Arbeitsbelastung von Lehrer*innen: Schule mal mit Stechuhr
Mit einer Studie soll die Arbeitszeit von Berliner Lehrer*innen minutengenau erfasst werden. Die Bildungsgewerkschaft vermutet große Belastungen.
Die teilnehmenden Lehrer*innen tragen dafür über eine App die Zeiträume und die Arten ihrer Tätigkeit ein – minutengenau und vollständig. Sie schließen die Einträge jeweils wochenweise ab. Außerdem werden sie zu Belastungen befragt. Die Studie startet am Montag mit dem Beginn des neuen Schuljahres. Rund 3.000 Lehrer*innen nehmen bisher teil, das sind knapp 10 Prozent der rund 32.000 Lehrkräfte in Berlin. Mindestens 5 Prozent brauche man, um repräsentativ zu sein, erläutert Studienleiter Frank Mußmann von der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Universität Göttingen bei der Vorstellung der Studie am Mittwoch.
Die Studie sei durch die Wocheneinteilung so aufgebaut, dass Lehrer*innen auch im laufenden Schulhalbjahr noch einsteigen könnten. Etwa 500 geschulte Multiplikator*innen sind bereits an den Schulen unterwegs. Mußmann rechnet damit, dass sich weiter Teilnehmer*innen anmelden werden. Auch Schulleiter*innen sollen befragt werden. Die Kooperationsstelle hat bereits in Niedersachsen und in Frankfurt am Main Lehrer*innen zu ihrer Arbeitszeitbelastung befragt. Die Studie in Berlin ist nun bundesweit die erste, für die Lehrer*innen über ein ganzes Schuljahr hinweg detailliert ihre tatsächliche Arbeitszeit erfassen.
Wie viele Stunden Lehrer*innen pro Woche arbeiten, ist auch deshalb unklar, weil in den Arbeitsverträgen nur ihre Unterrichtsstunden angegeben sind. An einer Grundschule etwa arbeitet ein*e Lehrer*in mit einem Vertrag über 28 Unterrichtsstunden in Vollzeit, wobei eine Unterrichtsstunde 45 Minuten entspricht. An Gymnasien wären es 26 Unterrichtsstunden. Dabei macht der Unterricht nach Schätzungen nur ein Drittel der Aufgaben aus, zu denen Lehrer*innen verpflichtet sind.
Klassenfahrten, Konferenzen, Zeugnisse, Projekte
Die Liste, die Gymnasial-Lehrer Schäfer aufzählt, ist lang: Unterrichtsvorbereitung, Korrekturen, Prüfungen, Konferenzen, Elternsprechtage und -abende, Aufsicht, Klassenfahrten, Projektwochen. „Wir müssen die Projekte und die Fahrten aber auch vorbereiten und abrechnen, wir sitzen in Gremien und Regionalkonferenzen, wir führen Statistiken, treiben Digitalisierung und Schulkonzepte voran, schreiben Zeugnisse, führen Bewerbungsgespräche und müssen uns mindestens 600 Minuten pro Jahr fortbilden“, sagt er. „Das erzeugt einen riesigen Zeitdruck.“ Für gute Pädagogik bräuchte es aber Ruhe und Gelassenheit, um Beziehungen aufzubauen und Gespräche zu führen. „Wir haben zu zweit sieben Stunden an der Abrechnung einer Klassenfahrt gesessen“, sagt Schäfer. Das sei unnötig. In der Woche vor der Zeugnisübergabe liegt man selbstverständlich über der gesetzlich vorgegebenen Höchstarbeitszeit.
Hintergrund der Studie ist für die GEW auch eine EU-Richtlinie und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, nach dem Unternehmen verpflichtet sind, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter*innen zu erfassen. „Das muss auch an Schulen passieren, wo die Lehrer*innen sich eben nicht einfach beim Arbeitsbeginn an der Stechuhr einstempeln“, sagt GEW-Vorsitzende Maike Finnern.
Die Arbeitszeiterfassung sei auch eine Frage des Arbeitsschutzes, meint Anne Albers, bei der GEW zuständig für Beamten-, Angestellten- und Tarifpolitik. „Wir vermuten, dass Lehrer*innen regelmäßig mehr als die gesetzlich geregelten 48 Stunden Höchstarbeitszeit pro Woche arbeiten“, sagte sie. „Gesund bleiben ist da nur mit Gehaltsverzicht möglich.“
Schon jetzt gehe man aufgrund von vorangegangenen, kleineren Studien davon aus, dass Lehrer*innen in Berlin jedes Jahr Millionen Überstunden leisten, die nirgends erfasst werden, sagte Finnern. „Uns interessiert, wo die Hotspots der Belastung liegen. Wo also Arbeitszeit eingesetzt wird. Auf der Grundlage können wir dann darüber diskutieren, wo man politisch eingreifen und wo man mehr gestalten kann“, sagte sie. Das Bildungswesen sei schwer unterfinanziert. „Eins ist klar: Wenn wir den Beruf attraktiver machen wollen, dann müssen wir etwas an den Arbeitsbedingungen ändern.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste