Thomas Krüger über „Staatsversagen“: „Das ist typisch deutsch“
Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung über die Konjunktur des Begriffs „Staatsversagen“ und dessen Anklänge an die DDR.
taz: Herr Krüger, immer öfter hört und liest man den Begriff „Staatsversagen“. Was verstehen Sie darunter?
Thomas Krüger: Der Begriff wird fachlich eigentlich in zwei Kontexten benutzt. Einmal in der Entwicklungspolitik, wenn es um Failed States geht. Und in der Wirtschaftspolitik, wo Markt versus Staat verhandelt wird unter dem Gesichtspunkt, dass der Staat weniger effizient sei als der Markt und deshalb besser dem Markt bestimmte Aufgaben übertragen werden sollten.
Reden wir über die zweite Variante. Ist mit „Staatsversagen“ eine Art Notstand gemeint?
Nun, da wird ja eine Behauptung aufgestellt. Nämlich dass der Staat zu bestimmten Leistungen nicht in der Lage sei. Besser wäre eigentlich, staatliches Handeln unter dem Begriff „Governance“ zu verhandeln; dieser Terminus bezieht nämlich auch politische Prozesse und das Agieren einer lebendigen Zivilgesellschaft ein. In Deutschland hingegen wird „Staatsversagen“ eher verkürzt benutzt, nämlich mit einer überproportionalen Erwartungshaltung.
Wo fängt Staatsversagen für Sie an?
Für mich wäre Staatsversagen, wenn nicht nur die staatlichen Institutionen, sondern auch die Zivilgesellschaft nicht mehr in der Lage sind, politische Prozesse zu regeln. In Krisen- und Transformationsprozessen fällt so was natürlich besonders ins Auge. Und gerade dann wäre es hilfreich, nicht zu verkürzen. Denn das verstellt den Blick darauf, dass es eigentlich zu einer funktionierenden Regulierung öffentlicher Angelegenheiten mehr braucht als nur den Staat.
58, ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.
Zu beobachten sind die Ausschläge im Gebrauch des Wortes: Mal ist es die Polizei, die erst einen Tag nach einem Wohnungseinbruch auftaucht, dann wiederum der Fall des Attentäters Anis Amri, der unbehelligt den Mord an zwölf Menschen vorbereiten konnte. Oder das Versagen des Sicherheitsapparats im Fall des NSU.
… oder wenn ich in den Urlaub fahre und die Autobahn gerade umgebaut wird.
Warum taucht das Wort immer häufiger auf?
Das hat zu tun mit einer in Deutschland sehr verbreiteten besonders großen Erwartungshaltung gegenüber dem Staat, der meine Partikularinteressen möglichst umfassend und zeitnah durchzusetzen hat. Dass der Staat aber eigentlich das Allgemeinwohl und nicht die Einzelinteressen zu behandeln hat, wird dabei übergangen. Das führt dann dazu, dass der Staat schnell als Versager verstanden wird. Dabei funktionieren bei uns, verglichen mit vielen anderen Ländern, die öffentlichen Verwaltungen immer noch gut.
Der Vorwurf des Staatsversagens kommt meist aus der Opposition. Alice Weidel etwa benutzte den Begriff, als bekannt wurde, dass 27.000 ausreisepflichtige Ausländer für deutsche Behörden unauffindbar sind. Die „Altparteien“ seien nicht in der Lage, die „Zivilbevölkerung“ zu schützen, das sei „Staatsversagen“. Hat sie nicht, abgesehen von der dräuenden Rhetorik, auch irgendwie recht damit?
Nein, hat sie nicht. Weil sie von einem instrumentellen Staatsbegriff ausgeht. Außerdem plädiere ich dafür, ihre Behauptung mal kritisch zu prüfen. Ist das denn so? Und wenn es so ist, trifft dann der Begriff „Staatsversagen“ überhaupt zu? Dass wir in Transformationsprozessen kritische Situationen haben, heißt noch lange nicht, dass staatliche Institutionen nicht in der Lage sind, auf lange Sicht die Probleme in den Griff zu bekommen. Gerade wenn aus diesem rechtspopulistischen Kontext agiert wird, wird der Begriff „Staatsversagen“ schnell überdehnt in Richtung Obrigkeitsstaat. Da denkt man unweigerlich an den Nationalsozialismus. Und an die DDR.
Was wollen eigentlich immer alle von einem „Staat“, den sie doch auch gern kritisieren oder lächerlich machen?
Das ist typisch deutsch. Der Staat ist entweder gut oder böse, schwarz oder weiß. Er wird viel zu wenig als Teil eines größeren Projektes wahrgenommen, an dem wir alle beteiligt sind. Als eine Gemeinschaft, in der Interessen ausgehandelt werden müssen, die Kompromisse braucht, die wir als Individuen nicht in der Lage wären zu schließen.
Eine künftige Koalition hat einen zusätzlichen Finanzspielraum von 30 Milliarden Euro. Wo sollte der Staat das Geld investieren?
Ganz wichtig ist die öffentliche Infrastruktur. Die ist die Grundvoraussetzung für die Teilhabe der Gesellschaft. Gemeingüter wie Kitas, Schulen, aber auch der Verkehr, Energie und Klima spielen eine wichtige Rolle. Die müssen jedem zur Verfügung stehen. Daran, ob der Staat das hinkriegt, kann sich seine legitimierende Kraft beweisen.
Noch mal zur Wortwahl. Welchen Einfluss könnte und sollte politische Bildung auf Sprache nehmen?
Politische Bildung muss Sprache ermöglichen, nicht regulieren. Wir sind nicht die Sprachpolizei, sondern diejenigen, die mit politischer Bildung Problembewusstsein induzieren können, die motivieren können zu sensibler Sprache. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit wäre kontraproduktiv.
Sie sind in der DDR sozialisiert worden. Welche Rolle hat dort Sprache bei der politischen Einflussnahme gespielt?
Sprache war in der DDR ein Instrument, Vielfalt zu domestizieren und stattdessen die Positionen der führenden Partei zu manifestieren. Eigentlich war Sprache ein Instrument für einen elitären Herrschaftszirkel.
Der Staat wurde damals wahlweise als kümmernd oder als strafend wahrgenommen. Egal war man ihm nie. Heute ist es dem Staat relativ wurscht, was jeder aus seinem Leben macht. Ist die Demokratieferne mancher Ostdeutscher vielleicht der Ruf nach staatlicher Zuwendung?
Ja, das hatte ein paternalistisches Moment. Ich würde von totalitärer Fürsorge sprechen. Heute hat man den Eindruck, dass das eine Rolle spielt, wenn von Staatsversagen gesprochen wird. Der Staat als großer Erzieher, der alles leistet, aber auch für alles verantwortlich gemacht werden kann – auf diese Weise kann man sich aus der eigenen Pflicht als Teil der Gesellschaft stehlen. Im Grunde ist das ein undemokratisches Staatsverständnis.
Es gibt die These, Ostdeutsche hätten nach der Wende so viel mit ihrer Anpassung zu tun gehabt, dass bis heute keine Zeit für die politische Selbstfindung und Meinungsbildung blieb. Was meinen Sie dazu?
Zweifelsohne ist es so, dass es für Ostdeutsche so was wie Transformationsstress gab. Das heißt aber auch, dass es unter ihnen eine Art Resistenz gegen Umbrüche gibt. Die Kompetenzen, die Ostdeutsche aufgebaut haben, Transformationsprozesse zu bewältigen, sind ausgeprägter als im Westen. Dort kennt man das noch gar nicht, es steht den Westdeutschen aber noch bevor.
Ach ja?
Ja, das würde ich schon sagen. Ökonomisch gesehen, war doch die deutsche Einheit ein Konjunkturprogramm für manche Regionen Westdeutschlands. Die Steuerpolitik der Kohl-Regierung auf den Erwerb von Ostgrundstücken war ein riesiger Kapitaltransfer von Ost nach West – nicht umgekehrt, wie das Wort „Aufbau Ost“ immer suggeriert. Auf der einen Seite ging die ökonomische Transformation voran, aber gesellschaftspolitisch gibt es weiter Nachholbedarf.
Nimmt im Osten nicht gerade die Demokratieferne zu?
Ich wäre vorsichtig damit, Ostdeutschen als einer Art Ethnie pauschal eine gewisse Demokratierückständigkeit zuzuschreiben. Viele Ostdeutsche, die in den Westen gegangen sind und dort in den Großstädten ökonomisch Fuß gefasst haben, verhalten sich ja nicht so wie die Leute ihrer Herkunftsregion. Wie ich mich politisch positioniere, hängt also immer von sozialkulturellen Kontexten ab. Das Assimilationspotenzial Ostdeutscher im Westen ist offenbar so stark, dass sie dort den Aufstieg schaffen. Und in Ostdeutschland ist es eben manchmal das ganze Gegenteil. Wenn keine ökonomischen Perspektiven da sind, keine ausreichende Bildung, bist du eher auf Heimat als reaktionären Begriff zurückgeworfen.
Eine letzte Frage. Sie haben kürzlich eine Quote für Ostdeutsche in öffentlichen Ämtern angeregt. Das ist doch Quatsch. Oder?
Es braucht eine Sensibilität für eine kulturelle Vielfalt. Eine heterogener werdende Gesellschaft muss sich in den Eliten repräsentieren. Nur so rüsten wir uns für gesellschaftspolitische Debatten, die Unterschiede respektieren. Vielfalt muss in den Institutionen abgebildet sein. Wenn also die Institutionen weiß und westdeutsch bleiben, gibt es nicht nur ein Akzeptanzdefizit bei Ostdeutschen, sondern auch bei Menschen mit Migrationshintergrund oder Trans/Inter-Perspektiven. Das meine ich mit Repräsentation eines Staates, der sich der Allgemeinheit verschreibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video