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Die armenische Familie Esajan in der Wohnung der Mutter in Hannover Foto: Janko Woltersmann

Konflikt um BergkarabachKrieg aus der Ferne

Einst ist die armenische Familie Esajan nach Hannover geflohen. Der wieder entfachte Krieg um Bergkarabach schweißt sie neu zusammen.

G eflüchtet sein ist ein Geisteszustand, etwas, das für immer bei einem bleibt. Menschen, die vor Jahrzehnten wegen eines Krieges ihr Land verlassen haben, fühlen sich immer wieder neu vertrieben, wenn ihre Heimat unter Trommelfeuer liegt. Ivan Esajan, der vor 32 Jahren mit seiner Familie von Aserbaidschan nach Deutschland floh, würde das bestätigen, aber er ist in Eile. Unnötigerweise. Denn er hat vergessen, die Uhr auf Winterzeit umzustellen.

Es ist ein Sonntagmorgen Ende Oktober, Ivan Esajan will keine Sekunde mehr verlieren. Heute trifft sich seine Familie. Der 62-jährige Armenier hat sich vor etwa zehn Jahren von seiner Frau getrennt, seitdem wohnt er in Hamburg. Dort hat er eine andere Frau kennengelernt, er ist glücklich mit ihr. Doch seit einigen Wochen sind seine Gedanken immer häufiger bei seiner Familie in Hannover, wo seine Ex-Frau, seine drei Töchter und Enkelkinder leben. Der Krieg, wegen dem sie einst ihre Heimat verlassen haben, tobt erneut.

Am 27. September begannen zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut heftige Kämpfe um die Region Bergkarabach. Immer wieder wird diese zum Ziel schwerer Luftangriffe durch das aserbaidschanische Militär. Viele Städte und Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht. Am 10. November handeln die Kriegsparteien und Russland dann einen Waffenstillstand aus, der einen Gefangenenaustauch vorsieht. Davon aber weiß Ivan an diesem Oktobermorgen noch nichts. Und für jemanden wie ihn ist ein Waffenstillstand in einem immer wieder aufflammenden und weiterhin ungelösten Konflikt keine dauerhafte Lösung.

Tatsächlich schwelt der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte Gebiet seit mehr als 30 Jahren. Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion attackierten aserbaidschanische Milizen 1988 die armenischen Minderheiten in Aserbaidschan. Der Krieg begann 1992, zwischen 25.000 und 50.000 Menschen starben, über eine Million wurden vertrieben. Wie die Familie Esajan.

taz am wochenende

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Ivan Esajan machte sich mit seiner Frau und zwei Kleinkindern aus dem aserbaidschanischen Ganja auf die Flucht in die DDR. Er rettete so seine Familie vor der ethnischen Säuberung, die die aserbaidschanische Regierung durchführte, weil sich Armenier*innen in der Autonomieregion Bergkarabach von dem sowjetischen Aserbaidschan trennen wollten. 1991 hatte Bergkarabach – wie auch Aserbaidschan und Armenien – seine Unabhängigkeit als Republik erklärt, die allerdings bis heute von keinem Staat der Welt anerkannt wird.

Mit Hilfe der Minsk-Gruppe der OSZE, der auch die USA, Frankreich und Russland angehören, wurde 1994 ein Waffenstillstand ausgehandelt, der immer wieder gebrochen wird.

„Erst wenn die internationale Gemeinschaft die Unabhängigkeit von Bergkarabach anerkennt, wird es einen dauerhaften Frieden in der Region geben“, sagt Ivan Esajan. Dann will er los und steckt den Schlüssel in das Zündschloss. Bevor er aufs Gaspedal seines Fiat Tipo drückt, noch das: „Auch für uns gilt das Selbstbestimmungsrecht.“ Dabei betont er jedes einzelne Wort.

Er versucht, den kürzesten Weg von der Stadtmitte zur Autobahn zu finden, und ärgert sich über das Navigationsgerät, das ihm falsche Routen anzeigt. Dabei merkt er nicht, dass er sich selbst immer wieder vertippt.

Wenn es doch nur so einfach wäre, wie Ivan Esajan denkt. Sein Argument parieren Aser­baid­scha­ne­r*innen mit dem Hinweis auf eine weitere Vorschrift des Völkerrechts: Die territoriale Integrität ihres Landes. Genau dafür kämpfen sie – mit allen Mitteln. Aserbaidschan setzte zuletzt Phosphorbomben und Streumunition in Bergkarabach ein. Internationale Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch haben entsprechende Berichte vorgelegt. Die Behörden in Bergkarabach sprachen von 1.172 getöteten Soldaten.

Esajan kommt weder aus Bergkarabach, noch hat er in Armenien gewohnt. Seine Heimatstadt ist Ganja, die zweitgrößte Stadt Aserbaidschans, die heute armenische Truppen unter Beschuss nehmen. „Mein Herz tut weh, weil Ganja bombardiert wird. Aber die Armenier müssen sich verteidigen“, sagt er.

Ganja in Aserbaidschan, Heimat der armenischen Familie Esajan, nach einem armenischen Angriff Foto: AP

Ivan Esajan hat einen russischen Namen wie viele seiner armenischen Vorfahren in Ganja. Bis 1918 war Ganja, damals Elisawetpol, eine Verwaltungseinheit des zaristischen Russlands im Südkaukasus, benannt nach Zar Alexanders Frau Elisaweta. Zu Sowjetzeiten hieß die Stadt Kirowabad – zu Ehren des bolschewistischen Parteifunktionärs Kirow.

Traditionell wohnten dort Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen zusammen – nur getrennt durch den Fluss Ganja. „Am rechten Ufer lebten wir, am linken Aserbaidschaner“, sagt er, „und die Russen waren überall.“

Esajan ist klein, dünn, glatt rasiert. Durch seine Brille blickt er konzentriert auf die Straße. Er fährt hinter einem Bootstransporter her, den er nicht überholen will. Bald verengt eine Baustelle die Fahrbahn auf zwei Fahrstreifen. Am Innenspiegel hängt eine große Kreuzkette. „Sogar mein kommunistischer Vater hat das Kreuz angebetet“, sagt er und greift mit seinen Fingern nach dem schwankenden Anhänger. „Die Menschen waren damals gezwungen, an die kommunistische Ideologie zu glauben“, sagt er. Sein Vater aber wehrte sich gegen die sowjetische Propaganda, um als Angehöriger der armenischen Minderheit in Aserbaidschan seine christliche Identität zu bewahren.

Nach der Sowjetisierung des Südkaukasus gliederten die Kommunisten am 4. Juli 1921 Bergkarabach in die armenische Sowjetrepublik ein. Als Antwort darauf protestierten die aserbaidschanischen Vertreter in Moskau und meldeten ihren Anspruch auf Bergkarabach an. Am nächsten Tag schlug Josef Stalin Bergkarabach als armenisches Autonomiegebiet der Sowjetrepublik Aserbaidschan zu.

In der Sowjetunion galt 70 Jahre lang „Brüderlichkeit zwischen Völkern“. Doch ihren alten Streit vergaßen Aserbaidschaner*innen und Armenier*innen nicht. Schon vor Kriegsbeginn brachen Hass und Feindseligkeit zwischen Ar­me­nie­r*innen und Aserbaidschaner*innen aus, 1988 wurden Pogrome an Armenier*innen verübt, vor allem dort, wo sie größere Communitys bilden: in Sumgait, in Baku und in Ivans Stadt Ganja – damals Kirowabad.

Die Familie Esajan boykottiert jetzt alles, was türkisch ist – damit wollen sie gegen die türkische Unterstützung für Aserbaidschan protestieren

Dezember 1988. Ivan Esajan, der als sowjetischer Offizier im brandenburgischen Jüterbog stationiert ist, fliegt nach Hause, um seine Familie in die DDR zu holen. „Als ich nach Ganja kam, sah ich die zerstörten Häuser. Aserbaidschaner hatten sie angegriffen“, erzählt er. „Mir brach das Herz, als ich sah, dass an der Stelle unserer Weinberge nun Karotten wuchsen.“ Die Reben waren über Jahrzehnte von Generation zu Generation weitergegeben worden. Als er sah, was daraus geworden war, hatte er das Gefühl, seine Geschichte sei zu Staub geworden.

Aber, sagt er: „Das war keine Absicht.“ Die neuen Feldbesitzer hätten ihm erklärt, dass es einfacher sei, Karotten anzubauen, die Ernte sei reicher. „Nicht böse gemeint“, wurde ihm gesagt.

Als Ivan Esajan im Stau steht, laufen ihm Tränen übers Gesicht, dann verliert er sich in Details. Er redet ohne Unterbrechung, erzählt minutenlang, wie die silbernen Tassen im Weinkeller aussahen, und beschreibt jede einzelne Weintraubensorte.

Als er den Stadtbezirk Herrenhausen-Stöcken in Hannover erreicht, sucht er einen Parkplatz. Doch er zögert auszusteigen. Die Autos seiner Töchter sind noch nicht da. Er raucht noch schnell eine Zigarette und klingelt dann bei Esajan. Melanija, seine Ex-Frau, öffnet die Tür. Sie begrüßen sich herzlich. Sie nimmt seine Jacke. Er geht ins Wohnzimmer.

Melanija Esajan sieht zu Hause armenisches Fernsehen. „Es ist heutzutage unmöglich, etwas anderes zu tun“, sagt sie. Die Nachrichten aus Armenien seien leider nicht sehr ermutigend. Gerade ist der Sender „Armenia“ eingeschaltet. Es sieht so aus, als sei gerade ein Film zu Ende, der Nachspann läuft noch.

Bei näherem Hinsehen laufen Hunderte männliche Namen über den Bildschirm. Das sind die armenischen Soldaten, die bislang an der Front gefallen sind. Melanija Esajan kann kein Armenisch lesen, da sie eine russische Schule in Ganja besucht hat. Sie liest nur die Geburtsdaten, die hinter den Namen notiert sind. „Mein Gott, es sind so viele 18- bis 20-jährige Jungen gestorben. Ich kann es nicht fassen“, sagt sie und schaltet den Fernseher aus.

Melanija Esajan ist 59 Jahre alt. Damals, als sie sich mit Ivan auf die Flucht machte, war sie 27, Mutter von zwei kleinen Kindern. Das Jahr 1988 sei ein einziger Horror gewesen. Sie erzählt, wie sie den Zaun vor dem Haus unter Strom setzten und Autoreifen anzündeten, damit sich die Aserbaidschaner nicht näherten. Immer die Bilder der Stadt Sumgait im Kopf, wo Armenier*innen totgeschlagen und vertrieben worden waren.

„An einem Abend kam meine Schwester weinend zu uns und berichtete, dass eine Gruppe aserbaidschanischer Männer in ihr Haus eingebrochen sei und die Möbel zerhackt habe“, erzählt Melanija. Ärzte durften Armenier*innen nicht mehr in den Klinken behandeln. Schwangere entbanden in Kirchen. Melanija mischte Molotowcocktails und füllte die Badewanne mit Steinen, um die Angreifer damit bewerfen zu können.

Sie erinnert sich aber auch an gute aserbaidschanische Nachbarn, die mit den Armeniern gemeinsam nachts draußen Wache hielten und ihnen bei der Flucht halfen.

Am Silvesterabend 1988 verlässt die Familie Esajan Ganja. Tochter Angelika ist vier, Mery anderthalb Jahre alt. Melanija wickelt beide in Schals und hält ihnen den Mund zu. Sie dürfen kein Armenisch sprechen. Angelika ruft nach ihrer Großmutter, um sich zu verabschieden. Die aserbaidschanischen Nachbarn begleiten Melanija bis zum Flughafen von Ganja, „damit auf dem Weg nichts Schlimmeres passiert“. Als sie einander verabschieden, weinen sie.

Im Zug von Kiew nach Dresden fragt ihre vierjährige Tochter: „Mama, haben wir es geschafft? Brauche ich keine Angst mehr zu haben?“, erinnern sich Melanija und Ivan. „Jetzt nicht mehr“, haben sie damals geantwortet.

Nach der deutschen Wiedervereinigung sollen die in der DDR stationierten Soldaten der Roten Armee nach Hause zurückkehren. Doch die Familie Esajan kann nicht mehr zurück nach Aserbaidschan. Sie bekommen Asyl in Hannover und bauen sich dort ein neues Leben auf.

Als Maler streicht Ivan Gebäude und Räumlichkeiten. Ab Ende der 90er Jahre geht er als Staubsaugervertreter von Tür zu Tür. „Es war ein schwieriger Job für einen Ausländer, der vor allem ältere Deutsche überzeugen musste“, sagt Ivan. Doch dann kommen bessere Zeiten, als Ivan in den Autohandel einsteigt und Melanija in einem Imbiss Arbeit findet.

Auch, als ihre Ehe kaputt war, hätten sie Wert darauf gelegt, für die Kinder da zu sein, egal was passierte. Seit einiger Zeit kommen sie sich aber noch einmal näher. Der neu entfachte Konflikt in ihrer Heimat bringt sie zusammen.

Die Töchter und Enkel:innen kommen

Es klingelt an der Tür. Melanija springt auf, Ivan öffnet. Vier Enkel stürmen herein. Dann folgen die Töchter – Angelika, Mery und Luisa.

Mery gibt ihrer Mutter eine Tüte in die Hand. Melanija schaut hinein und strahlt. Schnell holt sie die braunen Früchte mit Kelchblättern an der Spitze heraus und beißt hinein. „Noch eine Woche, und sie sind richtig reif, aber auch jetzt schon lecker“, sagt sie. Mispeln. Mery hat die Früchte von einem Mispelbaum vor ihrem Wohnhaus gepflückt. Sie erinnern ihre Mutter an Ganja.

Melanija ist mit ihren Früchten in der Küche beschäftigt, Ivan geht auf den Balkon rauchen. Die Schwestern sitzen am Kaffeetisch. Ihre Männer haben sie zu Hause gelassen. Seit Ausbruch des Krieges haben sie diese Nähe häufiger. Sie beraten, an welcher Aktion sie teilnehmen sollen, sie erzählen sich Neuigkeiten. Sie haben gemerkt, dass sie ihre Sorgen gegenseitig am besten verstehen können. Fast jeden Tag treffen sich die Schwestern jetzt bei ihrer Mutter. Und wenn der Vater sie am Wochenende nicht besuchen kann, rufen sie ihn in Hamburg an. „Ich habe einfach das Bedürfnis, in der Familie zu sein“, sagt Angelika.

„Als mein Vater die Tür aufmachte, bin ich kurz stehen geblieben“, sagt Mery, „es war wie früher, als meine Eltern noch zusammenwohnten.“ Niemand in der Familie spricht gern über die Trennung der Eltern. Umso mehr schätzen sie die Zeit, die sie nun miteinander verbringen dürfen.

Am Kaffeetisch sucht Melanija Fotos aus dicken Stapeln heraus und erzählt Geschichten. Bald haben alle ein Foto in der Hand, der ganze Tisch ist mit Schwarzweißbildern bedeckt. „Hier hattest du noch einen Schnurrbart“, sagt Melanija zu Ivan und zeigt ihm das Foto: Darauf hält er Angelika auf dem Schoß. „Ich finde, dass der Bart gut zu dir passte“, meint Melanija noch, und Ivan lächelt. Die Töchter machen sich über die sowjetische Mode lustig.

Die jüngste Tochter ist in Hannover geboren

Die drei Schwestern sehen sich nicht ähnlich, nur haben sie alle lange schwarze Haare. „Als wir klein waren, wollte mein Vater, dass wir unsere Haare nicht schneiden lassen“, erzählen sie, „weil es die Weiblichkeit betone.“ Nun schneiden sie auch die Haare ihrer Töchter nicht, die den Mädchen den Rücken herunterfallen.

Mery ist 33. Sie ist die mittlere Tochter und die schönste Frau in ganz Niedersachsen, wie ihre Schwestern sagen. 2003 hat Mery den Titel „Miss Niedersachsen Süd“ gewonnen und präsentierte Deutschland bei allen möglichen Schönheitswettbewerben weltweit. 2006 wird sie zur besten Nachwuchsdesignerin Deutschlands gekürt. Heute hat sie einen Raum in einem Kosmetikstudio in Hannover gemietet.

Auf Instagram ruft sie ihre Follower zu Spenden für Kinder und Frauen auf, die aus Bergkarabach geflüchtet sind. Dort lebten vor dem Ausbruch der jüngsten Kämpfe etwa 150.000 Menschen. Die Männer sind an der Front. Viele Ortschaften sind mittlerweile verwaist. Bereits 90.000 Zivilisten, vor allem Kinder, Frauen und ältere Menschen, sind nach Armenien geflohen. Viele verstecken sich noch in Bunkern in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach.

„Ich habe Angst um die Kinder, die in den Kellern in Bergkarabach ausharren und sich fürchten. Sie spüren genau das, was ich damals gespürt und auch nach über 30 Jahren nicht vergessen habe“, sagt Angelika.

Die 36-jährige alleinerziehende Mutter findet: „Wir müssen jetzt handeln.“ Sie ist Assistentin der Geschäftsführung in einem Großunternehmen in Hannover. Sie nimmt sich jedoch viel Zeit für Demos, macht Aufklärungskampagnen in den Gemeinden und sammelt Spenden. Rund 10.000 Euro haben die Schwestern Esajan zusammen mit der „Armenischen Gemeinde zu Niedersachsen“ innerhalb einer Woche gesammelt. In Berlin haben sie vor dem Bundeskanzleramt demonstriert. Sie appelliert an die deutsche Regierung, die Rüstungsexporte in die Türkei zu stoppen.

Von Anfang an unterstützte die Türkei ihren Verbündeten Aserbaidschan militärisch, unter anderem mit Kampfdrohnen. Aber bei der Entwicklung und Herstellung der Munition dürften auch deutsche Technologien eine wichtige Rolle gespielt haben. Das legen Recherchen des ARD-Magazins „Monitor“ nahe.

Die Familie Esajan boykottiert jetzt alles, was türkisch ist – aus Protest gegen die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Das haben sie miteinander abgesprochen. Sie machen auch bei der Kampagne „Boycott Turkey“ mit. Viele in Deutschland lebende Armenier*innen verzichteten auf türkische Produkte. Sie kaufen keine Lebensmittel mehr in türkischen Läden, essen nicht mehr in türkischen Imbissen und besuchen keine türkischen Restaurants. Auch türkische Frisörsalons sollen weniger armenische Kund*in­nen haben.

Sie boykottieren Geschäfte von türkeistämmigen Händlern

„Auch wenn man Kartoffeln in einem türkischen Laden in Deutschland kauft, unterstützt man türkische Großhändler“, sagt Angelika. „Das wollen wir nicht, weil das Geld in die Türkei fließt. Auf unsere Kosten kauft die türkische Regierung Waffen und setzt sie gegen uns ein“, erklärt sie, und die anderen stimmen ihr zu.

So ist es nicht immer, oft diskutieren sie. Angelika fühlt sich besonders betroffen, fährt eine härtere Linie als ihre Schwestern. Mery glaubt an die Idee, dass man auch heute noch in Frieden zusammenleben kann, wenn man den Willen dazu hat. Mutter Melanija unterstützt Angelikas Position, Vater Ivan ist vorsichtig und geht, wenn die Diskussion hochkocht, lieber eine rauchen.

Luisa hält sich bei dem Gespräch zurück. Sie ist die jüngste Schwester, 24 Jahre alt, in Hannover geboren. Mit der Fluchtgeschichte hat sie direkt nichts zu tun. Doch sie ist diejenige in der Familie, die am besten Armenisch spricht. Sie ist mit einem armenischen Mann verheiratet und hat einen großen armenischen Freundeskreis. In der Grundschule malte sie armenische Flaggen auf ihre Schulhefte, erzählt sie. Und ihre Mutter fügt hinzu, je häufiger die Lehrer*innen das verboten hätten, desto größer sei die Flagge auf der nächsten Seite des Heftes geworden. Dafür sei Melanija mehrmals in die Schule bestellt worden.

Nun lachen die Frauen am Tisch. Nur der Vater bleibt still und sagt: „Ich bin stolz auf meine Töchter.“ Obwohl sie zuletzt vor 20 Jahren in Armenien waren, fühlen sie sich zu Armenien wie zu einer „leiblichen Mutter“ hingezogen, dort seien ihre Wurzeln. „Wie sind nicht alle in Armenien geboren, doch Armenien ist in uns geboren“, sagt Mery.

Verkörpert durch die Anwesenheit der Familie, das gegenseitige Verständnis. Melanija hat ihre Familie durch den Krieg noch einmal neu kennengelernt, sagt sie. Mery sei eine Friedenstaube. Luisa ein Dickkopf, obwohl sie am ruhigsten wirke. Angelika sei kämpferisch und emo­tional. Und Ivan?

Der ist unruhig, weil es schon spät am Abend ist und er nach Hamburg zurückfahren muss. Seine zweite Frau hat Verständnis dafür, dass Ivan mit seiner Familie noch eng verbunden ist. Auch sie ist Armenierin und versteht, dass der Krieg Menschen verbindet. „Kinder, der Opa geht“, rufen Ivans Töchter, und prompt stehen alle seine Enkel in einer Reihe vor der Tür. Ivan gibt jedem einen Kuss. „Hier, nimm das, du mochtest das doch immer“, sagt Melanija zu Ivan und gibt ihm ein Glas mit selbst gemachter Kornelkirschen-Marmelade. Ivan steckt das Glas in seine Jackentasche, umarmt Melanija und verlässt rasch die Wohnung.

Nun wollen die Töchter, dass ihre Mutter noch im Kaffeesatz liest. Die Tassen sind längst getrocknet und liegen kopfüber auf den Untertassen. Melanija nimmt eine in die Hand und guckt hinein. Sie sehe zwei Soldaten, mit Engelsflügeln, und zwischen beiden einen prächtigen Baum. Das solle bedeuten, dass „wir bald in Frieden leben“.

Als die Nachricht vom Waffenstillstand bekannt wird, reagieren die Esajans verhalten. „Das war ein Deal zwischen Wladimir Putin und Ilham Alijew, dem Präsidenten von Aserbaidschan“, ruft Ivan am 10. November ins Telefon. Er hätte sich gewünscht, dass der Krieg weitergehe, damit Armenier*innen ihre Heimat verteidigen können. „Wir haben unser Land in den 90ern mit Blut befreit, und dafür geben wir es jetzt mit Blut zurück.“

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4 Kommentare

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  • Tut mir leid für die Familie...

    Ich bin aber sicher sehr ähnliche Geschichte haben Aserbaidschanische Familien auch.....

  • Die aserbaidschanische Seite hat sicher ähnliches zu erzählen.

  • Zitat: „Auch für uns gilt das Selbstbestimmungsrecht.“

    Gerade weil das Recht auf Selbstbestimmung universell ist, muss es da enden, wo es für andere zum Zwang wird, Fremdbestimmung zu ertragen.

    Schade, dass dieser einfache Grundsatz so wenig Beachtung findet. Ist eben doch Mist, wenn das Angeborene Gerechtigkeitsempfinden auch heute noch lange vor dem Einsetzen der Pubertät final geopfert wird auf dem Altar des autoritären Patriarchats. Unter welchem Vorwand auch immer.

  • Zitat: „Geflüchtet sein ist ein Geisteszustand, etwas, das für immer bei einem bleibt.“

    Mein Vater und auch mein Mann sind Geflüchtete. In gewisser Weise gehöre auch ich in diese Kategorie. Ich weiß also aus praktisch-privater Anschauung, dass an der zitierten Behauptung was dran ist. Ich weiß allerdings auch, dass es nicht ein „Geisteszustand“ ist, der von Flucht-Erfahrungen ausgelöst wird. Es sind mindestens drei verschiedene.

    Wir Menschen unterscheiden uns. Allerdings weniger nach unserer Hautfarbe, unserem Geschlecht oder unserer Herkunft, als danach, wie wir mit unseren Traumata umgehen. Ein großer Teil von uns reagiert (auto-)aggressiv, ein kleinerer passiv und wieder ein anderer, sehr kleiner Teil mit Rationalisierung. Die Grenzen fließen.

    Ich schätze, (auch) an dieser Stelle treffen menschliche Erbanlagen und Sozialisierung verstärkend, abschwächend oder auch ausgleichend aufeinander. Soll heißen: Während wir alle nach Glück streben, suchen wir uns jeweils die Ideologie aus dem vielfältigen Angebot heraus, die am besten zu unserer Veranlagung passt und zugleich die wenigsten inneren Konflikte auslöst, weil sie in möglichst geringem Widerspruch zu unseren gesellschaftlichen Prägungen steht.

    Ins Extrem getrieben, kann das individuelle Streben nach Glück leider direkt in den kollektiven Untergang führen. Weil es zur Spaltung der Gesellschaft führt, und zwar bis in die persönlichen Beziehungen hinein. Es führt dazu, dass Menschen zu Mitteln greifen, deren Folgen sie vor lauter „Geisteszustand“ nicht erkennen. Weil sie a) ihren vermeintlichen Feind nicht mehr als Teil der eigenen Identität ansehen und b) nach Ersatz für diesen Verlust suchen.

    Hier setzen auch Nationalismus und Faschismus an. Sie bietet Entlastung, weil sie von oben her ein gemeinsames Wir über die glückssüchtigen Kampfhähne stülpt, dem sie sich um so bereitwilliger unterwerfen, je wichtiger ihnen persönlicher Bezug ist - und je geringer ihre geistigen Kapazitäten sind.