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Sachbuch über „Post-Privacy“Den Datendrachen reiten

Bedeutet der Verlust der Privatsphäre mehr staatliche Kontrolle? Nicht verteidigen, sondern strategisch nach vorne agieren, ist das Credo Christian Hellers.

Der Datenkrake muss kein Feind sein. Bild: benjaminbeckmann CC BY-SA 2.0

Vergesst die Finanzhaie, die Baulöwen, die Heuschrecken! Der Horrorzoo des Turbokapitalismus hat im Internetzeitalter ein neues Monster geboren: den Datenkraken. Überall saugen die Googles dieser Welt unsere Lebensinformationen auf, werden immer reicher und mächtiger – und nur ein paar wackere deutsche Datenschutzbeauftragte können sie noch stoppen und unsere heilige Privatsphäre retten.

So ist, etwas vereinfacht, der aktuelle Debattenstand zum Datenschutz. Dass es auch andere Interpretationen gibt, zeigt die noch junge „Post-Privacy“-Bewegung, die sich unter anderem in der „Datenschutzkritischen Spackeria“ organisiert und im Frühjahr 2011 eine erste Runde Medienaufmerksamkeit erhielt. Einer von ihnen, der 26-jährige Christian Heller, hat nun ihre Grundthesen aufgeschrieben.

Sein schlicht „Post-Privacy“ betiteltes Buch beginnt mit einer Bestandsaufnahme. Die „Verdatung“ der Welt ist tatsächlich nicht zu stoppen: Was wir einmal in die gigantische Speicher- und Reproduktionsmaschine Internet geben, kommt da nie wieder raus. Und weil digitale und nichtdigitale Lebensbereiche immer mehr verschmelzen, Computer zudem immer intelligenter Datenmassen durchpflügen und Leerstellen selbst ausfüllen, hilft nicht mal die Verweigerung.

Anstatt nun Abwehrschlachten gegen das Unvermeidliche zu führen, sollten wir deshalb lieber lernen, als mündige User den Übergang in eine transparente Gesellschaft zu schaffen, wobei der Transparenzanspruch dann auch und gerade für die staatlichen Institutionen gelten muss. Heller postuliert das Ideal der entfesselten, der frei flottierenden Daten, aus deren Schatz sich Menschheit und Wissenschaft bedienen können sollen.

Dem stellt er die von einer besonderen Angst getriebene deutsche Schule der Datenschutzpolitik gegenüber, die lieber „den Datendrachen tötet, anstatt auf ihm zu reiten“. Wobei auch deutsche Datenschützer zahm bleiben, wenn der Staat ein Bedürfnis hat, selbst Daten zu sammeln.

Datenschutz geht nur mit Überwachung

Möglich wäre allumfassender Datenschutz ohnehin nur, würde man konsequent alle Datenströme im Netz nachverfolgen und überwachen, damit auch ja nichts in falsche Hände gerät. Für Heller ist Datenschutz somit immer auch Unterdrückung und Drosselung des freien, anarchischen Datenflusses – und steht Seite an Seite etwa mit der Rechteverwertungsbranche und ihrem Kampf gegen Filesharer und Raubkopierer.

Zugleich zeigt Heller auf, dass Privatsphäre erstens kein Wert an sich ist und zweitens keineswegs immer da war. In der Antike galt der öffentliche Raum als höchstes Gut. Das Verb „privare“ ist eher negativ konnotiert, es bedeutet „berauben“. Und erst in den letzten Jahrhunderten fanden die Menschen aus der großen Wohn-, Ess- und Schlafstube in separat zugängliche Privatgemächer.

Wobei dieses Mehr an Privatsphäre nicht nur ein Segen war. Im Bürgertum stärkte der von der staatlichen Machtausübung abgekoppelte private Raum patriarchale Strukturen. Für die Arbeiterschaft bauten Industrielle schicke Sozialwohnungen nicht nur aus Menschlichkeit, sondern um die konspirative Verbrüderung in Massenbehausungen zu unterbinden.

Die größte Stärke Hellers ist, dass er Neues nicht per se als Bedrohung sieht. Zentrale Begriffe wie das Private, Daten, Macht, Wissen definiert er erst, um sie dann, befreit vom semantischen Ballast der aktuellen Debatte, in seiner Argumentation zu nutzen. Dabei sind nicht alle seine Thesen und Beispiele unbedingt einleuchtend. Einige Annahmen zum Segen einer transparenten Gesellschaft, in der sich alle notfalls gegenseitig kontrollieren können, erscheinen, wie er selbst zugibt, utopisch-naiv.

Dennoch leistet „Post-Privacy“ in der zunehmend hysterischen Datenkraken-Diskussion einen wichtigen Beitrag: indem es einfach mal ein paar Begriffe klarzieht und zeigt, dass die Datenentfesselung nicht immer nur als Gefahr, sondern auch als Chance begreifbar ist.

Christian Heller: „Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“. C.H. Beck, München 2011, 174 Seiten, 12,95 Euro

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8 Kommentare

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  • U
    unzeitgemaess

    Ein weiteres Problem ist, dass sich demokratische von totalitären Staaten gerade auch durch Privatssphäre unterscheiden. Privatssphäre markiert einen Raum in dem man keine Repressionen durch Machtstrukturen fürchten muss. Gerade für eine kritische Willensbildung ist die Privatssphäre der ideale Ort.

     

    Die "Abschaffung der Privatssphäre" trägt, wie ich in meinem Artikel auf meinen wordpressblog "unzeitgemaess"

     

    http://unzeitgemaess.wordpress.com/2011/12/06/ist-post-privacy-totalitar/

     

    versucht habe zu zeigen, totalitäre Züge.

  • MH
    Mario H.

    Sehr richtig @Bertram in Mainz!

    Die Hierarchie macht den Unterschied.

     

    Außerdem wissen wir nie, wie die Daten verwirbelt werden, um neue Daten zu erzeugen. Auch mit den Daten von anderen Menschen.

    Beispiel Schufa-Scoring.

    Oder in meiner Nachbarschaft leben viele Lungenkranke, also kriege ich einen bestimmten Job nicht.

  • S
    Sperling

    Aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen?

     

    Als ich las "Datenschutz geht nur mit Überwachung" musste ich würgen. Denn das ist so falsch, das es weht tut - andersrum wird ein Schuh daraus!

     

    Datenschutz beginnt bei jedem einzelnen - wer nicht möchte, das er im Netz mit seinem Namen gefunden wird, der darf ihn eben nirgends angeben, sollte verschiedene Emailadressen bzw. "Wegwerfemailadressen" für Foren etc. nutzen und einfach ein bisschen Nachdenken bevor er etwas über sich oder andere veröffentlicht.

     

    Datenschutz ist essentiell für die Meinungsfreiheit in einer Informationsgesellschaft - denn Meinungsfreiheit kann es ohne Datenschutz und Recht auf Anonymität nicht geben. Wenn man seine Meinung nicht mehr äußert weil man Angst haben muss dadurch benachteiligt zu sein ist das mangelndem Datenschutz geschuldet.

     

    Ich halte es für sehr einfach gedacht wenn man sagt: "Die wissen eh schon so viel von mir (weil ich so blöd war und es ihnen erzählt habe), dann können sie auch noch den Rest wissen" - und weil man nicht zugeben kann/will das man zu dumm war seine Daten zu schützen verkauft man es als politisches Konzept.

     

    Sperling

  • C
    christa

    @von Eost

    haha, schön gesehen.

    Aber wer von uns hat über "die Tage" denn wirklich mal alles 2-3 Tage ausgelassen?

     

    Die Diskussion wird zur Zeit von vielen jüngeren Akteuren bestimmt.

    Profis, die z. B. 10 Jahre länger dabei sind (und die ganze Sache übrigens aufgebaut haben) sehen schon eher die kritischen Aspekte.

  • BI
    Bertram in Mainz

    Denkfehler bei der Datenfreigabe: Die Anderen können mit den Daten machen, was sie wollen. Wir leben nicht in einem fröhlichen Verein von Gleichberechtigten, sondern in Hierarchien. Wer in der stärkeren Position ist, kann mit den Daten über den Schwächeren bestimmen.

     

    Man kann Kunden in "gute" und "schlechte" einteilen.

    Man kann Versicherungsprämien oder Kreditzinsen anpassen.

    Man kann Bewerber sortieren.

    Man kann nach Schwächen suchen, die man für Entlassung, Mobbing, Stalking ausnutzen kann.

     

    Blöde Werbung könnte man ignorieren, aber sie ist lästig. Und wer kann schon behaupten, er könne niemals auf ein gar so gut passendes Angebot reinfallen? Wenn der Verkäufer den Anderen besser kennt als der sich selbst, ist aufgeblasenes Selbstbewußtsein fehl am Platz!

     

    Vielleicht merkt man den Schaden gar nicht. Ein paar Zehntel Prozent bei einer lang laufenden Hypothek ergibt in der Summe einen gewaltigen Betrag. Oder man ist beim Personalabbau dabei und erfährt nie die Gründe, wer weshalb entlassen wurde.

     

    Zunehmend kommen Verdächtigen-Dateien in Mode. Kann man wirklich sicher sein, dass man da nie landet? Ein spektakulärer Anschlag, danach Rasterfahndung. Man erfährt vielleicht nie, weshalb man die Stelle im Öffentlichen Dienst nicht bekam. Oder weshalb die Polizei die Wohnung durchsuchte.

     

    Die Meisten von uns haben kein Problem damit, ihre Religion oder gewählte Partei zu offenbaren. Wenn man aber damit Ärger bekommt, schweigt man besser. Oder bei Leserkommentaren mit Klarnamen. Man könnte nichts mehr schreiben, das dem Umfeld oder dem Arbeitgeber nicht gefällt.

     

    Verzicht auf Datenschutz ist Naivität plus übergroßes Selbstbewusstsein. "Den Datendrachen reiten?" Da sollte man noch mal nachdenken, wer reitet, und wer geritten wird!

  • E
    Eost

    @Helga:

    >Der Gebrauch von Devices und Internet macht abhängig

    >(Studien div. Ministerien Südkorea) und strukturieren das

    > Gehirn um.

     

    Solcherart Bedenken mit ebenden 'Devices', im Internet, unter Nützung von w-2.0-Mitteln zu äussern, entbehrt nicht einer gewissen Komik.

  • C
    christa

    Ingobernable, guter Kommentar.

    Es ist nicht akzeptable, dass mit der schlichten Gewalt der möglichen digitalen Kopie immer wieder die Selbstaufgabe in ein schon angebetetes Netz gepredigt wird.

     

    Der Gebrauch von Devices und Internet macht abhängig (Studien div. Ministerien Südkorea) und strukturieren das Gehirn um.

     

    Warum sollte wir diesen Leuten trauen? Ob Schwarmintelligenz als Religion oder offen das Zeitgeist-Movement mit dem einen herschenden Computer – es läuft auf eine faschistische Struktur zu.

     

    Ob Digitalsozialismus (ohne z. B. wirkliche Begegnung der Akteure und Kontrollmöglichjkeiten!) oder IT-Konzern-Oligopol: Alles alte gefährliche Hüte.

     

    Die Avantgarde des Denkens in Europa beschäftigt sich schon mit der Postdigitalen Gesellschaft, die uns den Menschenrechten näher bringen kann.

     

    Schluss mit dem Tanz um das digitale goldene Kalb!

  • I
    Ingobernable

    Das ist einfach nur gefährliche Dummheit. In Einheit mit einem staatlichen Gewaltmonopol ist vollkommene Transparenz der Bürger wesentliches Merkmal totalitärer Systeme, weil ein zivilgesellschaftliches Korrektiv notwendigerweise auch auf nicht-öffentliche Kommunikationswege angewiesen ist. Der wesentliche Fehler Hellers, soweit aus dem Artikel ersichtlich, scheint wohl darin zu liegen, dass er keine Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Daten (bzw. solchen die es sein sollten) trifft.

    Neben diesen normativen Fehlschlüssen krankt auch die Argumentation:

    - Wenn ich (als Datenschützer) darüber entscheide welche Daten von mir ich öffentlich sehen möchte und welche nicht ist das wohl kaum Unterdrückung, sondern im Besten Fall emanzipatorisch.

    - Das Patriachat ist wohl kaum eine neue Erfindeung des aufkommenden Bürgertums. Richtig ist zwar sicher, dass es zu einer Verschiebung von Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen vom Feudal- zum Hausherren führte, aber auch in der so auf den öffentlichen Raum bedachten Antike waren Frauen wenig mehr als belebte Haushaltsgegenstände und konnten (wie auch die 80% der versklavten Bevölkerung) kaum an diesem teilhaben.

    - Auch die These, dass Sozialwohnungen wesentlich als Kontrollinstrument angelegt gewsesen wären ist arg steil, schließlich lässt es sich in einer Privatwohnung doch deutlich besser konspirieren als in Kollektivunterkünften. Die Befriedung des sozialen Konfliktes dürfte hier tatsächlich eher in der Form von minimalen Zugeständnissen durch verbessrte Lebensbedungen erfolgt sein.

     

    Also ihr "datenschutzkritischen Spackos" meine Daten sind nicht zum reiten da. weder für Schäubles noch für Zuckerbergs.