: „Es geht nicht darum, eine Autofabrik in die City zu verlegen“
Die Stadtplanerin Sabine Baumgart plädiert dafür, die Produktion und das Wohnen in die Innenstädte zurückzuholen und dabei deren Bausubstanz zu bewahren. Dafür müsse auch öffentliches Geld fließen
Interview Benno Schirrmeister
taz: Frau Baumgart, sterben die Innenstädte an Corona oder mit Corona?
Sabine Baumgart: Die Innenstädte sind unser kulturelles Erbe, die sterben nicht, die dürfen auch nicht sterben. Das ist für uns als Gesellschaft und für mich als Stadtplanerin ein besonderer Auftrag zu schauen, dass wir diese Zentren möglichst gut lebendig halten. Nur dann können sie ihre Funktion, die sie für die Stadtgesellschaft haben, auch erfüllen.
Ist die noch dieselbe wie vor 20 Jahren – oder müssen wir sie neu denken?
Wir müssen die Funktion neu denken. Das ist genau der richtige Ansatz. Wir haben immer gesagt – und eigentlich wird das auch jetzt noch so behauptet –, dass der Einzelhandel die Leitfunktion der Innenstädte ist.
Das gilt nicht mehr?
Ein Stück weit schon – aber nicht mehr so uneingeschränkt. Wir müssen unbedingt neue Funktionen dazudenken. Dazu gehört die Frage, wie wir mehr Wohnraum in der Innenstadt gewinnen können – das ist jetzt auch nicht die allerneueste Erkenntnis! – und dazu gehört, sich zu überlegen, wie wir Produktion zurückholen können ins Zentrum.
Produktion?
Urbane Produktion. Es geht natürlich nicht darum, ein Logistikzentrum oder eine Autofabrik in die City zu verlegen. Wir haben aber sehr viel mehr kleinteilige Bereiche, oft mit stark digitalisierten Produktionsprozessen, die nicht das Emissionsproblem der herkömmlichen Industrie haben und auch andere räumliche Anforderungen stellen. Dann müssen wir uns fragen, wie können wir Räume schaffen für Freizeitangebote, welche neuen Formen des Einzelhandels gibt es? Der ist ja durch den Onlinehandel sehr im Umbruch, aber durch diese Click-&-Collect-Ansätze in Verbindung mit Gastronomie/Aufenthalt sind neue Beziehungen entstanden zwischen Kund*innen und Handel. Das, verbunden mit einer Aufwertung des öffentlichen Raums, wird die Innenstädte lebendig bleiben lassen
Den öffentlichen Raum gab es vor Corona doch auch schon.
Ja, aber jetzt, wo wir ihn nur eingeschränkt nutzen dürfen, merken wir erst wieder, wie wichtig er uns sein kann. Der öffentliche Raum ist ein zentraler Ansatzpunkt. Wir brauchen öffentliche Räume um Silvester zu feiern, für Public Viewing, um uns als Stadtgesellschaft zu treffen und zu begegnen.
Über diese Entwicklung wird ja schon länger nachgedacht, aber oft fehlt der Mut, sie zu realisieren. Wird Corona das ändern?
Man sagt: Corona ist ein Brennglas, weil es Probleme besonders deutlich hervortreten lässt. Und es ist ein Katalysator, weil es Prozesse beschleunigt. Beides trifft gerade in den Innenstädten zu: Die Notwendigkeit, auch sozial ausgleichend zu wirken, zeigt sich sehr deutlich. Und das ist auch eine Frage von räumlicher Planung. Gleichzeitig macht die Pandemie viel mehr möglich, als vorher möglich zu sein schien.
Wo lag die Schwierigkeit?
Im Stadtzentrum treffen ja sehr heterogene Interessenslagen auf kleinem Raum aufeinander – vom Immobilienmarkt über die Einzelhändler bis hin zu den planerischen Sektoren Verkehr und Stadtgestaltung. Das gut zu managen, da jetzt die Dynamik aufrecht zu erhalten, das ist die Herausforderung der Stunde. Das ist das große Kunststück. Dabei ist die Ausgangslage der Stadtzentren gut, wenn man die Angebote dort mit Aufenthaltsqualität und Freizeit verbindet.
Wieso?
Die hannoversche Akademie für Raumentwicklung in der Leibnizgesellschaft (ARL) ist eins der bundesweit fünf wichtigen Forschungszentren für nachhaltige Raumplanung.
Wegen der Coronakrise hat die ARL im Juni 2020 den von Präsidentin Baumgart geleiteten Arbeitskreis „Pandemie und Raumentwicklung“ gegründet, der die Auswirkungen von Sars-CoV-2 auf unterschiedliche Räume von der Großstadt bis zum Flecken untersucht und die daraus erwachsenden neuen Anforderungen an Gestaltung und Infrastruktur prognostiziert.
Ein am 5. Februar publiziertes Positionspapier macht klar, dass die Coronapandemie im allgemeineren Kontext des Umgangs mit Risiken betrachtet werden muss. Darin geben die Fachleute
wie sich Stadt- und Landplanung künftig stärker an Fragen der Daseinsvorsorge orientieren und widerstandsfähigere Strukturen fördern sollte.Sie sind eben nicht austauschbar. Wenn ich durch Bremen gehe, dann habe ich da den Dom und den Roland, den Marktplatz, diese spezifische Stadtlandschaft. Das ist nicht austauschbar wie ein Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Die Innenstadt hat einfach ihr eigenes Profil und ihre eigene Attraktivität. Und das gilt auch für kleinere Städte: Die Stadtgeschichte im Hintergrund macht die Zentren spezifisch.
Die Fixierung der City auf Handel hatte im 19. Jahrhundert gut erkennbare Akteure in den Kaufhaus-Pionieren, die das Handwerk verdrängt haben. Aber der Einzelhandel scheint viel zu ängstlich, um sich in Bewegung zu setzen. Wer könnte den Prozess antreiben?
Das ist in der Tat die große Frage. Ich glaube, dass wir einen so zentralen Treiber wie seinerzeit den Handel so gar nicht mehr haben. Am ehesten können vielleicht große Bauunternehmer markante Akzente setzen und so ins Umfeld ausstrahlen. Aber Treiber muss doch sehr stark eine Kombination im Austausch von Politik und den Akteuren sein, die auch das entsprechende finanzielle Potenzial und die Ressourcen haben.
Also der große City-Ausverkauf?
Nein. Die Politik muss die Kontrolle darüber behalten, dass das, was sie an Qualitäten in ihrem Zentrum möchte, realisiert wird. Das hat auch den Aspekt der Integration. Es gab hier in Bremen mal die Diskussion, ob Obdachlose sich unter den Rathaus-Arkaden aufhalten dürfen. Ich finde, das muss gewährleistet sein. Das Stadtzentrum darf nicht zu einer bloßen touristischen Destination verkümmern – die es aber auch sein muss. Also: Den einen Treiber gibt es nicht. Wir brauchen Konstellationen, in denen die Immobilienwirtschaft sicher eine wichtige Rolle spielt und man deren Logik auch erfassen muss – ohne sich ihr zu unterwerfen. Wir brauchen nämlich gleichzeitig auch kreative Köpfe und Möglichkeiten der nicht-ökonomischen Aneignung.
Sollte dafür die City autofrei sein?
Das ist eine Frage, die hier in Bremen die Gemüter bewegt, aber ehrlich gesagt: Ich finde, das heißt das Pferd von hinten aufzäumen.
Wieso?
Wir sollten erst einmal die Qualitäten benennen, die wir erreichen wollen, und dann das Angebot so reformulieren, dass der Effekt davon ist, dass ich gar nicht mehr mit dem Auto reinfahren muss in die Stadt. Es geht darum, positiv zu motivieren. Deshalb hieße es erst einmal, den öffentlichen Personennahverkehr stärken in der Innenstadt, die Erreichbarkeit zu steigern und, gerne in Verbindung damit, die Aufenthaltsqualitäten verbessern. Für Haltestellen gibt es beispielsweise tolle Gestaltungs-Konzepte auch mit vertikalen Gärten beziehungsweise Mooswänden, sodass man auch mehr Grünfunktionen in der Innenstadt hat. Wir müssen Frei- und Bewegungsräume schaffen.
Spielplätze und Gärten?
Grün-Elemente, Wasser-Elemente können wir gar nicht genug haben in der Stadt – auch im Hinblick auf die Trinkwasserangebote, also Brunnen. In Bremen sind auch die fehlenden öffentlichen Toiletten ein Thema. Also Grün, ja, auf jeden Fall, auch auf kleinstem Raum.
ist am 5. Februar erneut zur Präsidentin der Akademie für Raumentwicklung in Hannover gewählt worden, der sie seit 2018 vorsitzt. Davor hatte sie fast zwei Jahrzehnte lang als Professorin für Stadt- und Raumplanung an der TU Dortmund gelehrt. Zudem hat sie in Hamburg und Bremen Stadtplanungsbüros gegründet. Sie leitet den Ad-hoc-Arbeitskreis „Pandemie und Raumentwicklung“ seit dessen Gründung 2020.
Soll man auch die großen Kaufhäuser, die jetzt brach liegen, ob Karstadt in Hamburg oder Kaufhof in Bremen, abreißen und dort Parks anlegen?
Es gibt interessante Konzepte zur Umnutzung von Einzelhandelsimmobilien in Wohnraum. Das wird nicht immer möglich sein, aber es ist noch viel mehr möglich, als man sich gemeinhin denkt. Und das ist auch nötig, denn: Die Wohnfunktion zurückzuholen meint nicht, dass man hie und da mal ein kleines Baulückchen füllt. Es ist wirklich zu überlegen, wie kann ich auch bezahlbaren Wohnraum in der Innenstadt unterbringen. Darauf reagieren solche Umnutzungskonzepte – ein gutes Beispiel dafür haben wir in Delmenhorst, das ehemalige Selve-Kaufhaus. Da wird das schon gelebt. Bei Büroflächen schätzt man, dass 30 Prozent obsolet werden – auch da könnte Wohnraum entstehen.
Von sich aus?
Das wird nicht klappen. Da muss öffentliches Geld rein. Das ist so. Aber wie gesagt, es gibt keine Alternative. Wir müssen mit der baulichen Struktur umgehen, die vorhanden ist. Die Innenstadt ist gebaut. Man kann nicht alles Mögliche abreißen und die großen Baudenkmäler als Rest stehen lassen. Wir müssen in dieser baulichen Struktur erkennen, was kann ich wo machen, damit dort weiteres Leben entsteht.
Wie lässt sich denn Stadt umlernen?
Oft geht es mehr um Stadtpflege als um Neugestaltung, wenn man auf die Bevölkerung hört. Bei der scheint mir gerade auch durch Corona die Sensibilität gewachsen für Nutzungen: Alle Parks waren hier jetzt ständig stark genutzt, der Deich, auch nur, um sich in der Mittagspause zu bewegen. Da gibt es noch viel mehr Möglichkeiten, zu denen man vielleicht auch mal jüngere Leute fragen muss, was ihnen dazu einfällt. Dann ist da auch wieder mehr Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen