Kita- und Schulöffnungen in Deutschland: Kids sind keine Superspreader

Die Gesundheitsministerien sind für die baldige Rückkehr von Kitas und Schulen zum Normalbetrieb. Grund sind die niedrigen Ansteckungsraten.

Endlich wieder Kita – und die Freude ist groß! Foto: Jens Büttner/dpa

Berlin taz | Bei der Übertragung des Coronavirus in Deutschland sind Kinder offenbar keine Superspreader. Seit der schrittweisen Wiederöffnung von Kitas und Schulen Ende April verzeichneten die zuständigen Behörden in den Ländern jedenfalls keine Ausbrüche, die auf ein vermehrtes Infektionsgeschehen in Kindergärten oder Schulen zurückzuführen gewesen wären.

Tageweise Schließungen von Gemeinschaftseinrichtungen, einzelnen ihrer Gruppen oder Klassen aufgrund von Corona-Infektionen stellten eine Ausnahme dar. Das ist das Ergebnis einer schriftlichen Umfrage der taz bei allen 16 Landesgesundheitsministerien, an der sich bis Sonntag 12 der 16 Landesministerien beteiligt hatten, darunter die bevölkerungsreichen Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen.

Angesichts der niedrigen Ansteckungszahlen bei den Kindern und der – bezogen auf das Infektionsgeschehen – durchweg positiven Beobachtungen des neuen, allerdings sehr eingeschränkten Kita- und Schulalltags sprechen sich die elf Landesgesundheitsministerien von Berlin, Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein dafür aus, dass Kindergärten allerspätestens nach den Sommerferien wieder in den gewohnten Regelbetrieb zurückkehren sollen.

Einzig Sachsen möchte hierzu noch keine „konkrete Empfehlung“ abgeben. Die Ministerien von Brandenburg, Bremen, Thüringen und dem Saarland haben die Anfrage der taz bislang nicht beantwortet.

Der Beschluss Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) spricht sich für eine schnelle Rückkehr zum schulischen Regelbetrieb aus, sofern die Infektionsentwicklung dies zulässt. Das beschlossen die Minister am vergangenen Freitag.

Die Begründung KMK-Präsidentin Dr. Stefanie Hubig erklärt: „Unsere Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf Bildung. Und dieses Recht kann am besten in einem möglichst normalen Schulbetrieb umgesetzt werden.“ Die Coronakrise habe noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass Schule viel mehr sei als Unterricht. „Es ist ein sozialer Raum, den Kinder und Jugendliche dringend brauchen“, führt Hubig aus.

Auch Schulkinder sollen laut der Hälfte der an der taz-Umfrage teilnehmenden Landesgesundheitsministerien noch kurz vor den Sommerferien (Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen) oder spätestens danach (Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) im gewohnten Regelbetrieb Präsenzunterricht erhalten. Hamburg strebt dies zumindest für die Grundschüler des Stadtstaats an.

Fünf Landesgesundheitsministerien (Bayern, Hessen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen) geben an, zunächst das Infektionsgeschehen weiter beobachten oder entsprechende Empfehlungen für den Schulbetrieb mit Rücksicht auf die Ressortzuständigkeit ihren jeweiligen Kultusministerien überlassen zu wollen.

Insgesamt liegen die temporären Schließungen aufgrund einzelner Corona-Infektionen von Kindern oder Beschäftigten an Kitas und Schulen seit deren schrittweiser Wiederöffnung in den zwölf Bundesländern in einem äußerst niedrigen Bereich: Nach Angaben der befragten Ministerien mussten in den meisten Bundesländern seither weder Kitas noch Schulen vorübergehend geschlossen werden.

Bayern vermeldet eine „einstellige Zahl“ an temporären Kitaschließungen sowie „einzelne Klassen“ an Schulen, die vorübergehend die Gebäude nicht betreten durften. Im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen mit knapp 18 Millionen Einwohnern, davon mehr als zwei Millionen Kindern und Jugendlichen, mussten seit Ende des Lockdowns insgesamt fünf Kitas sowie eine Kitagruppe vorübergehend geschlossen werden; bei den Schulen gab es vier Schließungen und zwei Teilschließungen.

Gesundheitsministerien sehen Forschungsbedarf

In Niedersachsen wurde nach Angaben des Landesgesundheitsministeriums seit Wiederöffnung Ende April lediglich eine Schule an einem Tag geschlossen, eine weitere für drei Tage – bei landesweit rund 3.000 Schulen. „Aufgrund der Sonderlage in und um Göttingen“, schreibt das Ministerium mit Bezug auf den dortigen aktuellen Ausbruch, der möglicherweise auf große Familienfeiern zurückzuführen ist, seien derzeit elf weitere Schulen hinzugekommen, an denen zurzeit kein Präsenzunterricht stattfinden könne.

Allerdings betont das niedersächsische Gesundheitsministerium: „Die Ausbruchsgeschehen stehen primär nicht im Zusammenhang mit Schulen oder Kindertagesstätten.“ Vielmehr seien sie in betrieblichen Kontexten, in einer Unterkunft für Geflüchtete oder bei Feiern aufgetreten.

Intensiv beschäftigt die Landesgesundheitsministerien die Frage, ob das Virus, sofern es in Gemeinschaftseinrichtungen ausbricht, häufiger von Kindern auf Kinder, von Kindern auf Erwachsene, von Erwachsenen auf Kinder oder von Erwachsenen auf Erwachsene übertragen wird. Mit Verweis auf die international bisher nicht abschließend geklärte Forschungslage möchte sich das Gros der Landesgesundheitsministerien hierzu jedoch nicht äußern.

Niedersachsen immerhin wagt eine vorsichtige Einschätzung aufgrund bisheriger empirischer Beobachtungen, die Kinder von dem Verdacht entlastet, Virusschleudern zu sein: „Das Umfeld der Ausbrüche in Niedersachsen deutet allerdings darauf hin, dass Kinder nicht primär betroffen sind.“

Viele Bundesländer sind sich einig

Sachsens vorläufige Erkenntnisse lauten ähnlich: „Nach Rücksprache mit den Gesundheitsämtern ist eine ursächliche Weitergabe von Kindern auf andere Kinder nicht bekannt.“ Berlin teilt mit, dass es sich bei den Verdachtsfällen in den Kitas „bei dem überwiegenden Teil um Erwachsene“ und nur einmal um ein Kind handelte. Auch in den Schulen der Hauptstadt seien „eher Lehrkräfte betroffen“.

Bayern schreibt: „Nach den bisher erhobenen Daten scheinen Kinder etwas weniger empfänglich für eine SARS-CoV-2-Infektion zu sein und spielen im Übertragungsgeschehen möglicherweise eine geringere Rolle als Erwachsene, obgleich erste Studien zur Viruslast bei Kindern keinen wesentlichen Unterschied zu Erwachsenen erbracht haben.“

Und Baden-Württemberg, dessen Landesregierung im April eine eigene wissenschaftliche Untersuchung an vier Unikliniken zur Infektiosität von Kindern unter zehn Jahren beauftragt hatte, zieht mit Verweis auf erste Zwischenergebnisse der Studie den Schluss, es „könne ausgeschlossen werden, dass Kinder besondere Treiber des Infektionsgeschehens“ seien. Und: „Kinder bis zehn Jahre spielen damit bei Corona als Überträger eine untergeordnete Rolle.“

Nordrhein-Westfalen weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die meisten bisherigen Studien zur Infektiosität von Kindern während des Lockdowns durchgeführt wurden. Damit seien sie allerdings nur bedingt aussagekräftig. Denn es werde, so das Ministerium, „nicht berücksichtigt, dass Kinder aufgrund dieser Situation weniger Expositionen außerhalb des Haushalts hatten als Erwachsene“.

Unterstützung zusätzlicher Forschung geplant

In Alltagssituationen bestünden aber in der Regel häufigere und engere körperliche Kontakte. Das Ministerium gibt zu bedenken: „Rückschlüsse auf die Normalsituation mit geöffneten Bildungseinrichtungen können daher bisher nicht gezogen werden.

Unterdessen wollen sieben Bundesländer weitere Studien initiieren oder unterstützen, um mehr über die Infektiosität von Kindern zu erfahren. Das Forschungsinteresse ist enorm. Bayern etwa plant in Kooperation mit den bayerischen medizinischen Fakultäten eine so genannte „Sentinel-Überwachung“ von Kitas und Schulen, also stichprobenartige, anonyme Erhebungen zur Verbreitung des Virus in dortigen Gruppen.

Sachsen hat in Kooperation mit der Universität Leipzig eine Studie bei Lehrkräften und Schülern in den Regionen Dresden, Zwickau und Leipzig angeschoben und eine weitere gemeinsam mit der Universität Dresden bei Schülern und Kita-Kindern und deren Sorgeberechtigten in den Regionen Dresden und Bautzen. Zudem plant das Land Studien zur Allgemeinbevölkerung und in Pflegeheimen.

Mecklenburg-Vorpommern erwartet „in Kürze“ Ergebnisse einer Studie der Universitätsmedizin Rostock zur Antikörperentwicklung von Müttern. In Schleswig-Holstein soll der öffentliche Gesundheitsdienst demnächst wiederholte stichprobenartige Tests bei Kindern und Personal in Bildungseinrichtungen durchführen, um so Erkenntnisse für die Übertragungsweise zu gewinnen.

Breit angelegte Screening-Studien startet

Hamburg unterstützt mehrere bereits laufende Studien, darunter die City Health Study am Universitätsklinikum Eppendorf, die gezielt die Immunität der Hamburger Bevölkerung – unter anderem bei bis zu 1.000 Kindern und Jugendlichen – erforscht.

Hessen will in Kooperation mit Virologen des Universitätsklinikums Frankfurt ab dieser Woche in 60 Kindergärten des Landes jeweils 25 Kinder und ihre Erzieherinnen über acht bis zwölf Wochen wöchentlich auf das Virus testen lassen, um mehr über die Rolle von Kindern bei der Übertragung des Virus und die Gefährdung von Kindern und Personal in den Kitas zu erfahren.

Mit einer ähnlichen, sehr breit angelegten Screening-Studie an 24 Kitas und 24 Schulen hat der Berliner Senat vorige Woche Forscher der Charité beauftragt. Ausgewählte Beschäftigte sowie Kinder sollen dort über einen Zeitraum von zwölf Monaten regelmäßig auf das Virus untersucht werden, um die geplante Rückkehr zum Normalbetrieb wissenschaftlich zu begleiten.

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