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Schuldgefühle im KriegKrieg bringt Hass in die Welt

Müssen Russen sich schuldig fühlen? Wie verhalten sie sich jetzt angesichts des Krieges gegenüber ukrainischen Freunden? Und im eigenen Land?

Demonstrantin zeigt ihren Pass als Zeichen, dass nicht alle Russen Putins Krieg mittragen Foto: Sachelle Babbar/imago

J eden Morgen wache ich in einer Welt auf, in der je­der jeden hasst. Um mit dem Zauberlehrling Harry Potter zu sprechen: Die Dementoren sind ihrem märchenhaften Gefängnis entkommen, und es bleibt kein Tropfen Freude übrig. Eine Freundin ruft an, sie ist Maskenbildnerin: „Olja, ich schäme mich zu arbeiten, wenn es so viel Trauer gibt. Und ich bewege mich in den so­zia­len Netzwerken und weine: Alle hassen uns“. „Meine Liebe, so scheint es“, sage ich.

Война и мир – дневник

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Meine Freunde schreiben Sätze wie diese: „Das ist unsere gemeinsame Schuld.“ „Das wird uns nie verziehen.“ „Ich schäme mich für mein Land.“ In ganz St. Petersburg wurden Banner mit dem Symbol „Z“ aufgehängt: Jetzt ist es ein Symbol der Unterstützung für die russische Armee. Graffiti mit den Worten „Nein zum Krieg!“ hängen an Zäunen und Häusern. Einige bereuen öffentlich, andere beglückwünschen die russische Armee. Es ist die Hölle.

Kein Gericht könnte heutzutage so viele Urteile fällen, wie Menschen das gerade über andere tun. Wenn du jetzt gerade das Leben genießt, bist du gefühlskalt. Wenn du die Macht unterstützt, bist du ein Watnik (ein Schimpfwort für Russen, die an die Propaganda ihrer Regierung glauben; Anm. d. Red.). Wenn du die Staatsmacht nicht unterstützt, bist du ein Ver­rä­te­r. Wenn du nicht protestierst, bist du ein Feigling. Und wenn du auf die Straße gehst, dann bist du ein Verbrecher. (In Russland wurden bereits Tausende Menschen, die gegen den Krieg demonstriert haben, festgenommen; Anm. d. Red.)

Die Propaganda ist so billig, dass ich mich sogar für den Propagandisten schäme. Aber auf beiden Seiten der Grenze funktioniert das immer noch, nicht schlechter als Kanonen. Den Ukrai­ne­rn und uns Rus­sen wurde jahrelang beigebracht, einander zu hassen. Und ich muss zugeben, dass dies beiden Ländern recht gut gelungen ist. Während oben die Machthaber die Posten unter sich aufteilten, starben unten Liebe und Freundschaft. Doch jetzt ist ein Abszess geplatzt, und es will mir scheinen, dass infolgedessen nun die halbe Welt mit Hass überflutet wird.

Olga Lizunkova

ist Journalistin und Videoproduzentin. Sie lebt und arbeitet in St. Petersburg.

Meine Verwandten, Klas­sen­ka­me­ra­den und Kol­le­gen leben in der Ukraine. Und ich habe Angst, ihnen zu schreiben. Ich habe Angst, dass mein Mitgefühl eine Lawine der Feindseligkeit auslösen wird. Ich fürchte, sie erwarten, dass ich Buße tun werde.

Aber das, was passiert, habe ich mir nicht ausgesucht. Ich bin sehr verletzt und verängstigt, aber ich fühle keine Schuld oder Scham: weder für meine russische Staatsbürgerschaft noch für kluge und mitfühlende Menschen, von denen es so viele in meinem Land gibt. Wir alle wollen eindeutige Antworten: Wer hat Recht, wer hat Unrecht? Aber wir be­kommen auf diese Fragen keine Antworten, es gibt nur hoffnungslose Dunkelheit und Ohnmacht.

Ich habe in all diesen letzten Tagen und Wochen nicht geweint, aber heute ist mir auf Youtube ein drei Jahre altes Video aufgefallen, ein soziales Experiment: Auf den Straßen von St. Petersburg umarmen Pas­san­ten einen Typen mit einem Schild: „Ich komme aus der Ukrai­ne, lasst uns umarmen.“ Ich begann zu schluchzen und konnte nicht mehr aufhören: Denn mir kommt es gerade so vor, als ob wir uns nie wieder umarmen können.

Aus dem Russischen Tigran Petrosyan

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9 Kommentare

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  • Kein Volk will im Krieg leben, deshalb ist es auch unzivilisiert, jetzt weltweit alle Russen für diesen Krieg verantwortlich zu machen. Ich kenne zudem auch keinen Russen, der jemals dieses Bestreben Putins verteidigt hätte.

  • Vielen Dank für diesen bewegenden Beitrag!



    Sie zeigt uns, wie hässlich und unmenschlich Kriege sind und dass es unsere moralische Pflicht, die moralische Pflicht eines jeden Menschen ist, sie zu verhindern!

  • 2G
    29449 (Profil gelöscht)

    ”Doch jetzt ist ein Abszess geplatzt, und es will mir scheinen, dass infolgedessen nun die halbe Welt mit Hass überflutet wird”

    Ja, und es ist das Resultat eines nicht nachvollziehbaren Ausschlußes russischer Bürger und Sportler der dazu beiträgt das idiotische Agieren von Machthabern mit dem Willen einer Volksgemeinschaft gleichzusetzen.

    Und hier sind es eben auch nur leitende, männliche Funktionäre die mit dem Skalpell an der Eiterbeule sägen.

  • Wie nah wären Putin, Lawrov und Schröder an der Wahrheit dran wenn sie behaupten dass die Russen die Opfer sind?

    Ist dieser Beitrag schon ein Teil einer Propaganda in der Täter als Opfer dargestellt werden?

    Ist die Abfolge der Schlagzeilen irgendwie beabsichtigt wenn unter Rubrik 'Politik' von oben nach unten:



    Die Russen vor der UN als Lügner bezeichnet werden.



    Eine Kolumnistin von Ihrem Leid schreibt.



    Dann erst Berichte mit direktem Ereignishorizont Ukraine folgen?

    Zweifel beschäftigen mich. Unter anderem kam mir die Diskussion über die Wermachtsaustellung in den Sinn. Soweit ich es verstanden hatte würde in deren Umfeld auch die Opferrolle reklamiert.

    • @Mr.Henry:

      Genau darum geht es in dem Artikel. Um an den Haaren herbeigezogen Argumente, genau wie sie in Ihrem Kommentar zu finden sind.

    • @Mr.Henry:

      "Ist dieser Beitrag schon ein Teil einer Propaganda in der Täter als Opfer dargestellt werden?"



      Nein. Diese Kolumne sagt aus, dass Sie Täter und Opfer nicht anhand ihrer Pässe erkennen. Und dass sie es sehr traurig findet, dass Menschen einander hassen.



      Im Übrigen bezeichnet sie als Russin die Verlautbarungen der russischen Regierung selbst als billige Propaganda.

  • "Wir alle wollen eindeutige Antworten: Wer hat Recht, wer hat Unrecht? Aber wir be­kommen auf diese Fragen keine Antworten, es gibt nur hoffnungslose Dunkelheit und Ohnmacht."

    Ich mag den Artikel.



    Diesen Satz aber versteh ich nicht ... soll sich das auf den Krieg beziehen?

    • @Plewka Jürgen:

      Eine schwierige Frage. Ich glaube von hier ist es einfacher zu sagen, dass Russland einen Krieg begonnen hat und damit großes Leid und Unrecht verursacht. Was ich dem Autor des Artikels nicht unterstellen würde, dass er die Schuld nicht bei Russland sieht. Das ist schließlich der Grund für seine Scham. Es wirkt ein bisschen kryptisch, ich vermute dass der Autor meint dass er in gewisser Weise ratlos ist und im Moment keine Lösung oder Antwort hat, die er aber gerne hätte. Er weiß nicht was er tun soll. Für mich klingt es eher nach Ohnmacht als nach einer scheinbar neutralen Position.

    • @Plewka Jürgen:

      Schließe mich an. Dieser Satz macht mich skeptisch, den übrigen Kommentar kann ich gut nachvollziehen.



      Wird hier die Kreml-Propaganda der alten Schule mit den Durchhalteparolen der ukrainischen Regierung gleichgesetzt? Was soll Unrecht sein in Bezug auf was? Und was ist Recht?



      Dieser Absatz verwischt so nebenbei die Grenzen zwischen angreifendem Staat und sich verteidigendem - zwischen einem, der, bei aller Dysfunktion, sich auf den demokratischen Weg gemacht hatte, und einem, der oligarchisch in Richtung Diktatur marschierte und sich schon vor 8 Jahren einen Teil des anderen einverleibte. Ja, die Bevölkerungen beider Länder müssen miteinander reden und miteinander mitfühlen, bloß sollte man dabei nicht alles nivellieren, was an tatsächlichen Differenzen besteht.