Debatte Deutsche Dominanz in der EU: Man spricht nicht Deutsch
Gerne wird eine deutsche Dominanz in der EU beklagt. Doch eine genaue Betrachtung des Personals zeigt: Deutschland ist unterrepräsentiert.
D ie fragwürdige Ernennung von Martin Selmayr zum Generalsekretär der Europäischen Kommission hat die taz und andere deutsche Medien dazu veranlasst, die Rolle deutscher Staatsangehöriger in Spitzenfunktionen der EU-Institutionen näher zu untersuchen. Das ist wegen der vielen Institutionen und Behörden sowie der großen Zahl der Funktionsträger keine leichte Aufgabe. Wenig überraschend wird zumeist der Schluss gezogen, es gäbe, jedenfalls neuerdings, eine deutsche Dominanz bei den Diensten der EU. Welch ein Fehlschluss!
In Wahrheit sind Deutsche auf fast allen Ebenen der EU unterrepräsentiert. Die Tatsache, dass derzeit die Generalsekretäre des Europäischen Parlaments und der Kommission sowie eine Reihe von Fraktionschefs im Europäischen Parlament Deutsche sind, zudem Deutsche an der Spitze des Europäischen Rettungsschirms und der Investitionsbank stehen, ist in sich wenig aussagekräftig.
Vielmehr muss man sich die gesamte Zusammensetzung der europäischen Beamtenschaft und der Spitzenpositionen anschauen. Da ergibt sich ein anderes Bild: Obwohl Deutschland der bevölkerungsstärkste Mitgliedsstaat ist, rangiert es bei der Zahl der EU-Beamten nach Belgien (Heimvorteil), Italien und Frankreich erst an vierter Stelle.
Auch die Behauptung, man spräche zunehmend Deutsch in Brüssel, ist nicht richtig. Viele deutsche Mittelständler haben leidvoll erfahren, dass man nicht weit kommt, wenn man die am meisten gesprochene Sprache in der EU bei EU-Behörden verwendet. Und viele Bewerber um Stellen aus den osteuropäischen Ländern haben erleben müssen, dass ihnen ihre guten Deutschkenntnisse von wenig Nutzen waren. Nach außen tritt die EU ohnehin nur auf Englisch und Französisch auf. Die deutsche Sprache wird also diskriminiert, ohne dass dies je ernsthafte Proteste ausgelöst hätte.
JörnSack, Jahrgang 1944, ist Jurist. Zunächst im Bundeswirtschaftsministerium in Bonn tätig, trat er 1977 in den Juristischen Dienst der Europäischen Kommission in Brüssel ein und war dort zuletzt in den Außenbeziehungen und Beitrittsverhandlungen tätig. Seit 2005 lebt er als freier Autor in Berlin. 2015 erschien seine Streitschrift „Europa: Markt-Staat-Macht“ im Berliner Wissenschaftsverlag.
Schaut man sich die politischen Spitzen der sechs Institutionen an, ergibt sich folgendes Bild: Ein Pole ist Präsident des Europäischen Rates, eine Italienerin Außenbeauftragte und damit Vorsitzende im Außenministerrat, dem höchsten Gremium des Ministerrats. Auch die Präsidenten des EP und der EZB sind Italiener, während ein Luxemburger die Kommission leitet und ein Belgier dem Europäischen Gerichtshof vorsitzt. Erst beim politisch unbedeutenden Rechnungshof steht ein Deutscher an der Spitze. Statt von einem deutschen müsste man derzeit eher von italienischem Übergewicht sprechen. Übrigens besetzt ein Däne den wichtigsten Generalsekretärsposten der EU, den von Europäischem Rat und Ministerrat zugleich.
In der 64-jährigen Geschichte der europäischen Integration hat nur einmal ein Deutscher, Walter Hallstein, die Kommission geführt (und auch nur die der EWG; Montanunion und Euratom hatten bis 1967 eigene Präsidenten). Dagegen haben Luxemburger diese Funktion dreimal ausgeübt und Franzosen immerhin zweimal (mit Montanunion sogar viermal). Auch beim Gerichtshof war nur einmal ein Deutscher Präsident.
Bei den Generaldirektoren sind die Deutschen eher schwach vertreten, und bis in die jüngste Zeit haben sie keinen Generalsekretär einer Institution gestellt. Bemerkenswert ist dagegen, dass der Franzose Émile Noël dreißig Jahre (von 1958 bis 1987) Generalsekretär der Kommission (EWG, EG) war, ohne dass dies Anstoß erregte. Zu Recht, denn er hat das Amt vorbildlich geführt. Aber es ist klar, dass jemand, der dieses Amt so lange ausübt, am Ende mehr Einfluss als mancher Kommissionspräsident hat.
Die Zahl der deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments liegt deutlich unter dem Bevölkerungsanteil Deutschlands in der Europäischen Union, während zahlreiche kleine Staaten überrepräsentiert sind. Das Bundesverfassungsgericht sieht, wie man im sogenannten Lissabon-Urteil nachlesen kann, darin ein Demokratiedefizit.
Handeln gegen Interessen der Heimatländer
Von einem personellen deutschen Übergewicht in den Institutionen und der Beamtenschaft der EU kann also keine Rede sein. Noch proportional geringer als die Deutschen sind bislang nur die Briten vertreten. Wobei „vertreten“ das falsche Wort ist. Nur Mitglieder des EP und des Rates dürfen nämlich Positionen beziehen, die nicht allein vom Gemeinschaftswohl bestimmt sind, sondern durchaus von nationalen, regionalen oder parteipolitischen Interessen. Alle anderen Funktionsträger, also politisch ernannte Mitglieder von Institutionen und sämtliche Beamten, wozu auch die Generalsekretäre gehören, sind nicht Vertreter ihrer Heimatländer. Sie sind nach den Verträgen und dem Europäischen Beamtenstatut dazu verpflichtet, sich allein am Wohl der gesamten EU auszurichten und keinerlei Weisungen von nationaler Seite zu folgen. Oft müssen sie sogar gegen die erklärten Interessen ihrer Heimatländer arbeiten.
Als ich im Juristischen Dienst der Kommission tätig war, hatte ich viele Vertragsverstoßverfahren gegen Deutschland zu führen, ferner zulasten des Bundeshaushalts Prozesse, in denen die Kommission Kosten wegen laxer Kontrollen nicht erstattete. Oft ging es um Beträge in zweistelliger Millionenhöhe.
Wie in den Mitgliedsstaaten spielt die Herkunft der Beamten keine Rolle bei der Amtsausübung – und die Medien sollten sich deshalb nicht über ihre Herkunft auslassen, sondern darüber wachen, ob sie qualifiziert für ihr Amt sind und dies tatsächlich mit der nötigen Unparteilichkeit ausüben. Könnte die Öffentlichkeit nicht sicher sein, dass im gleichen Amt ein Portugiese, ein Schwede oder ein Deutscher im gleichen Sinne entschieden, wäre die Integration schon im Ansatz gescheitert und hätte nie ihren hohen Stand erreicht.
Sollte es also eine deutsche Dominanz in Brüssel geben, so hat sie andere Ursachen als die Personalpolitik, nämlich vorrangig den Euro. Doch das ist eine andere Debatte, die zu führen sich freilich lohnte.
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