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Kommentar Erwerbsarmut in DeutschlandRaus aus dem Niedriglohnsektor!

Jörg Wimalasena
Kommentar von Jörg Wimalasena

Millionen leben in Armut, die Bundesregierung ergreift kaum Maßnahmen. Ein deutlich höherer Mindestlohn wäre ein wichtiger erster Schritt.

Eine viel kräftigere Erhöhung wäre nötig, damit der Mindestlohn ein Leben über der Armutsgrenze ermöglicht Foto: dpa

G erhard Schröder hatte Großes zu verkünden, als er am 28. Januar 2005 das Wort beim World Economic Forum in Davos ergriff. Deutschland habe „einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“, sagte der SPD-Politiker mit Blick auf die eigene Agenda-Politik stolz.

13 Jahre später zeigen sich die Effekte der „Liberalisierung“ des Arbeitsmarkts deutlich: 7,5 Millionen Menschen arbeiten in Minijobs, abgabenreduziert für die Arbeitgeber, weitgehend perspektivlos für die Arbeitnehmer. Mehr als 1,1 Millionen Menschen verdienen so wenig Geld, dass sie Anspruch auf Hartz IV haben. Und zwischen 2004 und 2014 hat sich der Anteil derer, die trotz Job unter Erwerbsarmut leiden, auf fast 10 Prozent verdoppelt.

Die Nationale Armutskonferenz hat mit ihrem Schattenbericht zu sozialen Rechten erneut auf das Phänomen der „working poor“ aufmerksam gemacht. Doch die Bundesregierung ergreift noch immer kaum Maßnahmen, um zu verhindern, dass trotz Job und guter Konjunktur in einem der reichsten Länder der Welt Millionen in Armut leben.

Es bräuchte dringend einen Paradigmenwechsel beim Mindestlohn. Dieser reicht vor allem in den teuren Großstädten weder für ein Leben ohne Hartz IV, noch verhindert er Altersarmut. Außerdem orientiert er sich bisher nur an der Tarifentwicklung, weshalb der Lohnabstand von Gering- zu Normalverdienern sich kaum verringert. So steigt der Mindestlohn im Januar nur um 35 Cent auf 9,19 Euro.

Eine viel kräftigere Erhöhung wäre nötig, damit der Mindestlohn ein Leben über der Armutsgrenze und eine existenzsichernde Rente ermöglicht. Laut einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erreichen nur Arbeitnehmer das Niveau der Altersgrundsicherung, die bei 40 Beitragsjahren mindestens 12,84 Euro pro Stunde verdient haben. An diesem Niveau sollte sich ein Mindestlohn orientieren. Das wäre ein erster Schritt, um das zweifelhafte Prädikat des „besten Niedriglohnsektors Europas“ zu verlieren.

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Jörg Wimalasena
Redakteur Inland
bis Januar 2022
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4 Kommentare

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  • Die Sanktionen der Jobcenter bei Verweigerung eines Restscheißjobs dienen der Durchsetzung eben dieses Niedriglohnsektors.

  • Dazu sollte jede Tätivkeit sozialversicheru gspflichtig sein, wobei bei einem Ei kommen bis zur Grundsicherung+20% der volle Beitrag durch den Arbeitgeber zu leisten ist.

  • abschaffung der 450eu jobs waere mindestens genauso wichtig.

  • Es ist doch ein Quatsch zu glauben, ein staatlich verordneter Mindestlohn würde funktionieren. So könnte man beispielsweise auch festpreise für Brot oder Bier anordnen. Was glauben sie was dann passieren würde? Nein, der Staat kann beispielsweise die Steuern senken und den eigenen Haushalt mal ordnen. Mehrwertsteuer abschaffen würde für jeden gleich mal 20% mehr Geld bedeuten. Lohnsteuer abschaffen bis Verdienst von 2000,-Euro. Das würde den Menschen helfen. Aber klar, als Politiker kann man sich sozial hinstellen wenn man höheren Mindestlohn fordert. Kostet die Politik gar nichts, nein bringt auch noch höhere Einnahmen durch steigende Lohnsteuereinnahmen. Und wer Ihnen erzählt hat, dass bei Minijobs keine Abgaben anfallen weiss auch nicht Bescheid. 450-Euro Jobs werden pauschal mit 30% besteuert, von dem der Arbeitnehmer gar nichts davon hat, Vater Staat aber allemal 150 Euro pro Monat pro Minijobber. Bei einem Stundenlohn von 9 € ergeben sich also bei 50 Stunden Arbeit ein tatsächlicher Stundenlohn von 12 Euro! Mal so zum nachdenken...