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Lockdown in ÖsterreichUnserer Zeit voraus

In Österreich gilt seit Montag ein landesweiter Lockdown. Unsere Autorin ist in Wien zu Besuch und fühlt sich, als reise sie in Deutschlands Zukunft.

Ich bin dann mal weg: Wien am Dienstag im Lockdown Foto: Christian Bruna/Epa

Wien taz | Leer sind die Straßen in Wien, auch an einem sonst so geschäftigen Dienstagmorgen. Still ist die Stadt, auf die ich durch das Fenster blicke. Das Leben spielt sich wieder hinter Fenstern ab. Davor das lahmgelegte Draußen. Man kennt diesen Zustand hier bereits. Lockdown Nummer vier. Oder? Manche haben wohl schon aufgehört zu zählen.

Am Freitagmorgen, den 19. November, steige ich am Berliner Südkreuz in den ICE nach Wien. Ich will meine Freundin Hannah besuchen, die Reise ist schon lang geplant, und trotz hoher Infektionszahlen in Österreich will ich sie nicht absagen. Acht Stunden Fahrt liegen vor mir. Ich mache es mir bequem, hole ein Buch aus der Tasche. Mein Handy blinkt auf, Nachricht von Hannah: „Es wurde gerade ein landesweiter Lockdown ab Montag angekündigt.“ Ich seufze und fühle: nicht viel. Lockdown. Das Wort löst keine Panik mehr in mir aus, keine Unsicherheit dem gegenüber, was da wohl kommen mag. Lockdown, das wirkt auf eine bittersüße Weise vertraut. „Stockholmsyndrom“, denke ich. Ich entwickle Sympathien gegenüber dem, was mich quält.

Ich blicke auf das Buch in meinem Schoß: Albert Camus, „Die Pest“. Lange hatte ich mich dagegen gewehrt, den Klassiker zu lesen, als es zu Beginn der Pandemie auf einmal alle taten. Damals dachte ich, ich lebe schließlich in einer Pandemie, da muss ich nicht auch noch darüber lesen. Doch in den letzten Monaten wirkte Corona dank des Impfstoffs so fern, dass ich mich doch daranwagte. Da sitze ich nun und die Pandemie ist da wie nie zuvor. Das muss dieses „Ich fühle mich wie in einem schlechten Film“-Gefühl sein. Ich antworte Hannah, ich käme trotzdem, sei ja eh schon auf dem Weg, schicke ihr ein Foto von meiner Zuglektüre und schreibe: „Und das hier ist dann ja wohl auch wieder aktuell.“

Am frühen Abend steige ich aus dem Zug. Hannah hat einen Termin für mich in einer PCR-Testbox reserviert. In Österreich gibt es kostenlose PCR-Tests für alle. In Wien werden vermehrt sogenannte Gurgeltests eingesetzt, erhältlich im Supermarkt. Man gurgelt vor laufender Kamera und gibt den Test auch im Supermarkt wieder ab. Das Ergebnis kommt binnen 24 Stunden. Wieso haben wir so etwas nicht auch in Deutschland?, frage ich mich. Bei der Testbox versprechen sie ein Ergebnis innerhalb weniger Stunden. Das brauchen wir, denn Hannah und ich wollen am nächsten Abend noch in die Oper. Am Wochenende vor dem Lockdown ist in Österreich noch alles geöffnet, bei Kulturveranstaltungen gilt 2G+. Die Schlange vor der Teststation ist lang, viele wollen das „normale“ Leben ein letztes Mal ausschöpfen. „Normal“ hat seine Bedeutung schon seit März 2020 verloren. Ein Mann überhört unser Gespräch, lässt uns den Vortritt: „Nicht, dass ihr noch eure Oper verpasst.“

„Normales“ Leben genießen

In Österreich liegt die landesweite 7-Tage-Inzidenz aktuell bei über 1.000. Seit Montag gilt: das Verlassen der Wohnung ist nur zum Einkaufen von Lebensmitteln, zum Arbeiten oder zum Spazierengehen erlaubt. Gastronomie, Hotels, Kultureinrichtungen und Handel sind geschlossen. Nachdem die Einschränkungen eine Woche lang nur für Ungeimpfte galten, müssen nun alle zu Hause bleiben. Für Geimpfte gilt der Lockdown für zwanzig Tage, für Ungeimpfte auf unbestimmte Zeit. Rund 40.000 Menschen demonstrierten am vergangenen Samstag gegen die beschlossenen Maßnahmen, darunter Neonazis, Rechts­ex­tre­mis­t:in­nen und gewaltbereite Hooligans. Der Protest ist zu einem wiederkehrenden Element geworden. Wir meiden die Innenstadt, so gut es geht.

Am Wochenende genießen Hannah und ich getestet und geimpft die letzten Stunden des Lebens ohne Lockdown. Wer weiß, was nach dem Lockdown neue Normalität wird. Die Kellnerin verabschiedet uns am Abend mit den Worten: „Macht’s gut, wir sehen uns dann in 20 Tagen. Oder im Januar. Oder doch im April, wer weiß das schon?“ Sie grinst und eine Spur Verzweiflung funkelt in ihren Augen. Wir grinsen zurück. Aus Mangel an Alternativen. Wir nehmen ein Taxi, wollen die überfüllte U-Bahn meiden. Ganz Wien scheint glühweintrinkend auf den Beinen zu sein, der österreichische Handelsverband berichtet ein Umsatzplus von durchschnittlich 15 Prozent im Vergleich zu 2019.

Den Taxifahrer frage ich, wie es ihm ginge mit dem bevorstehenden Lockdown. Schlecht gehe es ihm, sagt er, die Zahl der Kundschaft sei auch im Sommer nicht zurück auf das Niveau vor der Pandemie gestiegen. Und nun gäbe es wohl bald wieder kaum einen, der ein Taxi brauche. Aber so sei das halt. Schulterzucken. Albert Camus schreibt 1947: „Es gab damals keine individuellen Schicksale mehr, sondern eine kollektive Geschichte, nämlich die Pest und von allen geteilte Gefühle.“ Geben wir uns zu leicht, zu resigniert dem altbekannten Ausnahmezustand hin?

Wiederholendes Muster

Es ist 2021 und ich werde das Gefühl nicht los, ich hätte diesen Text bereits vor einem Jahr schreiben können. Auch in Deutschland überschreitet die 7-Tage-Inzidenz an einigen Orten die 1.000. In Bayern gilt bereits Lockdown für Ungeimpfte, in Thüringen eine nächtliche Ausgangssperre für Ungeimpfte. Weihnachtsmarkt für Weihnachtsmarkt wird in ganz Deutschland abgesagt.

Ein Muster wiederholt sich: Österreich legt vor, Bayern zieht nach und irgendwann ganz Deutschland. So war es im Frühjahr 2020, so war es im November 2020, so wird es vielleicht auch diesmal sein. Meine Reise nach Wien gleicht einer Reise in die Zukunft, die mich vermutlich bald in Berlin erwarten wird. „Lockdown-Touristin“ nenne ich mich im Scherz.

Hannah und ich haben es uns in ihrer Wiener WG gemütlich gemacht. Wir löffeln Linsensuppe und schauen wieder einmal aus dem Fenster. Es ist längst dunkel. Doch auch am Tag ist draußen wenig zu sehen. Ich fühle mich beunruhigend sicher, hier im altbekannten Ausnahmezustand.

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5 Kommentare

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  • PCR-Tests für alle, Gurgeltests im Supermarkt.



    Warum haben wir das nicht auch in Deutschland?

    Wir sind das einwohnerstärkste Land Europas.



    Österreich hat 9 Mio. Einwohner, 1 Mio. weniger als die Schweden haben, 1 Mio. mehr als Niedersachsen, 2 Mio. weniger als Baden-Württemberg zusammenbringt.



    NRW allein hat fast doppelt so viele Einwohner: 17,9 Mio. Einwohner.

    Hier in der BRD muss der Staat mehr leisten, sowohl in der Beschaffung, der Durchführung und in der finanziellen Leistung und Belastung - im Hinblick auf Verwaltung, Abläufen und Koordination, aber auch im Hinblick auf Labore, Institute und Privatwirtschaft.

    Diese ewigen Vergleiche mit Ministaaten und vor Ende der pandemischen Lage ist komplett sinnlos.

    • @louisa:

      Mehr Einwohner bedeutet aber auch, sowohl personell, als auch finanziell viel mehr Kapazitäten.



      Die Rechnung geht also nicht auf!

      Klar müssen dort weniger Menschen versorgt werden. Es steht aber für diese weniger Menschen auch sehr viel weniger Kapazität zur Verfügung.

  • Er hatte auch etwas sehr gemütliches, der Lockdown bei uns. Keine Flieger, wenig Autos, wenig Menschen auf den Strassen. Diese Ruhe. Zuhause, im Garten, auf dem Sofa, lesen, Grossputz. Mei war des schee...

    • @maestroblanco:

      Jepp, wennman denn einen Garten sein eigen nennt.

      • @Konrad Ohneland:

        Ebendieses: Vorstadt und mit Garten versus Hinterhof und ohne Balkon. Sehr sehr was anderes.

        In Erinnerung bleiben wird, vor allem aus dem Sommer 2020: der tiefblaue Himmel ohne einen einzigen Kondensstreifen.