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Kolumne Der rote FadenDie Gegenwärtigkeit des Vergangenen

Johanna Roth
Kolumne
von Johanna Roth

Über Jamaika wird mit NS-Vokabular berichtet und Kuwait Airways muss keine Israelis befördern. Was war das bloß für eine Woche?

Ja, das ist 2017: Rechtsextremer Aufmarsch in Warschau Foto: dpa

D er Holocaust wurde quasi am Kaffeetisch beschlossen. „Ich lade Sie daher zu einer solchen Besprechung mit anschließendem Frühstück (…)“, steht in einem Brief von SS-Obergruppenführer Heydrich, verschickt Ende November 1941. Das Einladungsschreiben zur Wannseekonferenz kann man besichtigen, es ist ausgestellt in jenem Zimmer, in dem sie dann 1942 stattfand. Durch Fenster aus Edelholz schaut man auf den See, an der Wand kleben noch ein paar Reihen der alten Delfter Fliesen, vor der Terrasse blühen tatsächlich noch einige hartnäckige Rosen.

Es ist ein Ort, dessen Äußeres nicht sofort verrät, welches Verbrechen hier geplant wurde, obwohl dessen Monstrosität so enorm ist, dass sie sich in jede Parkettritze ausgedehnt haben muss. Sie spüren, verstehen, erinnern muss man schon selber, die Gegenwärtigkeit des Vergangenen.

Offenbar kann man sich dem, wie auch immer, entziehen, jedenfalls scheuchte mich bei meinem dieswöchigen Besuch ein (deutscher) Rentner mit Digitalkamera beiseite, der seine Frau knipste und knipste und knipste, welche in scheinbarer Konzentration auf den Schaukasten mit dem Konferenzprotokoll herniedergesunken war.

Um das ewige Gelaber der Rechten von einer Vergangenheit, die doch nun wirklich mal vorbei sei, nicht nur als zutiefst verdorbenes Wunschdenken, sondern als schlicht falsch zu erkennen, brauchte man in dieser Woche indes gar nicht bis an den Wannsee zu fahren. Ein Blick in die Nachrichten reichte.

Beförderung von Israelis sei „nicht zumutbar“

Angefangen mit dem polnischen Unabhängigkeitstag am letzten Samstag, an dem über 60.000 Menschen unter roten Rauchschwaden durch Warschau marschierten und „ein weißes Europa“ forderten.

Am Donnerstagmittag, während ich im Haus der Wannseekonferenz vor einer Ausstellungswand stand und zu begreifen versuchte, dass laut einem Fernschreiben vom Juli 1943 für einen Zyklon-B-Transport nach Auschwitz dem jeweiligen Lkw-Fahrer vom Lagerkommandanten eine entsprechende Sondergenehmigung mitzugeben war – als sei zu jenem Zeitpunkt das Töten noch etwas gewesen, das immerhin eine bürokratische Hürde zu nehmen gehabt hätte –, verkündete das Landgericht Frankfurt am Main ein Urteil, nach dem es der Airline Kuwait Airways „nicht zumutbar“ sei, einen israelischen Passagier zu befördern und so gegen die Gesetzgebung jenes Staats zu verstoßen, in dessen Besitz sie sich befindet.

Man muss sich das bewusst machen: Das Land, in dem die Vernichtung sämtlichen jüdischen Lebens einst oberstes Ziel sämtlichen Handelns war; dessen Kanzlerin die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson sieht; in diesem Land wird per Gerichtsbeschluss signalisiert: Wer Juden diskriminieren will – denn um nichts anderes geht es in der Sache, wenngleich sich das Gericht peinlicherweise an den argumentativen Strohhalm klammert, es ginge hier ja um Staatsangehörigkeit und nicht Religion –, kann das gern tun, bitte, danke, Nächster.

Man könnte ja nun einfach Start- und Landeerlaubnis entziehen. Aber wo kämen wir denn da hin, solche Verluste in Kauf zu nehmen, gerade jetzt, da Siemens knapp 7.000 Arbeitsplätze abbaut, weil: Energiewende verpennt? Es ist schließlich dasselbe Land, in dem jetzt eine Partei im Parlament sitzt, auf deren Veranstaltung kürzlich ein Teilnehmer in Hörweite eines WDR-Reporters sagte: „Was haben wir denn mit den Juden gemacht? Da gab es ja auch Möglichkeiten (…) Die Flüchtlinge gehen ja nicht freiwillig.“

„Nacht der langen Messer“ war 1934

Vielleicht erklärt ein Blick auf unsere Sprache, warum das Vergegenwärtigen manchen so schwerzufallen scheint. Die Berichterstatter über die aktuellen Koalitionssondierungen hatten es in Sachen Wortwahl nie leicht, und vermutlich war es pure Erleichterung, endlich eine knalligere Metapher als karibische Nationalbeflaggung und kiffende Kanzlerinnen gefunden zu haben, als von Süddeutscher Zeitung bis zur Talkshow von Michel Friedman und sogar bei den Abgeordneten selbst die Bezeichnung „Nacht der langen Messer“ für die letzte Verhandlungsrunde auftauchte.

Kann man natürlich ziehen, den Vergleich zwischen Regierungsbildung im Jahr 2017 und der Ermordung von geschätzt 1.000 Menschen 1934, mittels der Hitler seine letzten innenpolitischen Gegner beseitigen ließ. Kann man aber auch lassen. Ich selbst kannte den Ausdruck bisher auch nicht – aber dass eine solche Formulierung entweder aus Indiana-Jones-Drehbüchern stammen muss oder eben aus Hitlers Irrsinnsbaukasten, kann man sich doch bitte irgendwie denken. Und dann kurz googeln.

Um ähnlichen Sprachunfällen vorzubeugen: An diesem Samstag vor 98 Jahren setzte Hindenburg die „Dolchstoßlegende“ in die Welt, die (Sozial-)Demokraten die Schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg zuschob. Hitler machte daraus wenig später antisemitische Propaganda.

Im Zweifelsfall also einfach mal an den Wannsee fahren. Für Bundestagsabgeordnete sind Bahnreisen sogar kostenlos.

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Johanna Roth
taz-Autorin
ist freie Korrespondentin in den USA und war bis Anfang 2020 taz-Redakteurin im Ressort Meinung+Diskussion. Davor: Deutsche Journalistenschule, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag, Literatur- und Politikstudium in Bamberg, Paris und Berlin, längerer Aufenthalt in Istanbul.
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