Kommentar Stichwahl in der Ukraine: Der richtige Mann für den Frieden

Die Ukraine zeigt Risikofreude. Komiker Selenski mag wenig über praktische Politik wissen, dennoch sollte sich die EU auf den neuen Präsidenten einlassen.

Wolodymyr Selenski feiert mit vielen Menschen, es regnet Konfetti

Wolodimir Selenski als neue Hoffnung der Ukraine? Foto: imago images/Xinhua

Da sage noch mal jemand, die UkrainerInnen seien nicht experimentierfreudig oder hätten keinen Mut zum Risiko. Mit ihrem überdeutlichen Votum für Wolodimir Selenski in der zweiten Runde der Präsidentenwahl haben sie einen Mann ins höchste Staatsamt befördert, über dessen künftiges Handeln sich derzeit nur spekulieren lässt.

Dennoch sollte die Europäische Union sich auf Selenski einlassen. Der Quereinsteiger bedeutet nicht nur Risiko und Ungewissheit, sondern auch eine Chance – für die Ukraine, aber auch für Europa und den festgefahrenen Konflikt im Donbass.

Der Komiker und Fernsehstar mag von praktischer Politik keinen Schimmer haben. Seine programmatischen Aussagen waren und sind nebulös. Und ihm fehlt eine Hausmacht im Parlament, was der Durch- und Umsetzung seiner politischen Vorhaben nicht gerade förderlich sein dürfte. Doch allen Unkenrufen und Bedenken zum Trotz stimmten rund 73 Prozent der WählerInnen für Selenski – ein Rekordergebnis in der Geschichte der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991.

Dieser immense Vertrauensvorschuss beinhaltet eine weitere wichtige Botschaft. Er ist eine klare Absage an die plumpen Versuche des abgewählten Amtsinhabers Petro Poroschenko, mit nationalistischer Rhetorik zu polarisieren, bestehende Gräben in der ukrainischen Gesellschaft weiter zu vertiefen und für eigene politische Ziele zu instrumentalisieren. Das gern bemühte Narrativ von Ost gegen West, von russisch versus ukrainisch geprägten Landesteilen – es verfing nicht und hat als Erklärungsmuster offensichtlich ausgedient.

Vage Möglichkeit einer Friedensperspektive

Genau deshalb birgt die Wahl Selenskis auch Hoffnung. Der neue russischsprachige Präsident, dessen Ukrainischkenntnisse ausbaufähig sind, könnte das Freund-Feind-Schema durchbrechen und zum Versöhner und Brückenbauer in seinem Land werden. Sollte dieses – zugegebenermaßen recht ambitionierte – Unterfangen gelingen, böte sich vielleicht endlich auch ein Weg, um den Donbass dauerhaft zu befrieden.

Schon lange ist dieser Konflikt, mit über 12.000 Toten, vom Radar internationaler Aufmerksamkeit verschwunden. Dass immer wieder neue Opfer zu beklagen sind, ist genauso wenig der Erwähnung wert, wie der Umstand, dass das Minsker Friedensabkommen von 2015 praktisch gescheitert ist. Europa hat Sanktionen verhängt und verurteilt die Annexion der Krim, doch in diesem Zustand verharrt der Konflikt.

Zumindest die vage Möglichkeit einer Friedensperspektive für den Osten der Ukraine sollte für Brüssel Grund genug sein, sich auf Selenski einzulassen und ihn bis zum Beweis des Gegenteils zu unterstützen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.