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Linken-OB René Wilke über seine Partei„Mangelnde Kompromiss­bereitschaft“

René Wilke ist Linken-Politiker und OB von Frankfurt (Oder). Soll man mit seiner Partei nach der Bundestagswahl regieren? Er rät den anderen davon ab.

Mit seiner Partei regieren? Besser nicht, sagt René Wilke, Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) Foto: Piero Chiussi
Jan Feddersen
Interview von Jan Feddersen

taz: Herr Wilke, Sie sind Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), haben das Amt als Politiker der Linkspartei gewinnen können. Befinden Sie sich jetzt auch im Wahlkampf?

René Wilke: Nein, gar nicht.

Spielt der Bundestagswahlkampf für Sie keine Rolle?

Doch schon. Aber nicht als Wahlkampf. Vor einigen Tagen hatte ich zum Beispiel Gespräche mit drei Bundestagskandidaten, die jeweils auf mich zugekommen waren, um sich über kommunalpolitische Perspektiven bei mir zu informieren.

Das ist insofern irritierend, als Olaf Scholz zu seiner Zeit als Bürgermeister von Hamburg sehr wohl für seine Partei in Bundestagswahlkämpfen unterwegs war.

Was soll ich dazu sagen? Ich könnte sagen, dass die Fülle der Aufgaben in meinem Amt mir keine Zeit lässt und ich andere Prioritäten habe. Das ist so. Aber wahr ist auch, dass ich als Oberbürgermeister von Frankfurt die Stadtgesellschaft zusammenzuhalten habe. Auch deshalb mache ich keinen Bundestagswahlkampf für eine Partei – das würde in meiner Stadt Wunden erzeugen.

Sie sind Mitglied der Linken, verstehen sich jedoch nicht als kämpfender Teil Ihrer Partei?

Mir geht es nicht um die Mitgliedschaft an sich, sondern um das Wertegefüge, das mich zu ihr geführt hat. Das leitet mich noch immer. Aber das taktische Parteiinteresse kann für mich keine Rolle spielen.

Sind Sie mit Ihrer Bundespartei im Wahlkampf zufrieden?

Nein. Es fällt mir schwer, mich mit dem Bundestags­wahlkampf und so manchen Debatten zu identifizieren.

Aber mit Ihrem Landesverband oder etwa Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow – mit ihnen sind Sie einverstanden?

Ja. Da ist meine Identifikation deutlich größer. Übrigens auch mit meinem Kreisverband und einzelnen Akteuren auf Bundesebene. Susanne Hennig-Wellsow beispielsweise.

Im Interview: René Wilke

ist Linken-Politiker und seit 2018 Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder). Zuvor saß er als Abgeordneter im brandenburgischen Landtag.

Woher rührt denn Ihre Unzufriedenheit?

Als jemand, der politisch sehr praktisch an Veränderung orientiert ist, fällt mir insbesondere das politische Gerede auf, das mir nicht geeignet scheint, im Alltagspraktischen konkret etwas für unsere Wähler und Wählerinnen zum Besseren zu ändern. Vom Spielfeldrand zu kommentieren und von sich selbst zu glauben, man könnte alles besser, finde ich nicht sonderlich erstrebenswert. Konkrete Gestaltungsverantwortung sollten wir übernehmen wollen. Und den Beweis antreten, dass es besser geht.

Aber das Sofortprogramm Ihrer Partei, ist das nichts?

Ja, schon. Ein kluger Schachzug. Aber insgesamt wirkt es doch sehr aus der Not geboren, diesbezüglich etwas vorzeigen zu müssen. Da steckt ja keine kontinuierlich erarbeitete, langfristige Überlegung drin. Und das merken die Menschen doch.

Was sehen Sie in Ihrer Partei, die an einer Regierung teilhaben möchte?

Ganz ehrlich? Ich könnte es keiner anderen Partei empfehlen, mit meiner Partei nach der Bundestagswahl zu koalieren. Es gibt viel zu viele innere Gräben in der Partei – man ist sich für die konkrete Verantwortungsübernahme viel zu uneins – selbst in der einfacheren Rolle als Opposition. Das ist keine gute Basis für notwendige Verlässlichkeit.

Welche wäre denn eine?

Und da sind wir beim eigentlichen Punkt. Und der ist eine demokratische Haltungsfrage: Ich sehe mangelnde Kompromissbereitschaft. In einer Demokratie hat man natürlich eine politische Position. Aber man muss sich immer klarmachen, dass die eigene Sicht nur eine von vielen ist. Die andere Seite könnte auch recht haben.

Wirklich?

Man darf sich nicht so überhöhen. Niemand hat allein die Weisheit mit Löffeln gefressen. Man muss immer den Mut haben, die eigene Position in den kritischen, insbesondere auch selbstkritischen Diskurs zu geben. Bei uns gibt es noch viele, die sich im Besitz der reinen Lehre wähnen. Und das ist auch ein gesellschaftliches Problem. Es gibt ein zunehmendes Schwarz-Weiß-Denken. Wer eine andere Auffassung hat, ist heute sehr schnell ein Gegner oder Feind anstatt jemand mit einer anderen Auffassung, der ich womöglich sogar mit Neugierde begegnen könnte.

Hätten Sie im Bundestag der Entscheidung für ein Bundeswehrmandat in Afghanistan zugestimmt – aus humanitären Gründen? Die meisten aus Ihrer Fraktion enthielten sich, manche stimmten zu, andere stimmten mit Nein.

Ich hätte dem Mandat zugestimmt. Hinweise auf schlechte Beschlüsse zu Afghanistan in der Vergangenheit sind für mich als wesentliche Begründung gegen einen humanitären Einsatz nicht überzeugend gewesen.

Hadern Sie generell mit dem außenpolitischen Kurs Ihrer Partei, auch den von manchen ausgebrachten Sympathiebekundungen für Wladimir Putin oder den venezolanischen Staatschef Nicolás Maduro?

Ja, dieses Feld steht konträr zu den Werten, die mir wichtig sind. Friedliche Politik, Demokratie und Menschenrechte sollten nicht unterschiedlichen Maßstäben unterliegen. Das erscheint mir weder konsistent noch glaubwürdig.

Sie haben vor einigen Jahren für eine Wiedervereinigung von SPD und Linkspartei plädiert. Tun Sie das immer noch?

Perspektivisch: Ja. Denn worin liegen die Entwicklungsoptionen? Meine Partei kann entweder an Gestaltungswillen gewinnen und kompromissfähig werden. Oder sie tut das nicht und führt ein Dasein am Rande der Marginalisierung.

Die SPD kann entweder zurück zu modernen, sozialdemokratischen Werten mit Anschlussfähigkeit in die Mitte finden oder mit der CDU um die größere politische Beliebigkeit konkurrieren. Das ist meine Denkweise. Auch nur eine von vielen.

Aber diesem Gedanken folgend wären zwei Parteien, die für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Werte des solidarischen Miteinanders einstehen, dann eher abwegig. Von einer stärkeren Partei hätten die Menschen mehr.

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19 Kommentare

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  • Das ist das mit Abstand reflektierteste und selbstkritischste Interview, dass ich von einem linken Politiker die letzten Jahre gelesen habe. Wirklich selten, dass ich in so vielen Punkten zustimmen kann.

    Gemeinsame große Ziele über innerparteiliche Grabenkämpfe stellen. Verantwortung übernehmen statt alte Parolen dreschen. Gesellschaftliche Veränderung angehen, nicht nur wollen.

    Und ja, wer glaubt, dass mit der "reinen Lehre" schaffen zu können, hat die Demokratie nicht verstanden.

    Und wer glaubt, dass die 6% im Bund und die massiven Verluste in den Landesparlamenten nur von ungefähr kommen und die Partei weder Bedarf an Reform noch an Kompromißbereitschaft hat, der will halt lieber "vom Spielfeldrand kommentieren und von sich selbst glauben, man könnte alles besser".

  • "In einer Demokratie hat man natürlich eine politische Position. Aber man muss sich immer klarmachen, dass die eigene Sicht nur eine von vielen ist. Die andere Seite könnte auch recht haben."

    Großartig ! Mit mehr von solchen Leuten, wäre die Linkspartei wohl nicht am Rande der 5% Hürde sondern weit über 10%.

  • 3G
    32533 (Profil gelöscht)

    Endlich verstehe ich, dass Herr Wilke OB von Frankfurt (Oder) ist.

    Er ist gar nicht wirklich bei Die Linke. Er tut nur so.

  • "Hadern Sie generell mit dem außenpolitischen Kurs Ihrer Partei, auch den von manchen ausgebrachten Sympathiebekundungen für Wladimir Putin oder den venezolanischen Staatschef Nicolás Maduro?



    Ja, dieses Feld steht konträr zu den Werten, die mir wichtig sind. "

    Solche klaren Positionen, die sich gegen rechte Autokraten wie Putin und linke wie Maduro stellen, gibt es in der Linkspartei noch viel zu wenige.

    Insbesondere die Lieblinge des rechten Putins in der Linkspartei sollten in den Medien deutlich benannt werden.

  • Volltreffer!

    Ich würde gerne ja aus sozialpolitischen Gründen die Linke wählen. Aber ich kann keiner Partei über den Weg trauen, bei denen



    a) relevante Teile des Personals keinen Bezug zur Mitte der Gesellschaft ("normale Leute") haben - d.h. im besten Falle Lebenskünstler, häufig jedoch Spinner und Freaks sind



    b) die mir ein dubioses (weil inkonsistentes) Weltbild verkaufen wollen.



    c) ein päpstliches Selbstverständnis

    Zum Beispiel ist mir das Verhälnis dieser Partei zu staatlicher Autorität vollkommen unklar.



    Die Linke gibts sich einerseits gerne antiautoritär (Bullenstaat und so). Gleichzeitig strebt man aber mehr staatliche Regelungen und Durchgriffsrechte in fast allen Bereichen an.



    Insbesondere das Verhältnis zur Polizei ist albern und eigentlich gegen die die Interesen der Unterschicht gerichtet. Hier zeigt sich, dass viele in der Partei sich eher als revolutionäre Studenten- und Hausbesetzervertretung sehen. Gleichzeitig ist jedoch die weitaus größere Zielgruppe die spießige deutsche Rentnerin, die sich Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung wünscht. Jedes für sich wäre ja für mich ok aber beides zusammen geht eigentlich nicht.

    Dies ist häufig auch ein Ost/West-Problem. Eine Anekdote dazu: Mein Fahrschullehrer war aktives SED/PDS/Linke-Mitglied. Ehemaliger Kapitänleutnant der Volksmarine. Als neben uns ein Polizeiwagen hielt, hatte er einen cholerischen Anfall. "Sowas hätte es bei mir NIE gegeben!", "Das ist der Grund warum es in diesem System so schlecht läuft, jeder glaubt er könne machen was er will!", "Wo soll das nur enden? Kein Respekt vor dem Staat und der Allgemeinheit!" usw. - Der Grund: ein Polizist trug einen Ohrring.

  • vlt sollte der herr dann besser zu den grünen oder zur spd wechseln, die haben genug ambivalenz in ihrer ideologie ... oder wie er sagen würde: kompromissbereitschaft.

    es ist eine schande, einer partei die nie in bundesregierungsverantwortung war, mangelnde kompromissbereitschaft zu unterstellen. er bläßt damit in das selbe oberflächliche und diffamierende horn, wie die reaktionären populisten.



    die regierungsarbeit, die die linke in bremen tut, ist sehr wohl kompromissbereit.

    des weiteren wird hier der fehler begannen, die vielfalt innerhalb der linken als schwäche zu deuten. dabei ist die vielfalt der garant für eine lebhafte demokratie .... im gegenteil zum volkspartei-stil a la spd und grüne!



    es muss noch viel wissen konsolidiert werden. jemand der anscheinend faule heuchlerische kompromisse über konsequente geschichtsbewusste sozialpolitik stellt, sollte sich echt überlegen, ob er bei der linken gut aufgehoben ist.

    seine eigene partei als politisches no go hinzustellen .... ist genau so schlimm, wie die rolle der spd bei Rosa Luxemburg!

  • Toll! da hat der Jan Feddersen einen Linkspartei-Bürgermeister in Ostdeutschland gefunden, der zu ihm passt.

    • 3G
      32533 (Profil gelöscht)
      @nzuli sana:

      Das war bestimmt nicht so einfach, wie wir uns das von unseren - mehr oder weniger - bequemen Kommentator-Stühlen vorstellen.

  • Ganz ehrlich? - Die Wahlprogramme von SPD, Grünen und Linken unterscheiden sich inhaltlich nicht wesentlich. Während das Zukunftsprogramm der SPD recht elegant mit viel Luft daherkommt ist das Programm der Linken überwiegend aus ihrer Beteiligung an den gesellschaftlichen Initiativen entstanden und darum auch so detailliert. Der Abschnitt über die Transformation unserer Energiegewinnung zur Bekämpfung des Klimawandels liest sich beispielsweise, wie eine Zusammenfassung des Berichts des Wuppertal Instituts den Fridays for Future in Auftrag gegeben haben. Mir persönlich fehlt da ein wenig die eigene kreative Leistung und der Esprit. Das die Friedenspolitik in Teilen schlecht begründet ist, stimme ich zu, der Iran Irak Krieg, hat seinerzeit den Iran stärker gemacht, eigentlich paradox oder Die Taliban sind ein Produkt der CIA um die Kommunisten zu vertreiben .... apropos Perspektive Afghanistan ... die Enthaltung oder Zustimmung für einen humanitären Einsatz war das Bekenntnis zu einer nachträglichen Waffenbrüderschaft eines aussichtslosen Krieges. Nach 9 eleven brauchten die Amerikaner einen Vergeltungskrieg den haben sie sich genommen und bekommen, jedoch wenn sie an einer tatsächlichen Verbesserung der ganzen afghanischen Bevölkerung und der Region interessiert sind, führt kein Weg am Kriegsgewinner vorbei. Übrigens auf die Digitalisierung (Achtung Ironie) freue ich mich jetzt schon. Dank digitaler Bezahlung spare ich Trinkgelder und Spenden an Bettler.



    Nein, der Kompromiss würde sein, daß sich die Linke im Falle einer Regierungsbeteiligung nicht aus der Regierung zurück zieht da fast alles, was im Wahlprogramm steht, Standard guter Politik sein sollte und eigentlich auch immer wieder, wenn die Autoren denn etwas konkreter wurden auch schon hier in der Taz gefordert oder abgebildet stand.

  • OmG (Oh, my god)! Ein Fall von Schizophrenie? Bewerbung: "Erfahrener Oberbürgermeister mit linkem Parteibuch und Vorliebe für das linke Wertekonzept, der aber vor der Wahl der eigenen Partei warnt, sucht sozialliberale, praxissorientierte Position ohne sichtbar linkes Profil.."

  • "Aber man muss sich immer klarmachen, dass die eigene Sicht nur eine von vielen ist. Die andere Seite könnte auch recht haben."

    Diese zwei Sätze sollten die un-sozialen Medien jedem Hasskommentar entgegenstellen!

  • 9G
    91491 (Profil gelöscht)

    Mit solchen Figuren ist die LINKE wirklich nicht zu retten!

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @91491 (Profil gelöscht):

      Mit mehr solchen "Figuren"wäre die Linkspartei zweistellig.

    • @91491 (Profil gelöscht):

      Wieso, der Mann ist doch klasse! Sehr selbstreflektiert und keineswegs populistisch, das gefällt mir sehr!

      • @Saile:

        A.W. scheint zu den anderen in der Linkspartei zu gehören, die der Bürgermeister kritisiert, den Vertretern der reinen Lehre und Hüter der alleinigen Wahrheit können die Aussagen natürlich nicht gefallen.

  • Kluger Kopf.



    Stehen wir doch vor einer Herausforderung, die schon wieder sagt: Barbarei ist möglich.



    Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts dürfen sich nicht wiederholen.

  • allein schon dieses Zitat lohnt das Lesen: "Man muss immer den Mut haben, die eigene Position in den kritischen, insbesondere auch selbstkritischen Diskurs zu geben. Bei uns gibt es noch viele, die sich im Besitz der reinen Lehre wähnen. Und das ist auch ein gesellschaftliches Problem. Es gibt ein zunehmendes Schwarz-Weiß-Denken. Wer eine andere Auffassung hat, ist heute sehr schnell ein Gegner oder Feind anstatt jemand mit einer anderen Auffassung, der ich womöglich sogar mit Neugierde begegnen könnte."

    Solche Politiker gibt es in allen Parteien und das sind die, die die Gesellschaft voranbringen. Leider sind in den Medien eher die anderen gefragt, die die lauten Töne vertreten und den Gegner abwerten, die einen als "unmoralisch", die anderen als "naiv".

  • Links, klug, realistisch und innerlich liberal. Eine appetitliche und leider viel zu seltene Mischung.

  • RS
    Ria Sauter

    Sehr gutes Interview. Danke!



    Noch viel besser sind die Antworten von Herrn Wilke!