Theologe kritisiert Volkstrauertag: Heldengedenken gehört abgeschafft
Am Sonntag ist Volkstrauertag. Der Hamburger Ex-Pastor Ulrich Hentschel vermisst das Bekenntnis der Politik zur Verantwortung für zwei Weltkriege.
Ob und wie viele Gedenkfeiern zum Volkstrauertag im Coronajahr 2020 stattfinden, wissen wir nicht. Doch die Zäsur kann Anlass sein, einmal genauer und damit auch kritischer über Rituale und Themen nachzudenken.
Denn obwohl sich das Volk kaum noch dafür interessiert, finden zu „normalen“ Zeiten in Stadt und Land stets die traditionellen Rituale zum Volkstrauertag statt: Auf einen Gottesdienst folgt die Kundgebung am Kriegerdenkmal, die Aufstellung der Feuerwehr, oft samt einer Abordnung der Bundeswehr, Musik, eine Rede, die Ablage von Gedenkkränzen.
Die Tradition und der Ort der Kundgebung geben vor, dass der „Gefallenen“ der beiden Weltkriege gedacht wird. Nach dem Ritual kündet das Kriegerdenkmal dann wieder 365 Tage lang unwidersprochen vom Opfer der Helden, Brüder und Söhne für Volk und Nation, Gott und Vaterland.
Es ist kein Zufall, dass die meisten Kriegerdenkmäler errichtet wurden, als der Volkstrauertag1919 auf Initiative des „Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ als „Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten“ des Ersten Weltkriegs eingeführt wurde. Erstmals begangen wurde er 1925. Der Erste Weltkrieg mit Millionen getöteter Soldaten war wenige Jahre zuvor mit der deutschen Niederlage zu Ende gekommen, und es gab erstmals in Deutschland eine demokratische Staatsform. Da diente der Volkstrauertag der Propaganda gegen die Weimarer Republik und der Stärkung deutschnationaler und revanchistischer Bestrebungen.
Man trauerte, aber nicht um die Opfer
Die Kirchen waren fast überall mit im Boot. Man trauerte, aber nicht um die Opfer des Ersten Weltkrieges, sondern über die Niederlage des Deutschen Reiches. „Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen“ ist ein Zitat des Dichters Heinrich Lersch, das sich auf Kriegsdenkmälern wie dem umstrittenen „Kriegsklotz“ am Hamburger Dammtor-Bahnhof findet.
70, war bis 2015 Studienleiter für Erinnerungskultur an der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Zuvor war er 18 Jahre lang Gemeindepastor in Hamburg-Altona.
Doch es gab auch Widerspruch. Die Hamburger kommunistische Zeitung Der Abend betitelte einen Kommentar: „Volkstrauertag – Kriegshetzertag“. Und selbst die Vereinigung ehemaliger Kriegsgefangener widersprach dem Missbrauch des Gedenkens für neue militaristische Ambitionen.
Diese Anti-Kriegs-Stimmen aus SPD, KPD und kleinen pazifistischen Gruppen konnten sich bekanntlich nicht durchsetzen. Selbst da, wo sie neue Kriegerdenkmäler als Kultorte für den Volkstrauertag zunächst blockieren konnten, wie in Hamburg und Pinneberg, rüsteten die Nazis nach ihrem Machtantritt 1933 schnell nach. Und dem Volkstrauertag gaben sie die schon lange zutreffende Bezeichnung „Heldengedenktag“.
Mit dem Heldengedenken war es 1945 zunächst vorbei. Aber schon 1950 zelebrierte man im Deutschen Bundestag die erste zentrale Feierstunde des „Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge“. Damals gab es noch zahlreiche Männer im Bundestag und beim Volksbund, die der NS-Politik gedient oder von ihr profitiert hatten. Erst knapp fünf Jahrzehnte später, 1997, formulierte der Bundestag bei einer Debatte über die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure und der Opfer von NS-Militärjustiz: „Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.“
Redner priesen die Tapferkeit der Soldaten
Doch bis dahin waren Reden und Rituale am Volkstrauertag geprägt vom Lobpreis der Tapferkeit deutscher Soldaten, von ihrem Vorbildcharakter für die Bundeswehr. Und auch wenn die Rhetorik nun weitgehend auf Revanche-Parolen verzichtete, dominierte die Faszination des „guten Soldaten“ die Reden.
Das begann sich erst mit der Friedensbewegung zu ändern, die auch Parlamente, Parteien und Kirchen erreichte. Man erinnerte nun auch an die zivilen Opfer der Kriege, an die ermordeten Juden, Roma und Sinti, Widerstandskämpfer und Zwangsarbeiter. Später auch an die bei Militäreinsätzen im Ausland getöteten deutschen Soldaten.
So wurde der Volkstrauertag zu einem Selbstreinigungsritual, in dem man sich versicherte, durch das Gedenken an sämtliche Tote des Zweiten Weltkriegs eine versöhnte und „normale“ Nation zu sein. Insofern spiegelte sich im Volkstrauertag das vorherrschende (erinnerungs-)politische Selbstverständnis in diesem Land.
Dabei darf man nicht übersehen, dass sich zunehmend wieder Burschen- und Landsmannschaften sowie kleine Nazi-Gruppen an Kriegerdenkmälern versammeln. Sie sehen sich ermutigt durch den Nazi-Förderer und AfD-Spitzenmann Alexander Gauland, der 2017 sagte: „Wir haben das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“.
Deutsche Kriegszüge werden bis heute relativiert
Die offiziellen Gedenkfeiern am Volkstrauertag halten sich von dieser Huldigung der Wehrmacht zwar fern, aber sie relativieren die deutschen Kriegszüge in den Weltkriegen. Das spiegelt sich auch in dem Totengedenken, das seit 1952 der jeweilige Bundespräsident vorträgt. In der aktuellen Fassung heißt es unter anderem: „Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg..., gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden... Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung festhielten.“
Die zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag findet am 15.11.2020 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Berlin statt. Gastredner ist Prinz Charles. Das ZDF überträgt die Feier ab 13.30 Uhr live.
Schon die Sprache ist euphemistisch: Aus Ermordeten werden Menschen, „die den Tod fanden“. Aus Nazi-Deutschland wird eine „Gewaltherrschaft“. Es wird nicht zwischen Angreifern und Angegriffenen unterschieden. Alle sind Opfer. Und nicht ein einziges Mal wird Deutschland als Verursacher all des Leidens genannt. Hier findet keine Auseinandersetzung mit der Schuld statt: der Schuld der getöteten Soldaten ebenso wie der der Kirchen, die den Kriegen ihre Zustimmung gaben.
Denn viele der „Soldaten, die in den Weltkriegen starben“, wozu auch die Männer der Waffen-SS gehörten, waren beteiligt an der Ermordung von Juden, Roma und Sinti. Viele dieser Soldaten waren beteiligt an der Zerstörung ganzer Dörfer und dem Mord an ihren EinwohnerInnen sowie an der Blockade Leningrads, deren einziges Ziel der Hungertod der Einwohner war. Dieser Soldaten in einem Atemzug mit ihren Opfern zu gedenken: Diese Praxis offenbart den anhaltenden Versuch, deutsche Schuld zu relativieren und sich der Schuldgeschichte nicht zu stellen.
Darüber hinaus wird oft behauptet, dass das Ritual des Volkstrauertages und sein Ort, das Kriegerdenkmal, Raum für Trauer böten. Das stimmt nicht. Trauer um Vater, Sohn und Ehemann, der im Krieg getötet wurde, gilt einem Individuum, nicht dem uniformierten Soldaten – und kann nur persönlich gelebt werden. Sie hat einen äußeren Ort am Grab auf dem Friedhof. Wo eine solche Bestattung während des Krieges nicht möglich war, gibt es unpersönliche Soldatenfriedhöfe. Es ist fraglich, ob sie Raum für das Nachdenken über den Grund für Kriegstod schaffen.
Oft militärische Symbole an Kriegerdenkmälern
Auch die Rituale des Volkstrauertages an „Kriegerdenkmälern“ sind darauf angelegt, die Trauer um die getöteten Soldaten zu kollektivieren. Kriegerdenkmäler und die zugehörigen Gedenkfeiern propagieren einen höheren Sinn für den Tod der Soldaten: Deutschland, Volk, Heimat, Kaiser und Nation. Die Ausgestaltung der Kriegerdenkmäler mit militärischen Symbolen stärkt zudem oft eine kriegsförderliche Mentalität.
All das muss sich ändern. Der Volkstrauertag sollte zu einem Tag der Erinnerung an Deutschlands Verantwortung für zwei Weltkriege werden. Bis es soweit ist, bleibt die kritische Befragung und Veränderung der bestehenden Rituale und Inhalte dringend notwendig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen