: Fortgeschrittene User
BASIS Unterwegs bei der Demo „Freiheit statt Angst“ mit einem neuen Parteimitglied und einem Netzaktivisten, der sagt: „Ich will nicht repräsentiert werden“
■ Bei der Datenschutzdemo „Freiheit statt Angst“ kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizei. Der Blogger Fefe hatte ein Video online gestellt, in dem zu sehen ist, wie Polizisten anscheinend grundlos einen Radfahrer und mindestens noch einen anderen Passanten attackieren. Die Bilder wirken äußerst brutal. Das Organisationskomitee der Demo kritisierte den Vorfall. Es gebe weitere Hinweise auf unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizei. Auch habe sich die Polizei vielfach nicht an die Absprache gehalten, die Demonstranten nicht zu filmen.
■ Die Demonstration verlief dennoch weitgehend friedlich. „Für eine solch große Veranstaltung war es sehr ruhig“, sagte ein Sprecher der Berliner Polizei. Die Zahl der festgenommenen Personen bewege sich zwischen acht und zehn.
■ Nach Polizeiangaben nahmen an der Demonstration 10.000 Menschen teil, die Veranstalter sprachen hingegen von 25.000 Demonstranten, die gegen Internetsperren und gegen die sogenannte Vorratsdatenspeicherung protestiert hatten.
AUS BERLIN MEIKE LAAFF
„Wahnsinn“, sagt René Emcke, als sich der Demonstrationszug langsam in Bewegung setzt. Vom Dach des Doppeldeckerbusses hat er einen guten Überblick über die „Freiheit statt Angst“-Demo – trotz der vielen orangefarbenen Fahnen, die seine Piratenpartei-Mitstreiter eifrig im Takt von harten Elektrobeats schwenken.
Es ist die dritte Demonstration, die der 32-Jährige jemals besucht hat. So viele Teilnehmer, das hätte er nicht erwartet. Bis vor Kurzem hat er sich für Politik nicht interessiert, sagt er. Bis er Ende Mai 2009 Mitglied der Piratenpartei wurde. Einen Monat später war er Landesvorsitzender und Spitzenkandidat für Sachsen-Anhalt.
„Über die Vorratsdatenspeicherung habe ich mich schon geärgert“, sagt Emcke. „Aber beim Zugangserschwernisgesetz hat es dann geknallt.“ Von Beginn an sei für ihn nur die Piratenpartei infrage gekommen, sagt er. „Auf alle anderen ist kein Verlass.“
Wie ein Computerfreak wirkt der Magdeburger nicht. Groß gewachsen und drahtig ist Emcke, ohne den charakteristischen Rundrücken eines Rechnerarbeiters.
„Ich würde mich als fortgeschrittenen User bezeichnen, keinesfalls als Nerd“, sagt er über sich. Bis heute nutzt er Windows, er hat BWL studiert statt Informatik. Ist kommunikativ. Widerspricht so jeder Menge Klischees über die Piratenpartei – und zeigt, dass die Partei inzwischen auch jenseits der klassischen Nerd-Klientel mobilisiert.
Wer Emckes Argumentationssalven zu den Themen Netzsperren und Urheberrechte hört, mag kaum glauben, dass er sich das alles in wenigen Monaten angelesen haben will. Doch das ist vielleicht auch seinem geschulten Verkaufstalent geschuldet. Jahrelang arbeitete er als selbstständiger Promoter, vermarktete schon parallel zu seinem Studium verschiedene Telekommunikationsanbieter. „Dann wollte ich den Leuten nicht mehr verkaufen, was sie nicht brauchen, und habe beschlossen, mich beruflich umzuorientieren“, erklärt er. Nun lebt er von Hartz IV, widmet sich seit Monaten in Vollzeit dem Wahlkampf.
Die Demonstranten, das sei nicht nur eine Netzbewegung, sagt Emcke. „Das ist ein Aufstand von Bürgerrechtsaktivisten“, sagt er. Emcke spricht viel über Bürgerbeteiligung und Transparenz. Die Piratenpartei wolle den Fraktionszwang im Bundestag aufheben, damit jeder nach seinem Gewissen abstimmen könne. „Viele Wähler sagen: ‚Bei der Piratenpartei wähle ich doch die Katze im Sack.‘ Und ich sage: ‚Ihr könnt euch einbringen, wir werden unsere Meinungsbildungsprozesse auch nach der Wahl offenhalten.‘ “
Ein paar hundert Meter hinter dem Truck der Piratenpartei läuft Michael Seemann. Ohne Fahne, ohne Schild, ohne eine große Gruppe von sichtbaren Mitstreitern. Als Twitter-User „mspro“ ist Seemann Teil der Berliner Netzkulturszene. Anders als Emcke engagiert er sich nicht in einer Partei, sondern gehört zu dem Teil der Netzaktivisten, die davor zurückschrecken, sich einer Organisation anzuschließen. „Ich will niemanden repräsentieren und von niemandem repräsentiert werden“, sagt er.
Mit Jackett zum T-Shirt ist er für diese Demonstration überdurchschnittlich ordentlich gekleidet. Bei ihm, dem Doktoranden der Kulturwissenschaften, war es die Vorratsdatenspeicherung, die ihn politisch mobilisierte. „Um eine Lücke zu füllen. Netzthemen haben noch keine politische Tradition. Niemanden, der sie vertritt. Darum ist es wichtig, dass ich mich da engagiere – einfach weil das kein anderer besser machen kann als ich und die Leute, die das jetzt mit mir machen.“ Seemann organisiert politische Diskussionsrunden auf Netzkonferenzen, geht zu Anhörungen im Bundestag und auf Parteitage. Formelle Repräsentanz und Organisation seien heute im Netzzeitalter nicht mehr nötig, um politisch aktiv zu sein, meint er. Glaubt an die Kraft von Ad-hoc-Netzwerken, die sich blitzschnell übers Netz mobilisieren lassen. Trotzdem sagt er bestimmt: „Im besten Fall zieht die Piratenpartei nie in den Bundestag ein und die Parteien nehmen einfach ihre Themen und Ideen auf.“ Ähnlich sieht er auch die Entwicklung der gesamten netzpolitischen Bewegung. „Dieser ganze Zirkus wird abnehmen, wenn die Politik besser wird.“
Der Potsdamer Platz ist mittlerweile halb leer, als Seemann die Abschlusskundgebung erreicht. Einer der Organisatoren der Demonstration gibt jetzt bekannt, dass etwa 25.000 Menschen teilgenommen hätten.
Enttäuschend, findet Seemann. Er zückt sein iPhone und twittert: „25.000? das ist ja mal bitter!“
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