arbeitet der Italiener in einer Musik­agen­tur, nachts tingelt er als DJ durch die Clubs der Stadt. Doch seit dem 26. März ist das privilegierte Leben des jungen Mannes mit Dreitagebart und Nasen­piercing mit einem Mal vorbei.

„Ich kann euch mein Zimmer zeigen“, sagt Pavanello gut gelaunt in die Smartphone-Kamera, sein Gesicht wird von einer roten Maske verdeckt. Mit einem 360-Grad-Schwenk filmt er seine Umgebung: eine riesige Messehalle, größer als ein Flugzeughangar, randvoll gefüllt mit Dutzenden Bettenreihen. Hier muss er nun leben, seit sein Coronatest positiv ausgefallen ist: auf seinem kargen Campingbett neben Tausenden Infizierten. Einige von ihnen haben Planen aus Pappe über ihre Liegen montiert – ein Versuch, inmitten all des Lärms etwas Privatsphäre und Ruhe zu ergattern.

„Fangcang“-Spital heißen die Quarantänezentren im Chinesischen. Was niedlich klingt, ist jedoch der derzeitige Albtraum eines jeden Schanghaiers: Sämtliche der mittlerweile rund 200.000 Coronafälle werden in solche Massenunterkünfte abtransportiert, um die Erkrankung „auszukurieren“.

Dabei sind die hygienischen Zustände katastrophal: Genau wie Alessandro Pavanello berichten die meisten Patienten von überquellenden Plumpsklos, dreckigen Böden und praktisch keiner medizinischen Behandlung.

Festhalten an Null-Covid

Während die Welt wohl oder übel mit dem Virus zu leben gelernt hat, hält die Volksrepublik China weiter an ihrer Null-Covid-Strategie fest. Das bedeutet, das Infektionsgeschehen soll vollständig eingedämmt werden – ganz egal zu welchem Preis. Wie hoch die Kosten ausfallen, wird in Schanghai so deutlich wie selten zuvor: Seit Wochen ist die Mehrheit der 26 Millionen Einwohner in ihre Wohnungen eingesperrt, die Tore ihrer Apartmentsiedlungen sind mit schweren Stahlschlössern verriegelt.

Ohne Zugang zu Supermärkten oder Liefer-Apps sind die Leute vollkommen abhängig von staatlichen Essenslieferungen, die jedoch nur spärlich ankommen: Viele Bewohner berichten von einer einzigen Plastiktüte mit halb abgelaufenem Gemüse pro Woche. Wer seine Vorratskammer nicht vor dem Lockdown aufgefüllt hat, muss nun also in Chinas wohlhabendster Stadt existenzielle Not fürchten, weil die eigenen Nahrungsmittel zur Neige gehen.

Es wird immer offensichtlicher, dass Chinas einst erfolgreicher Antiviruskampf angesichts von Omikron vollkommen aus dem Ruder gelaufen ist. Das Prinzip von Null Covid war stets ein gesellschaftlicher Deal, bei dem die Opfer einer Minderheit im Lockdown das uneingeschränkte Leben der Mehrheit möglich machte. Als das Coronavirus noch weniger ansteckend war, ging der Plan auf: Mehrere Monate lang registrierten die Behörden im Land praktisch keine Infektionen. Zudem standen damals der Bevölkerung noch nicht ausreichend Vakzine zur Verfügung, um sich zu schützen. Dementsprechend erschien die Strategie vielen Chinesen als angemessen und rational – zumal sie in einem Land leben, das zwar 1,4 Milliarden Menschen beherbergt, aber in vielen Provinzen nur über ein rudimentäres Gesundheitssystem verfügt.

Doch im Frühjahr 2022 ist das dogmatische Festhalten an Null Covid längst nicht mehr die Lösung, sondern Teil des Problems geworden. Man kann nur spekulieren über die Dunkelziffer an „Kollateralschäden“, die die rigiden Lockdowns verursachen – von Suiziden bis zu Asthmapatienten, die es aufgrund der Ausgangssperren mehr rechtzeitig ins Krankenhaus schaffen. Hinzu kommt all die sinnlose Gewalt der Staatsmacht, aufgenommen mit den Smartphones wachsamer Anwohner: Nachbarschaftskomitees prügeln Haustiere auf offener Straße nieder, aus Angst, diese könnten das Virus verbreiten. Polizisten in Seuchenschutzanzügen schleppen psychisch Verwirrte mit roher Gewalt zu den verpflichtenden PCR-Tests. Und Kleinkinder, die sich infiziert haben, werden gewaltsam von ihren Eltern getrennt.

Die Regierung trifft auf Widerstand

Wie ernst die Lage ist, lässt sich an den Reaktionen der diplomatischen Vertretungen ablesen: Die deutsche Botschaft riet unlängst allen Landsleuten in China, angesichts blitzartiger Lockdowns einen mehrwöchigen Vorrat an Nahrungsmitteln und Trinkwasser anzulegen. Das US-Konsulat in Schanghai ging sogar noch einen Schritt weiter: Es ordnete zu Beginn der Woche die Evakuierung sämtlicher nicht essenzieller Mitarbeiter an.

Es braucht wenig Fantasie, um zu erkennen, dass es der Parteiführung um weitaus mehr geht als nur die öffentliche Gesundheit: Seit zwei Jahren hat die Propaganda die „erfolgreiche Null-Covid-Strategie“ als Beweis dafür angeführt, dass das chinesische System dem Ausland überlegen ist. Nun ist es zunehmend schwierig, den eigenen Kurs zu korrigieren. Doch gleichzeitig haben geschlossenen Grenzen und umfassende digitale Überwachung auch einen willkommenen Nebeneffekt: Die Regierung kann damit die „gesellschaftliche Stabilität“ erhöhen, indem sie ihre Bevölkerung kontrolliert und vom Ausland abschneidet.

Doch in Schanghai stößt sie damit auf großen Widerstand. In Protestvideos zeigt sich, dass sich der angestaute Frust immer offener Bahn bricht: In Sprechchören aus den Fenstern von Apartmentsiedlungen, aber auch in Faustkämpfen mit den Nachbarschaftskomitees. In einer Aufnahme ist gar zu sehen, wie verzweifelte Anwohner einen Supermarkt plündern.

Gehalten wie Nutzvieh

Fest steht: In Schanghai ist die Angst vor dem Virus selbst weitaus geringer als die Angst, in eines der Quarantänezentren abgeführt zu werden. Auch Leona Cheng ist dort gelandet. Auf ihrem Facebook-Account teilt die junge Chinesin mit der Öffentlichkeit ihre Gedanken mit. Im „Fangcang-Spital“ müsse man lernen zu akzeptieren, „wie Nutzvieh behandelt“ zu werden: „Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin nur mehr eine Nummer im Krankenhaus“, schreibt Cheng. Ihre Habseligkeiten sind auf das Grundlegende reduziert: eine kleine Plastikschüssel gefüllt mit Zahnbürste, Zahnpasta und einem kleinen Handtuchlappen. Duschen gebe es keine, nur kleine Wasserbecken. Und der ganze Ort stinke nach Exkrementen: „Ich versuche sogar, möglichst kein Wasser zu trinken, damit ich nicht oft auf die Toilette muss.“

Auch der Italiener Alessandro Pavanello berichtet von ähnlichen Zuständen. Er versucht trotz allem, das Beste aus seiner Situation zu machen. Und dennoch gebe es nichts daran schönzureden: „Als Ausländer bin ich zwar nur Gast in China und muss mich an die Regeln des Landes halten. Aber ich fühle mich nicht mehr sicher hier und denke darüber nach, China zu verlassen“, sagt er in einem Online-Chat auf Instagram.

Doch seine ukrainische Freundin, sagt Alessandro, habe es noch viel schlimmer erwischt: Sie sei bereits seit zwei Wochen in einem anderen Isolationszentrum untergebracht. Zweimal hintereinander sei sie bereits negativ getestet worden und dürfte eigentlich wieder zurück. Warum ihr das nicht gestattet wird, weiß niemand so recht. „Es ist der Wahnsinn“, sagt Pavanello in seine Handykamera und verabschiedet sich. Jetzt wolle er mal nachschauen, ob er in einem abgesperrten Bereich an die frische Luft kann.

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