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Essay Nationalismus in EuropaNach der Kälte

Bis 1989 waren Europas nationale Leidenschaften tiefgefroren. Nun ist der Nationalismus zurück, in der Ukraine zeigt er sich doppeldeutig.

Ukrainische Polizisten auf dem Maidan im Januar 2014. Bild: imago/ITAR-TASS

Es war ein deutscher Schicksalstag, der 9. November des Jahres 1989, als – angeblich aufgrund eines Versehens des SED-Funktionärs Günter Schabowski – die Berliner Mauer geöffnet wurde und damit der „Kalte Krieg“ sein Ende fand. Als „kalt“ galt der Weltbürgerkrieg zwischen dem kapitalistischen, mehrheitlich demokratischen „Westen“ und dem parteidiktatorischen, planwirtschaftlichen „Osten“, weil entlang seiner in der Mitte Deutschlands gelegenen Grenze keine Kriegsfront verlief, sondern „nur“ ein auf Tötung von Flüchtlingen bedachtes Grenzregime herrschte.

Die heißen Fronten verliefen außerhalb Europas, als Stellvertreterkriege in Korea und Vietnam, im Nahen Osten sowie am Ende in Afghanistan. Diese Kriege, die die tödlichen Kosten der Systemauseinandersetzung in die – von Europa aus gesehen – „Peripherie“ verlagerten, sind als geopolitischer Fall von Eurozentrismus zu wenig beachtet worden. Im Rückblick zeigt sich, dass beim Gebrauch des Begriffs „Kalter Krieg“ die Eigenschaft der „Kälte“ ausgeklammert wurde. Abgesehen von John le Carrés meisterhaftem Spionageroman „Der Spion, der aus der Kälte kam“ ist man dem, was in diesem Zusammenhang „Kälte“ bedeuten könnte, nicht gerecht geworden.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird klar, dass der von 1947 bis 1989 währende „Kalte Krieg“ wie ein gigantisches „Kühlhaus“ wirkte, das viele der politischen Leidenschaften, die Europas Bevölkerungen vorher umtrieben, tiefgefroren hat. Seit 1989 herrscht Tauwetter, in dem Nationalismen wie Zombies wiederauferstehen. Jeder Blick in die Medien bestätigt die Aktualität dessen, was abwertend als „Nationalismus“ und wohlwollend als „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ bezeichnet wird.

Davon zeugen nicht nur die Euroskeptiker in den Parteien, sondern vor allem die Unabhängigkeitsbewegungen der Schotten, der Katalanen, der Flamen sowie der Basken, vor allem aber der Krieg in der Ukraine. Dabei ist das Wiedererstarken des Nationalismus nicht wirklich neu: Schon der vom Westen mitbetriebene Zerfall Jugoslawiens, auch die unauffällige Auflösung der Tschechoslowakei deuteten darauf hin, dass die Magie der „Nation“ die politischen Leidenschaften stärker beflügelt als jede andere Idee. Und zwar auch in der angeblich „postnationalen Konstellation“ (J. Habermas) der von der EU nur institutionell überformten europäischen Länder.

Zwei Ideen von Volk und Nation

Aber was ist eine „Nation“, was ein „Volk?“ Die neuere Geschichte kennt zwei idealtypische, in der Realität meist verfließende Formen: die romantische und die aufklärerische Idee: Während jene die Nation als eine durch Abstammung, Sprache und Kultur geprägte Herkunftsgemeinschaft sieht, versteht die aufklärerische Tradition sie als eine auf Individual- und demokratischen Rechten beruhende Zukunftsgemeinschaft.

Wer nach Namen sucht, wird für das romantische Konzept den deutschen Philosophen Herder und für das aufklärerische Konzept den französischen Revolutionär Abbé Sieyès beziehungsweise – im Fall der USA – Thomas Paine finden. Die zugrundeliegenden griechischen Begriffe „Demos“ und „Ethnos“ markieren den Unterschied.

Oft genug freilich waren „Patrioten“ bestrebt, beides – Herkunft und Freiheit – zu vereinen: etwa der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der in seinen 1808 unter französischer Besatzung in Berlin gehaltenen „Reden an die deutsche Nation“ zwar ein „deutsches Wesen“ beschwor und doch den Begriff der „Freiheit“ aufrief, wobei offen blieb, ob er darunter individuelle, demokratische Freiheiten oder die Freiheit verstand, als „Volk“ nach eigenen Maßstäben zu leben.

taz.am wochenende

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Sein Zeitgenosse Hegel, der einzelnen „Volksgeistern“ durchaus eine progressive Rolle zuwies, blieb gleichwohl misstrauisch: Dem aufs Mittelalter bezogenen polnischen Patriotismus seiner Zeit stellte er ein vernichtendes Zeugnis aus: „Die polnische Freiheit“, heißt es in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen, „war ebenso nichts anderes als die Freiheit der Barone gegen den Monarchen, wobei die Nation zur absoluten Knechtschaft erniedrigt war“.

Das von dem US-Präsidenten Wilson nach dem Ersten Weltkrieg postulierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ transportierte die systematische Doppeldeutigkeit von „Volk“ in den Bereich des internationalen Rechts, wo es schließlich im 1977 ratifizierten „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ seinen Ort gefunden hat.

Nationalgeschichte der Ukraine

Vor diesem Hintergrund erscheint der Krieg in der Ukraine nicht nur als Ausdruck eines der letzten (ethnischen) Nationenbildungsprozesse in Europa, sondern auch als Menetekel künftiger Krisen. Es waren seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Teile der Intelligenz der im österreichisch-ungarischen und im russischen Imperium lebenden Ruthenen, die unter Rückgriff auf eine im Zarenreich unterdrückte bäuerliche Kultur eine eigene Nation erdachten.

Freilich waren die Erfinder des „ukrainischen Volkes“, die Dichter und Historiker Schewtschenko, Hruschewskyj und Kostomarow sowie Gogol, Sohn eines Gutsbesitzers, alles andere als revolutionäre Demokraten. Vielmehr befleißigten sie sich einer nostalgischen Verklärung der bäuerlichen und kosakischen Vergangenheit jener Bevölkerungsgruppen, die neben dem Russischen auch Ruthenisch oder Ukrainisch sprachen.

Nach Ende des Zarenreiches folgte auf eine kurze Phase der Unabhängigkeit die von den Bolschewiki in ihrer kulturellen Eigenart unterstützte Gründung der ukrainischen Sowjetrepublik. Ein großer Teil ihrer Bevölkerung – mehr als drei Millionen Menschen – kam in Stalins mörderischer Kollektivierungspolitik, dem „Holodomor“ der Jahre 1932/33, ums Leben.

Die Wissenschaft streitet bis heute, ob Stalins gezielte Hungerpolitik sich „nur“ gegen widerstrebende Bauern, sogenannte Kulaken, wendete oder ob es sich um einen gezielten Genozid am ukrainischen Volk handelte. Auf jeden Fall sahen ukrainische Nationalisten nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im nazistischen Deutschland einen Bundesgenossen. Späte Erben dieser Bewegung gehören zu den aktiven Gruppen des „Maidan“ sowie zu jenen ukrainischen Freikorps, die in Donezk und Lugansk gegen russische Separatisten kämpfen.

Bandera auf dem Maidan

In der hiesigen Publizistik erschien der „Maidan“ als Freiheitsfeier im Geiste der Französischen Revolution. Tatsächlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein erheblicher Teil der AktivistInnen des Maidan vor allem gegen Korruption demonstrierte. Zugleich mag es vielen von ihnen um die Abwehr imperialer, ihr Selbstbestimmungsrecht missachtender russischer Politik gegangen sein. Andererseits hat niemand gezählt, wie viele Aktivisten welcher Überzeugung waren. Transparente mit Namen und Bild des ukrainischen Nazikollaborateurs Stepan Bandera jedenfalls wurden von den Demokraten auf dem Maidan weder untersagt noch entfernt.

Aber darauf kommt es nicht an: Worauf es ankommt, ist, dass in Kiew fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges eine klassische nationale Revolution in all ihrer Doppeldeutigkeit stattgefunden hat und man sich fragen muss, ob das ein verspätetes, ein unzeitgemäßes Phänomen oder nicht doch der Anfang einer neuen nationalistischen Welle ist. Form und Ausgang der schottischen Abstimmung immerhin geben Anlass zu der Hoffnung, dass nationalistische Leidenschaften zivilisierbar sind.

Nationale Vereinigungs- und Selbständigkeitswünsche im Tauwetter einer im Umbruch begriffenen Weltordnung tragen einen Januskopf: einerseits dienen sie als Hülle für alle möglichen, zum Teil gegensätzlichen Interessen, andererseits haben sie schon je eine verhängnisvolle Eigendynamik entfaltet: Man denke nur an die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914. Einhundert Jahre nach dem Beginn des auch damit ermöglichten Krieges ist festzustellen, dass in Europa zwar das Zeitalter der (klassischen) Nationalstaaten, nicht aber des Nationalismus überwunden ist.

Es war Immanuel Kant, der in Überlegungen „zum ewigen Frieden“ mit dem Gedanken eines „Weltbürgerrechts“ experimentierte. Dabei ging es gewiss nicht um ein kategorisches Recht auf Einwanderung, wohl aber um das Recht, aus Not gerettet zu werden. Nationalismus feiert heute seine Urstände nicht nur im Krieg zwischen ukrainischen und russischen Nationalisten, sondern auch in so zivilen Gremien wie dem deutschen Bundesrat, der soeben mit der Erklärung Serbiens, Bosniens und Mazedoniens zu „sicheren Herkunftsländern“ dem „Weltbürgerrecht“ einen wohlstandsnationalistischen Tritt versetzt hat.

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14 Kommentare

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  • Bemerkenswert, dass in diesem Essay nicht einziges Mal wirtschaftliche Gründe erwähnt werden:

    - die Flamen und Basken meinen, sie finanzierten die fauleren Mitbürger mit und wollen deswegen raus aus dem Staat (das nennt sich auch die deutsche Argumentation, der sich aktuell die AfD bedient)

    - Schottland wird von London aus der Austerität unterzogen und riskiert, sein ordentliches Gesundheitswesen zu verlieren (deswegen waren es vor allem nicht-wohlhabende Schotten, die für die Abspaltung waren)

    - ähnliche Mechanismen bringen der FN Stimmen (und deutschen Rechten in Ostdeutschland)

    - und auch in der Ukraine hatten sowohl der Protest gegen Janukowitsch, als auch die Entwicklung in der Ostukraine handfeste wirtschaftliche Aspekte

     

    Insofern wäre es hilfreich, mal zu reflektieren, dass der letzte nationalistische Ausbruch in Europa auch verdammt viel mit wirtschaftlicher Krise und Sparwahnsinn zu tun hatte.

  • Der Westen musste schnell ein staatliches Ding gegen Russland bauen und trieb wie immer "Nationbuilding" voran. Der Leitgedanke ist nicht,dass die Ukrainer neue Arier sind, sondern die Schuldfrage. Wer ist Schuld, dass der Ukrainer nicht an dem Olymp der Zivilisationen ist? Der Russe! Und so bedeutet ein-Ukrainer-werden-wollen eine Austreibung des Russischen aus dem eigenen Wesen. Und da man politisch korrekt ist, ersetzt man Russe durch Putin - Ich hasse Putin, also bin ich! Und fertig ist die Nation.

  • War doch klar, dass die Erinnerung an die letzten Puzelbäume des Nationalismus in Europa irgendwann einmal verblasst. Eine geschichtsvergessene unpolitische naive Jugend ist perfekt geeinget für die Renaissance dieses Irrsinns. Wie sagte Schophauer noch:

    "Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen"

  • Vielen Dank für den fundierten Artikel! Das ist man im Neuigkeiten-Geschäft gar nicht mehr gewohnt. Schade nur, dass Erik Hobsbawm nicht erwähnt wurde, der in "Nationen und Nationalismus" empirisch belegt sehr Erhellendes über die Fiktion der Nation geschrieben hat. Dennoch vielen Dank!

  • "Dabei ging es gewiss nicht um ein kategorisches Recht auf Einwanderung, wohl aber um das Recht, aus Not gerettet zu werden."

     

    Die Balkan-Roma können nicht "gerettet" werden, indem sie alle als Asylbewerber nach Deutschland kommen. Es mag sein, dass Deutschland sich engagieren sollte, um die Lebensbedingungen dieser Gruppe zu bessern, schon allein aus historischer Verantwortung, aber das Asylsystem kann nicht die Lösung sein.

    Ansonsten ist mir unklar, was dieser Artikel überhaupt sagen soll, alles altbekannt, und teils ziemlich verworren.

  • Hegel etwas abgewandelt könnte man sagen: „Die ukrainische Freiheit ist ebenso nichts anderes als die Freiheit der Oligarchen gegen die Regierung, wobei die Nation zur absoluten Knechtschaft erniedrigt ist“.

  • 9G
    90191 (Profil gelöscht)

    Man war mit der Wiedervereinigung gut 20 bis 30 Jahre zu schnell. Man hätte erst abwarten müssen und schauen, ob die drüben wirklich schon demokratiefähig sind.

    • @90191 (Profil gelöscht):

      Ich nehme an, die betroffenen Bürger sollen dann bei Ihnen eine Prüfung ablegen?

      • 9G
        90191 (Profil gelöscht)
        @warum_denkt_keiner_nach?:

        Prüfung? Aber nicht doch. Das wäre ja sowas wie ein Integrationstest - derartige Primitivitäten auszudenken überlasse ich der schwarzbraunen Fraktion.

         

        Nein, es reicht schon aus, zu beobachten, was offensichtlich ist: Lichtenhagen, NSU, Nazional Befreite Zonen, NPD und AfD in den Landtagen usw.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Die aus den Kameradschaften, "Ausländerbefreiten Zonen", Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) und die übrige dunkelbraune Bande auf jeden Fall.

         

        Sonst droht Ausweisung oder "Rückführung" in den Gulag.

        • @Eilige Intuition:

          Rein gefühlsmäßig könnte man ja mit Ihnen einer Meinung sein. Andererseits ist z.Z. ein Wahlverbot für solche Dummbeutel ein erster Schritt zum Ausstieg aus der Demokratie. In Sachsen würde es aber z.B. bestimmt schon helfen, Polizei, Justiz und Verfassungsschutz von Rechtsradikalen zu befreien und diese durch Demokraten zu ersetzten. Allerdings benötigt das Land dazu eine andere Regierung.

          • 9G
            90191 (Profil gelöscht)
            @warum_denkt_keiner_nach?:

            Und was für eine Regierung wäre das?

            • @90191 (Profil gelöscht):

              Eine in der die CDU nicht sitzt.

            • @90191 (Profil gelöscht):

              Eine linke?