piwik no script img

Streit um den Brexit in GroßbritannienDas Duell um Europa

Hat der ehemalige Bürgermeister von London, Boris Johnson, gesagt, dass die EU Hitlers Plänen ähnelt? Nicht ganz.

Bestens gewappnet für die Schlammschlacht: Boris Johnson im Brexit-Wahlkampf Foto: reuters

Werden die Briten in der Europäischen Union bleiben? Der Streit darüber geht in die letzte Runde. Am 23. Juni 2016 werden die Briten abstimmen, ob sie bleiben oder gehen. Jetzt, einen Monat davor, ist eine politische Schlammschlacht zu bestaunen, die die regierenden Konservativen spaltet: David Cameron gegen Boris Johnson, „Remainder“ gegen „Brexiteer“, Realist gegen Abenteurer, Premierminister gegen den bis vor wenigen Wochen amtierenden Londoner Bürgermeister – zwei alte Schul- und Studienkameraden und Rivalen im finalen Duell.

Diese Woche nahm Europa erstmals richtig Notiz davon. „Boris Johnson vergleicht EU mit Hitler“, titelten deutsche Medien; der polnische EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, dass die Grenzen eines rationalen Diskurses überschritten seien.

Was war passiert? Boris Johnson, Wortführer der Kampagne für einen britischen EU-Austritt, hatte am vergangenen Sonntag in einem Interview mit dem ihm ergebenen Sunday Telegraph seine Opposition zur EU auf mehrere tausend Jahre britisch-europäischer Geschichte zurückgeführt.

Das, was er wirklich gesagt hat, ist verschraubt, aber es lohnt sich, den genauen Wortlaut zu betrachten: „Alles begann mit dem Römischen Reich. Ich habe darüber ein Buch geschrieben, und es stimmt wahrscheinlich. Die Wahrheit ist, dass die Geschichte der letzten paar tausend Jahre in wiederholten Versuchen verschiedener Menschen oder Institutionen besteht, in einer freudianischen Weise die verlorene Kindheit Europas wiederzufinden, dieses goldene Zeitalter von Frieden und Wohlstand unter den Römern, indem sie versuchen, es zu vereinigen. Napoleon, Hitler, verschiedene Menschen haben das versucht, und es endet tragisch. Die EU ist ein Versuch, das mit anderen Methoden zu tun. Aber was grundsätzlich fehlt, ist das ewige Problem, dass es letztendlich keine Loyalität zur Idee Europa gibt. Es gibt nicht die eine Autorität, die man respektiert oder versteht. Das führt in diesen massiven demokratischen Leerraum. Dies ist die Gelegenheit für die Briten, die Helden Europas zu sein und als Stimme der Mäßigung und des gesunden Menschenverstands zu handeln und etwas aufzuhalten, was aus meiner Sicht außer Kontrolle gerät.“

taz.am wochenende

Immer mehr Menschen schmeißen ihr Geld zusammen, suchen ein Grundstück und bauen ein Haus. Über den Konflikt zwischen Demokratie und Selbstverwirklichung bei Baugemeinschaften lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./22. Mai. Außerdem: Im Nordirak bildet die Bundeswehr die Peschmerga aus. Doch seit Monaten hat die kurdische Miliz keinen Sold erhalten, auf dem Schwarzmarkt tauchen deutsche Waffen auf. Weiß die Bundesregierung, was sie tut? Und: Sexualaufklärung und Rechtskundeunterricht für Geflüchtete. Eine Reportage. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Johnson, einer der intelligentesten und gewieftesten Politiker Großbritanniens, wusste sicherlich, dass von dieser umständlich formulierten These nur eines hängen bleiben würde: Hitler. Das Cameron-Lager jubelt nun über einen Punktsieg. Der Premierminister sagte am Donnerstag gönnerhaft, Johnson „liegt falsch: Hitler wollte auf dem Kontinent die Demokratie abschaffen, und die Europäische Union ist im Grunde eine Allianz von Ländern, die eine gemeinsame Sichtweise der Demokratie und der liberalen Werte teilen.“ Was Johnson nicht bestritten hatte, aber darum ging es nicht mehr.

Das Rennen bleibt offen

Umfragen, die bisher ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern der EU vorhersagen, melden in der zu Ende gehenden Woche erstmals deutliche Vorsprünge für ein Ja zur EU. Andererseits steigt auch die Unzufriedenheit mit David Cameron auf Rekordniveau, und Boris Johnsons Beliebtheitswerte nehmen zu. Das Rennen bleibt offen.

Um hochtrabende Vergleiche ist in diesem Wahlkampf niemand verlegen. Bevor Johnson von Hitler sprach, hatte Cameron getönt, über einen Brexit würden sich vor allem zwei freuen: Putin und der IS. Auch Barack Obama, Christine Lagarde, Tony Blair und fast alle Top-Militärs und -Ökonomen warnten einmütig davor, dass ein Austritt Großbritanniens aus der EU das Land in den Ruin treiben würde. Je lauter dieses Trommelfeuer wurde, desto stärker stiegen allerdings in den Umfragen die Sympathiewerte für den Austritt: Wenn die komplette Elite einer Meinung ist, muss daran etwas faul sein.

Viel mehr als bei einer normalen Parlamentswahl geht es jetzt um das Selbstverständnis Großbritanniens. Die EU-Befürworter warnen, außerhalb der Europäischen Union sei London irrelevant. Die EU-Gegner argumentieren, nur außerhalb der Europäischen Union habe London eine Stimme.

Die historischen Thesen, die Boris Johnson jetzt krachend in den Ring geworfen hat, sind dabei weniger exotisch, als es scheint. Befürworter und Gegner eines EU-Austritts sind sich einig: Die EU ist eine Katastrophe. Uneins sind sie sich darüber, ob man dies von innen verändern oder sich schleunigst davon entfernen sollte.

Großbritannien, darüber aber besteht Konsens, hat eigene politische Traditionen, die sich von denen Kontinentaleuropas unterscheiden: der Vorrang des Gewohnheitsrechtes, des Common Law, vor schriftlichen Gesetzestexten, das Primat gewählter Volksvertretungen, strikte Gewaltenteilung und pluralistische Grundwerte. So formuliert es die EU-skeptische Historikergruppe „Historians for Britain“, in der einige der bekanntesten Historiker des Landes vereint sind.

Keine imperiale Nostalgie

Der Machtanspruch der EU ist unter diesem Gesichtspunkt eine existenzielle Bedrohung. Das ist der Kern von Johnsons Argument. Die EU liefert dafür immer wieder Munition. Äußerungen wie die des EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker am Freitag, Großbritannien werde im Falle eines Brexits als „Deserteur“ behandelt, bestärken britische Wähler eher im Widerstand gegen die EU als überhebliches Großmachtprojekt.

Schon der Historiker Paul Johnson – kein Verwandter – führte dies 1977 in seiner Geschichte des britisch-europäischen Verhältnisses „The Offshore Islanders“ aus. Das Standardwerk schlägt den Bogen von der Antike zur Gegenwart und verortet das Entstehen einer englischen Demokratie in der Sezession der britischen Insel vom Römischen Reich und später von der römisch-katholischen Kirche, also in der Abkehr von absolutistischen Regierungssystemen, sobald sie Europa dominieren.

Daran anzuknüpfen ist keine imperiale Nostalgie – niemand auf der Insel wünscht sich die engstirnige Gedankenwelt des Empire zurück, das eher als kurzlebiger Ausrutscher in der britischen Geschichte gilt. Referenz ist die Zeit von 1940 und 1941, als Großbritannien alleine gegen Hitlerdeutschland kämpfte, während Stalin mit den Nazis paktierte und die USA abseitsstanden.

Nur die Briten kämpften damals weiter. Der nationale Zusammenhalt dieser Zeit nivellierte Klassengrenzen, begrub das hierarchische Denken, öffnete den Weg zu sozialen Reformen nach 1945 und machte aus Großbritannien eine moderne Gesellschaft – alles ermöglicht durch die Weigerung, mit Hitler Frieden zu schließen, wie es ein Großteil des damaligen konservativen Establishments gewollt hatte.

Johnson will Churchill sein

Symbol für diese Unbeugsamkeit war der sprunghafte, keinem Lager wirklich zuzuordnende Premierminister Winston Churchill, den sich Boris Johnson heute zum Vorbild nimmt. In seinem 2014 veröffentlichten Bestseller „The Churchill Factor: How One Man Made History“ schreibt Johnson, Churchill habe „unsere Zivilisation gerettet“.

Anders als Hitler und Lenin habe er die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts positiv geprägt. „Er besaß ein gigantisches Ego, aber es war voller Humor und Ironie und tiefer Menschlichkeit – und Glauben an das demokratische Recht des Volkes, ihn davonzujagen.“

Es klingt wie Johnsons eigener Wunschzettel an sich selbst. Johnsons Parallele zwischen der EU und Hitler ist letztendlich eine Gleichsetzung der eigenen Person mit Winston Churchill. Das steht am 23. Juni nicht auf dem Wahlzettel, aber auch darüber stimmen die Briten ab.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Vielen Dank für diesen Artikel und das korrekte Zitat!

    Die Art und Weise, wie man hierzulande mit unbequemen Akteuren - so auch zum Beispiel Bernie Sanders - verfährt, indem man sie als mehr oder weniger durchgenknallte Spinner darstellt, ist eigentlich unfassbar.

    Trotz der Fülle an Quellen schlucken es die Leute kritiklos.

    Es kommt hierzulande weder der Leak über Cameron's mutmaßlich gekaufte Anti-Brexit-Stimmen gegen Regierungsaufträge vor, noch erfährt ein Leser von der klammheimlich aus der Queen's Speech gestrichenen souvereignity bill - eines der Hauptversprechen Camerons: Das UK sei auch ohne Brexit souverän in seiner Gesetzgebung - offensichtlich denn doch nicht...

    Das alles geht am deutschen Bürger schlicht vorbei. Und so braucht man sich - ähnlich wie in der Causa Griechenland - nicht zu wundern, dass hier eine Art Parallelwahrnehmung entsteht, die mit der Realität, wie sie die meisten um uns herum erleben, nichts mehr zu tun hat.

    Verständlich, dass einige vom Glauben abfallen, wenn alle anderen sich scheinbar so beharrlich weigern, Verbunft anzunehmen...

  • Daß die EU, bzw. EWG, die Verwirklichung von Hitlers Idee eines europäischen Wirtschaftsgroßraums ist, das ist überhaupt keine neue Vorstellung, bzw. kein neuer Vorwurf. Dieser Vorwurf war bereits vor 30-40 Jahren hierzulande in Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Vereinigungs-Bestrebungen zu lesen.

     

    Umso wahrer ist allerdings der Vorwurf daß, über die wirtschaftlichen Verwerfungen hinaus welche durch eine inkompetente Konzeption der Union entstanden, die EU alles andere als eine real existierende, demokratische, Grundrechte achtende Wertegemeinschaft ist.

     

    Die kaschierte Dauerwirtschaftskrise treibt jeden Rest Würde in den Abgrund.

  • Es gibt ein Pendant zum Brexit, die Entstehung der Vereinigten Staaten und der dortigen Demokratie. Seinerzeit verlasß aber nicht GB dieses Konstrukt, GB wurde schlicht vor die Tür gesetzt, weil es nicht fähig war sich mit seiner kolonialen Überheblichkeit in einem größeren demokratischen Konstrukt einzufügen. Britannia rules the World und wenn das nicht geht sein Inselchen.

  • Danke, dass Sie Johnsons Worte richtig wieder gegeben haben. Die Verzerrungen in anderen Medien grenzten schon stark an Verleumdung.

  • Na bitte - Herr Johnson - Geht doch!

     

    Mit Schmunzeln & viel Zustimmung gelesen.

    Wen Ihr Namensvetter nicht nennt - aber meint - ist unser aller exIm & Gröfimaz Wolfgang Carl S.S. -

    Denn - MONEY RULS THE EU! &

    THERE'S - NO IDEA!

    Wie der leibhaftige Zerberus rollt die Stehende Null - den EU-Karren vor die Wand - gemeinsam mit einer traditionell - komplett undemokratischen Kommission!

    With Angies helpless agonie!

     

    So - wird denn der

    Inner-Eaton/Oxbridge-Showdown -

    als insulare Spiegelung als upper-class-fight deutlich. &

    Die Brexit-"Kontrahenten" dürften dabei unausgesprochen

    die Zeit - den gesellschaftlichen Zustand -

    post WK II im Hinterkopf haben - &

    Als Folie für post Wende nutzen!

    Denn post WK II - haben sich die Briten auch gegenüber postNaziGermany an die

    Nase gepackt - "Sach mal - hatten wir nicht grad den Krieg gewonnen!"

    (Maggie Thatchers Skepsis läßt grüßen!;)(ähnlich France!) http://www.taz.de/Nachruf-auf-Historiker-Fritz-Stern/!5302772/

     

    Hinzutritt - daß unser undemokratisches FDJ-Winkelement

    sich durch ihre sofortige Nichtdemission Schäubles nach dessen

    Erpressung via Grexit - "anderenfalls trete ich sofort zurück" - praktisch im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der EU handlungsunfähig gemacht hat. &

    Sie zudem gerade mit dem Flüchtlingsdesaster die Quittung für das

    Grexit-Desaster - ihrs & ihres - bräunlichen -

    Mr. Ausnahmezustandsdezionisten - RollingZeró - bekommen hat!

    kurz - daß Brexit eigentlich eine ohnmächtig-hilflose Reaktion ist -

    Dürfte beiden! - Kontrahenten mehr als klar sein!

    Ein echt Shakespeare-würdiger Stoff!