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Staatliche Repression in RusslandGefangen im System

Russische Beamte leugnen es, aber Aktivisten behaupten, gefoltert worden zu sein. Immer mehr von ihnen fliehen nach Finnland. Eine Begegnung.

Spuren von Fixierung an Ilyas Handgelenken, zweieinhalb Monate nach dem Verhör Foto: Paul Toetzke

HELSINKI taz | Es gibt zwei Sorten von Schmerz, sagt Ilja Kapustin: Schmerzen, die man kennt und auf die man sich einstellen kann, und Schmerzen, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie existieren, bis man sie zum ersten Mal spürt. Das, was er am 25. Januar 2018 erlebt hat, waren solche, ihm bislang unbekannte Schmerzen. Er sagt: „Es waren die schrecklichsten drei Stunden meines Lebens.“

An einem frostigen Aprilabend, knapp zweieinhalb Monate nach der „Horrornacht“, sitzt der 27-Jährige in der hinteren Ecke eines Restaurants im Norden Helsinkis und blickt schüchtern um sich. Er dreht sich zur Seite, sodass es die anderen Gäste nicht sehen können, und zieht seinen Anorak samt T-Shirt hoch. Seine Hüfte und sein Bauch sind mit verblassten roten Flecken übersät.

Was aussieht wie Überbleibsel einer langwierigen Hautkrankheit, sind Spuren von Folter. Genauer: Verbrennungen, die ihm, so erzählt Kapustin, russische Geheimdienstbeamte zugefügt hätten, jene maskierten Männer, die ihn am Abend des 25. Januar 2018 auf dem Weg von der Fahrschule zu seiner Wohnung in St. Petersburg auf den Boden geworfen und in einen schwarzen Mini­van gezerrt haben sollen.

„Einer hat sich auf mein Bein gekniet und mir einen Elektroschocker an den Bauch gehalten“

Ilja Kapustin

„Sie haben meine Jacke geöffnet und mein T-Shirt hochgezogen. Einer hat sich auf mein Bein gekniet und mir einen Elektroschocker an den Bauch gehalten. Dann haben sie nach verschiedenen Namen gefragt, und jedes Mal, wenn ich sagte, ich wüsste nichts, haben sie mir einen ­Elektroschock verpasst. Fünf bis zehnmal hintereinander. Auch in die Hüfte und den Intimbereich. “

Die dreistündige Fahrt endet um ein Uhr nachts im Gebäude des russischen Geheimdienstes FSB, wo Kapustin erneut befragt wird. Von diesem Verhör gibt es ein Protokoll. Dass die Männer Kapustin gedroht haben, ihm die Beine zu brechen und ihn bei minus 15 Grad im Wald auszusetzen, steht da nicht drin. Und auch nicht, dass sie Kapustin mit der Warnung gehen ließen, man könne eine Bombe bei ihm verstecken und ein paar Tage später zu einer Hausdurchsuchung vorbeikommen. Aber Kapustin erinnert sich an diese Aussagen sehr genau und auch daran, dass er dachte: „Das ist mein Ende.“

Die Geschichte ist viel größer

Fünf Tage nach dem Vorfall entschied sich Ilja ­Kapustin, der in St. Petersburg als Industrie­kletterer, also als Handwerker in großen ­Höhen, arbeitete, sein Heimatland zu verlassen. ­Inzwischen hat er in Finnland Asyl beantragt und wohnt dort in einem Transitlager für Geflüchtete.

Kapustins Lippen zittern, während er von der Entführung – Verhör oder Verhaftung will er es bewusst nicht nennen – erzählt. Immer wieder unterbricht er seine Sätze, nimmt einen Schluck Wasser und beginnt von Neuem. Vor dem Treffen hatte er darum gebeten, ihm die Fragen schriftlich zukommen zu lassen. Er wusste, dass es ihm schwerfallen würde, über das Geschehene zu sprechen, hatte Sorge, dass seine Aussagen falsch wiedergegeben würden. Aber trotzdem will er unbedingt, dass seine Geschichte öffentlich wird.

Ilja Kapustin in Helsinki Foto: Paul Toetzke

Dabei sind seine Erlebnisse nur ein kleines Puzzleteil einer viel größeren Geschichte. Sie beginnt im Oktober 2017 in der russischen Stadt Pensa, knapp 700 Kilometer südöstlich von Moskau, mit der Festnahme von vier antifaschistischen Aktivisten. Ihnen wird vorgeworfen, Teil einer terroristischen Vereinigung namens „Set“ (Netzwerk) zu sein, die während der Präsidentschaftswahlen im Februar und der Fußball-WM im Juni 2018 Anschläge geplant haben soll. Die Aktivisten in Pensa werden verdächtigt, der Kern einer landesweiten Terrorzelle zu sein.

Im Januar 2018 kommt es zu drei weiteren Festnahmen in St. Petersburg. Einer der Festgenommenen ist Julian Bojarschinow, der wie Kapustin als Industriekletterer in St. Petersburg arbeitet. Am Tag von Bojarschinows Festnahme, am 21. Januar, versuchte Kapustin seinen Kollegen anzurufen, um mit ihm einen Termin zum Schneeschippen auszumachen. Er glaubt, dass die Beamten deswegen auf ihn aufmerksam wurden. Von einem Terrornetzwerk namens „Set“ habe er das erste Mal durch die Geheimdienstbeamten erfahren. Das hatten laut Medienberichten der Zeitung Nowaja Gaseta und des Portals MediaZona auch die anderen Aktivisten zunächst ausgesagt, bevor sie bis auf eine Ausnahme ein volles Schuldgeständnis unterschrieben.

Nicht die ersten Berichte von Folter

Fast alle von ihnen berichten von Folter und Misshandlungen durch die Sicherheitsbeamten. Ihre Beschreibungen ähneln den Schilderungen von Kapustin. Bei einem der Aktivisten aus Pensa, Ilja Schakurski, wird eine Pistole im Auto gefunden. Er versichert, die Waffe sei ihm untergeschoben worden. Als Anführer der Gruppe wird Dmitri Ptschelintsew, ein Freund von Schakurski aus Pensa, vermutet. Ptschelintsew ist Schießlehrer und besitzt mehrere legale Waffen. In seinem Auto wurden zwei Granaten gefunden. Ptsche­lintsew behauptet, sie seien dort von den Beamten platziert worden und berichtet von Folter mit Elek­troschockern.

Für die prominente russische Bürgerrechtlerin Olga Romanowa sind die Vorwürfe der Aktivisten keine Besonderheit. Die 51-Jährige ist Gründerin der NGO „Rus sidjaschaja“ (Russland hinter Gittern), die sich für die Rechte von Gefangenen einsetzt. Seit etwa einem Jahr lebt sie in Berlin – denn auch sie geriet immer stärker unter Druck. So wurden beispielsweise die Räume der NGO wegen Verdacht der Veruntreuung staatlicher Gelder durchsucht. Gelder, die sie laut eigener Aussage nie bekommen hat.

„Folter und Prügel sind traditionelle Methoden der russischen Sicherheitsbeamten. Jeden Monat sterben mehrere Menschen auf Polizeirevieren. Das ist kein Geheimnis“, sagt Romanowa. Es gebe kein funktionierendes Justizsystems in Russland. Entscheidungen würden von Ermittlern und Staatsanwälten und nicht von Richtern getroffen.

Aber was steckt konkret hinter den Festnahmen der acht Aktivisten? Ist das Terrornetzwerk eine Erfindung des FSB, wie die Aktivisten sagen? Geht es möglicherweise um Einschüchterung der Opposition und um Erfolgsgeschichten im Jahr von Präsidentschaftswahlen und Fußball-WM?

Romanowa ist sich sicher, dass der Fall inszeniert ist: „80 Prozent solcher Fälle werden vom FSB, vom Zentrum E oder zumindest von der Polizei organisiert.“ „Zentrum E“ steht für das Zen­trum für Extremismus, das 2008 gegründet wurde und seitdem auch für das linksradikale ­Milieu zuständig ist. Aber auch Fälle, die nur entfernt mit politischem Extremismus zusammenhängen, werden vom Zentrum E und von der Abteilung für Verfassungsschutz des FSB, überwacht, sagt ­Romanowa. Ihr eigener zum Beispiel: „Diese Struktur hat – wie die meisten anderen Strafverfolgungsbehörden in Russland – auf lange Sicht ein Ziel: ihren Nutzen zu beweisen und ihre eigene Existenz zu sichern. Um das zu tun, müssen sie Verschwörungen aufdecken und Schuldige finden.“

Solidarität in Helsinki

Derweil beantragen in Finnland immer mehr russische Politaktivisten Asyl. An einem Samstagmorgen Mitte April steht Ilja Kapustin vor einem Backsteingebäude voller Graffiti auf einem Industriegelände von Helsinki. Am Himmel kreisen ­Möwen, Sonnenstrahlen schmelzen einen schwarzen Schneehaufen. An einer Tür hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Tattoo Circus“. Eine Solidaritätsveranstaltung für politische Gefangene. „Hier rein“, sagt Kapustin. Drinnen ist es dunkel, die Fenster sind abgeklebt. Ein Scheinwerfer beleuchtet die Bühne, auf der gerade jemand eine Präsentation über die Situation polnischer Antifaschisten gibt.

Auf Tischen liegen Infomaterialien zu anarchistischen Gruppierungen aus, Postkarten und verschiedene Bücher, auch eins über Abdullah Öcalan, den Führer der in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK. An einem anderen Stand kann man Briefe an politische Gefangene schreiben. Gegen Spende gibt es Kaffee oder ein veganes Mittagessen. Kapustin begrüßt einige der Anwesenden, auch einige russische Aktivisten sind unter ihnen. Die meisten tragen Piercings und T-Shirts mit anarchistischen Slogans. Ilja Kapustin sticht durch seine Unauffälligkeit heraus. Er passt nicht so richtig an diesen Ort, der an autonome linke Zentren in Berlin oder Hamburg erinnert.

Auch wenn Kapustin über seine politischen Ansichten spricht, klingt es nicht nach radikaler Ideologie. Er bezeichnet sich als libertärer Kommunist. „Ich bin kein aggressiver Typ, der das System umkrempeln will. Ich glaube nicht, dass die Welt nach einer Revolution direkt zu einer besseren wird. Ich bin gegen Gewalt. Und ich bin sicherlich kein Terrorist“, sagt er.

Die antifaschistische Szene in Russland ist nur schwer zu erfassen. Kennern der Szene zufolge handelt es sich eher um ein loses Netzwerk. Unter den Überbegriff „Antifaschisten“ fallen verschiedene linksoppositionelle Gruppen wie ­Anarchisten, Kommunisten, die sich nicht von der Kommunistischen Partei in der Duma vertreten fühlen, aber auch Umweltschützer. Zwei der verhafteten Aktivisten waren beispielsweise Mitglieder der Umweltgruppe Eko. Was sie alle verbindet, ist zum einen der Kampf gegen Neonazis, aber auch der Protest gegen die Staatsgewalt – und das System Putin.

Seit es 2010 bei einer Protestaktion gegen die Bebauung eines Waldstücks in der Nähe Moskaus zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei und der Beschädigung eines Behördengebäudes durch antifaschistische Aktivisten kam, wird die Szene von staatlicher Seite besonders beobachtet. Auch an den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau 2012, bei denen knapp 100.000 Menschen gegen den Ausgang der Wahlen und Präsident Putin demonstrierten, waren Antifaschisten beteiligt. Im Nachhinein gab es mehrere Festnahmen, viele Aktivisten verließen Russland.

Vielfältige Themen und Protestformen

Kapustin erzählt, dass er in den letzten zehn Jahren an verschiedenen Initiativen wie Protesten gegen die Abholzung von Wäldern, gegen den Krieg in Tschetschenien und an Essenausgaben für Bedürftige beteiligt war. Er stehe zwar noch im Austausch mit Aktivisten, habe sich aber schon lange nicht mehr an Protesten beteiligt.

Ähnlich wie bei denen der Antifa in Deutschland reicht die Bandbreite der Aktivitäten auch in Russland von kreativen Kunstaktionen bis zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im Februar hingen drei Aktivisten vor dem FSB-Gebäude in Tscheljabinsk ein Plakat mit der Aufschrift „FSB – der größte Terrorist“ an den Zaun und warfen einen Feuerwerkskörper vor das Gebäude.

Fünf Tage nach dem Vorfall wurden zwei antifaschistische Aktivisten in Tscheljabinsk kurzzeitig festgenommen und wegen „Hooliganismus“ angeklagt. Der Menschenrechtsplattform Open­democracy zufolge berichten auch sie von Schlägen und Folter durch die Sicherheitsbeamten. Hooliganismus und Gewaltbereitschaft werden den Aktivisten immer wieder vorgeworfen. Als Beweis führen die Behörden immer wieder an, dass sich die Aktivisten oft zum Strikeballspielen verabredeten.

Strikeball ist ein legales und in Teilen Russlands populäres Taktikspiel, bei dem sich mehrere Teams mit sogenannten Airsoftwaffen beschießen. Meist treffen sich die Mitspieler dafür in einem Waldstück, Militärästhetik und Camouflagekleidung gehören dazu.

Das Spiel liefert Bilder, die von Politik und Medien gnadenlos ausgenutzt werden, um Stimmung gegen die Aktivisten zu machen. In einem Beitrag des russischen Fernsehsenders NTW wird das am 20. April, eine Woche nach dem Treffen mit Kapustin, so aussehen: In einer leer stehenden Lagerhalle im Wald beschießen sich uniformierte Guerillakämpfer mit Maschinenpistolen, sie werfen Molotowcocktails und rufen zur Revolution auf: „Das Terrornetzwerk Set“, erklärt ein Sprecher, Fadenkreuze kreisen über die Titelschrift, unterlegt mit dramatischer Musik. Auch ein ­anony­misiertes angebliches ehemaliges Mitglied der Gruppe kommt zu Wort und warnt vor der Gefahr, die von den Aktivisten ausgehe. Immer wieder werden Szenen vom Maidan-Aufstand 2013 in Kiew eingeblendet. Die Nachricht: Ohne den Einsatz der Sicherheitskräfte würde auch Russland in die Hand von Extremisten geraten.

„Wen zum Teufel interessiert es, wie du dich fühlst, wenn dein Mann im Gefängnis steckt und es ihm beschissen geht“

Aleksandra Filinkowa

Auch ein Foto von Ilja Kapustin erscheint in dem Beitrag. Er ist nicht der Einzige, der nach Finnland geflohen ist, sagt der Sprecher: Auch Aleksandra Filinkowa, die Frau von Wiktor Filinkow, einem der verhafteten Aktivisten aus St. Petersburg, lebt inzwischen in Helsinki.

Spiel statt Terror

Noch bevor das Video auf NTW erscheinen wird, ist die 22-Jährige wie Kapustin bei der Solidaritätsveranstaltung für politische Gefangene in Helsinki. „Strikeball oder Überlebenstraining sind nichts Illegales, das sind populäre Spiele. Dabei geht es um Spaß, um Taktik und um Zusammenarbeit. Das hat nichts mit Terrorismus zu tun“, erzählt Filinkowa im Gespräch mit der taz.

Sie sitzt an dem Tisch mit den Postkarten für politische Gefangene und notiert die Haftadressen von acht russischen Aktivisten, von denen einer ihr Mann ist. Sie sagt: „Es ist wichtig, dass sie das Gefühl haben: Da draußen gibt es Menschen, die an mich denken.“

„Es ist wichtig, dass sie das Gefühl haben: Da draußen gibt es Menschen, die an mich denken.“

Aleksandra Filinkowa

Ihr Mann, Wiktor Filinkow, wurde am 24. Januar in St. Petersburg festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Er hat ein volles Schuldgeständnis unterschrieben, in dem er zugibt, Teil des Terrornetzwerks „Set“ zu sein. Ähnlich wie Kapustin berichtet auch er von einer nächtlichen Horrorfahrt mit Folter und Misshandlungen durch die Geheimdienstbeamten. Die unabhängige Kommission für die Bedingungen von Gefangenen, ONK, hat Filinkow zwei Tage nach seinem Verhör in der Untersuchungshaft besucht und in einem Protokoll folgende Verletzungen festgehalten: zahlreiche Verbrennungen durch Stromschläge auf dem Oberschenkel (mindestens 33); ein Hämatom am rechten Knöchel; Verbrennungen durch Stromschläge im Brustbereich.

Victor Filinkow im Gerichtssaal Foto: David Frenkel

Aleksandra Filinkowa ist erst vor einigen Tagen in Helsinki angekommen. Sie hat Asyl beantragt. Zum Zeitpunkt von Wiktor Filinkows Festnahme war sie gerade in Kiew. Sie hatte dort auf ihren Mann gewartet, um mit ihm einige Wochen in der ukrainischen Hauptstadt zu verbringen. Doch Wiktor Filinkow kam nie dort an. Erst zwei Tage später erfuhr sie über Filinkows Anwalt, dass er wegen Verdacht der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung festgenommen worden war. Fragt man sie, wie sie sich in diesem Moment gefühlt hat, sagt sie: „Wen zum Teufel interessiert es, wie du dich fühlst, wenn dein Mann im Gefängnis steckt und es ihm beschissen geht.“

Filinkowas Realismus wirkt zunächst kühl und emotionslos. Sie sagt Sätze wie: „Ich habe mich darauf eingestellt, dass Wiktor mindestens fünf Jahre hinter Gittern sein wird. Und er hat das auch getan.“ Sie kennt die russische Justiz und die Willkür, die in vielen Gerichten herrscht. Ihre Kraft basiert auf einer Rationalität und Zielstrebigkeit, die für eine 22-Jährige ziemlich beeindruckend, aber auch ein bisschen unheimlich ist.

Kampf für Aufmerksamkeit

Aleksandra Filinkowa erklärt sich die Festnahme ihres Ehemannes mit seinem politischen Engagement: für Freiheit im Netz und gegen die Überwachung durch den Staat. Der 23-Jährige arbeitete zuletzt als Programmierer in St. Petersburg. Sein Wissen über Zensur und Open Source und dass er mit nur 22 Jahren Chefprogrammierer geworden sei, all das habe sie beeindruckt, sagt sie, und habe sie inspiriert, sich selbst mit ähnlichen Themen zu befassen.

Aleksandra Filinkowa (wollte nicht erkannt werden) Foto: Paul Toetzke

Beide haben in antifaschistischen Kreisen verkehrt, sich mit anderen Aktivisten ausgetauscht, so wie Filinkowa es hier in Helsinki auch tut, und an Strikeballspielen teilgenommen. Dabei seien beide immer Gegner von Gewalt gewesen. Filinkowa sagt: „Mir geht es um Freiheit, Solidarität und politische Auseinandersetzung. Wenn das Anar­chie bedeutet, bitte. Ich nenne die Dinge lieber beim Namen.“ Sie glaubt: Wäre sie zum Zeitpunkt von Filinkows Festnahme nicht im Ausland gewesen, hätte es sie auch getroffen.

Von Helsinki aus kämpft Filinkowa jetzt für mehr Aufmerksamkeit für die Repressionen gegen die Aktivisten. Sie hat eine Informationsplattform eingerichtet und sammelt Spenden, um die Anwaltskosten der Aktivisten zu bezahlen. Sie sagt: „Es ist auch eine Aufgabe und eine Chance für mich, zu zeigen, mit welchen Methoden das System arbeitet.“

Sowohl Wiktor Filinkow als auch Ilja Kapustin haben ihre Anwälte damit beauftragt, gegen die Folter und Misshandlung durch den Geheimdienst zu klagen. Ende April wurden ihre Klagen abgelehnt. In Kapustins Fall erklärte der Ermittlungsbeamte, Ärzte hätten festgestellt, dass es sich bei den Wunden um die Folgen einer Hautkrankheit oder um Bisse von Bettwanzen handele. Sowohl bei Filinkow als auch bei Kapustin wurde außerdem der minimale Einsatz („nicht mehr als 3 Schläge“) von Elektroschockern damit gerechtfertigt, dass die Aktivisten versucht hätten, sich der Festnahme zu widersetzen.

Schon im Vorfeld war klar, dass die Aussichten auf Erfolg gering sind. „Seit Russland aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgestiegen ist, gibt es kaum Möglichkeiten“, sagt Olga Romanowa von der NGO „Russland hinter Gittern“. Zwar hat die unabhängige Kommission für die Bedingungen von Gefangenen, ONK, bei beiden Klägern Spuren körperlicher Misshandlung nachgewiesen. Aber sie muss ihre Berichte an genau die Institution weiterreichen, deren Mitarbeiter für die Gewalt verantwortlich sind.

Das Urteil im Fall Filinkow wird für Juni erwartet. Ihm drohen zwischen fünf und fünfzehn Jahre Gefängnis. Das einzige Beweisstück: das Schuldgeständnis, das der Programmierer nach mehreren Stunden Schlafentzug und Folter unterschrieben hat.

taz am wochenende

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Seine Frau betritt am Nachmittag schnellen Schrittes die Bühne in Helsinki. Sein Bild ist eben von der Leinwand verschwunden. Filinkowa setzt sich neben den jungen Mann und die Frau, die ihre Powerpoint-Präsentation über die Repres­sio­nen gegen russische Antifaschisten beendet haben, und umklammert ihr Smartphone mit beiden Händen. „Ich spreche hier nicht nur als Frau von Wiktor, sondern als Kameradin“, liest sie auf Englisch vor. „Ich will, dass die Aktivisten ­ihren Preis nicht umsonst bezahlt haben.“ Und weiter: „Der Kampf für die Freiheit wird lang sein. Eure Unterstützung ist frische Luft für sie. Solidarity forever!“

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