Arabische Juden: eine vergessene Fluchtgeschichte

Warum leben heute keine Juden mehr in Bagdad oder Algier? Die arabisch-islamische Judenfeindschaft ist um einiges älter als der Staat Israel

s/w-Porträt einer stolz erscheinenden Frau, die in festlicher Kleidung vor einer Hauswand steht und in die Kamera schaut

Aus einer angeblich „schutz­befohlenen“ Minderheit wurden schon bald Verfolgte: jüdische Frau in Bagdad um 1880 Foto: Ullstein Bild

Von Stephan Grigat

In Israel wird der 30. November als Gedenktag an Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran begangen. Das entsprechende Gesetz wurde 2014 im israelischen Parlament verabschiedet. Bereits 2010 hatte die Knesset den Beschluss gefasst, dass keine israelische Regierung ein Friedensabkommen unterzeichnen darf, das nicht auch die Frage der Entschädigung der jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und aus dem Iran regelt. Außerhalb Israels ist die Geschichte von Flucht, Emigration und Vertreibung der Juden aus den islamisch dominierten Staaten jedoch weiterhin nahezu unbekannt.

Wer, außer ein paar Spezialisten, weiß schon etwas über die Pogrome im marokkanischen Oujda und Jérada von 1948? Georges Bensoussan berichtet in seiner 2019 auf Deutsch erschienener Studie „Die Juden der arabischen Welt“ darüber. Oder über den Farhud in Bagdad, jenes Pogrom von 1941, das den Auftakt für das Ende der über zweieinhalbtausend Jahre alten jüdischen Gemeinde im Irak bildete? Wem ist heute bewusst, dass Ende der 1930er Jahre über 30 Prozent der Bevölkerung der irakischen Hauptstadt jüdisch waren, ein ähnlich großer Anteil wie zur selben Zeit in Warschau oder in New York?

Jeder Akademiker, Journalist oder politisch Interessierte, der sich auch nur oberflächlich mit dem Dauerkonflikt Israels mit seinen Nachbarn beschäftigt, weiß etwas über die „palästinensischen Flüchtlinge“, womit heute in den allermeisten Fällen ihre Nachkommen gemeint sind. Ihr Schicksal gilt bis in die Gegenwart als eines der Haupthindernisse für einen Frieden im Nahen Osten. Die etwa 900.000 Juden hingegen, die seit 1948 aus den arabischen Staaten und seit 1979 aus dem Iran geflohen sind, finden in gegenwärtigen Debatten zum Nahen und Mittleren Osten kaum Erwähnung.

Gegenwärtig leben zwischen drei und fünf Millionen Palästinenser in Israels Nachbarstaaten – zum Großteil die Nachfahren der rund 750.000 Flüchtlinge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 und des Sechstagekrieges von 1967. Ihr Flüchtlingsstatus wird auf die nachfolgenden Generationen vererbt, wodurch ihre Zahl bemerkenswerterweise immer größer wird. Im Gegensatz zu den Palästinensern waren Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern nahezu total und standen anders als im Fall der palästinensischen Flüchtlinge nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Kriegsgeschehen.

Die Zahlen zu Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten sind erschütternd: Von den über 250.000 marokkanischen Juden sind nur etwa 2.000 im Land geblieben. In Tunesien lebten 100.000 Juden, heute sind es 1.000. In Ägypten lebten 1948 75.000 und im Irak 135.000 Juden, heute sind es jeweils weniger als 20. Im Jemen waren es etwa 60.000, heute wird ihre Zahl auf 50 geschätzt. Die syrische jüdische Gemeinde wurde von 30.000 auf weniger als 15 dezimiert. In Algerien lebten 1948 noch 140.000 Juden, in Libyen 38.000. In beiden Ländern leben heute überhaupt keine Juden mehr.

Nicht alle der aus den arabischen Ländern vertriebenen Juden sind nach Israel geflohen, aber mit etwa 600.000 doch die überwiegende Mehrheit. Bis zur großen Einwanderungswelle aus der früheren Sowjetunion machten die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und ihre Nachkommen bis zu 70 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Heute sind etwa 50 Prozent der israelischen Juden Nachfahren von jüdischen Flüchtlingen und Emigranten aus den arabischen Staaten.

Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Juden aus der arabischen Welt ist zugleich die Geschichte einer einmaligen Integrationsleistung, die zusammen mit den Fluchtbewegungen aus Europa in Israel letztlich zu einem Bevölkerungsanstieg von etwa 120 Prozent geführt hat. 1948 war der neu gegründete und militärisch bedrohte jüdische Staat hinsichtlich der Masseneinwanderung von Juden aus den arabischen Staaten hin- und hergerissen. Man wollte bedrohten Juden zwar helfen. Zudem gab es ein massives Interesse an jüdischer Einwanderung; bereits 1942 hatte David Ben-Gurion seinen Tochnit HaMillion vorgelegt, einen Plan für eine Million Neueinwanderer. Aber er hatte dabei in erster Linie an möglichst gut ausgebildete jüdische Einwanderer aus Europa gedacht.

Israel förderte zwar Auswanderung und Flucht aus arabischen Ländern, ging dabei anfangs angesichts der immensen Probleme, die der junge Staat zu bewältigen hatte, allerdings ausgesprochen restriktiv vor. Bis 1955 erhielten aus Marokko nur Juden zwischen 18 und 45 Jahren sowie vermögende Familien das Recht zur Einwanderung. In einigen Fällen hat Israel spektakuläre Luftbrücken eingerichtet. In der Operation Fliegender Teppich wurden 1949 Zehntausende Juden aus dem Jemen ausgeflogen. Bei allen Schwierigkeiten und trotz vieler Vorbehalte der aschkenasischen, aus Europa stammenden Juden gegenüber den Mizrahim aus den arabischen Ländern kam es unmittelbar nach der israelischen Staatsgründung zu einer enormen Integrationsleistung. Die ursprünglich 650.000 Juden in Palästina nahmen innerhalb kürzester Zeit 700.000 weitere auf, viele von ihnen traumatisiert von der Shoah; und im Fall der Flüchtlinge aus den arabischen Staaten zwar nicht immer, aber doch häufig vergleichsweise schlecht ausgebildete Juden aus verarmten Bevölkerungsschichten.

Während die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen bis heute aufgrund der Politik der palästinensischen Führung und der Regierungen in Damaskus, Amman und Beirut mehrheitlich weiterhin in Flüchtlingslagern ein elendes Leben führen – in den meisten arabischen Staaten massiver Diskriminierung ausgesetzt sind und von Antizionisten zum Propagandamittel gegen den jüdischen Staat degradiert werden –, wurden die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern in Israel trotz enormer Schwierigkeiten integriert. Das ist einer der Gründe dafür, dass über die eine Gruppe bis heute auf höchster politischer Ebene regelmäßig diskutiert wird, wohingegen die andere nahezu in Vergessenheit geraten ist.

Ein anderer ist das antiisraelische Agieren der Vereinten Nationen. Seit 1947 wurden über 1.000 UN-Resolutionen zum arabisch-israelischen Konflikt verabschiedet. Mehr als 170 davon behandeln explizit oder indirekt das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen. Dem hingegen wird das Schicksal der 850.000 bis 900.000 jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und dem Iran weitestgehend ignoriert.

Aus israelischer Perspektive handelte es sich 1948 um eine Art Bevölkerungsaustausch, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Konfliktregionen stattfand. Die israelische Regierung war bereit, sich sowohl um die jüdischen Flüchtlinge aus Europa zu kümmern als auch um jene aus der arabischen Welt. Sie erwartete aber zugleich, dass sich die arabischen Staaten der Flüchtlinge aus Israel annehmen, die maßgeblich durch den arabischen Angriffskrieg gegen den neu gegründeten jüdischen Staat zustande gekommen waren. Dementsprechend hat Israel so gut wie nie versucht, mit dem Schicksal der jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern Politik zu machen. Oder gar ein „Rückkehrrecht“ für die irakischen, jemenitische, tunesischen, marokkanischen, algerischen, ägyptischen, syrischen oder libyschen Juden einzufordern.

Die Verfolgungsgeschichte der Juden aus den arabischen Ländern widerspricht der gerade im deutschsprachigen Raum weit verbreiteten Annahme, der Antisemitismus in den arabischen und islamischen Ländern sei ein Resultat des Nahost-Konflikts und der Gründung Israels. Der Blick auf die antijüdischen Traditionen in der arabischen und islamischen Welt verdeutlicht, dass der arabische und islamische Antisemitismus eine der zentralen Ursachen dieses Konfliktes ist.

Die von Historikern wie Bensoussan zusammengetragenen Quellen verdeutlichen, inwiefern es sich auch in den vergleichsweise unblutigen Perioden des jüdisch-muslimischen Zusammenlebens in der arabischen Welt mit seiner im europäischen Diskurs so hoch gelobten Tolerierung der Juden als „Schutzbefohlenen“ (dhimmis) um eine Toleranz handelte, die, wie Bensoussan schreibt, „aus Verachtung bestand“, und die schon lange vor 1948 immer wieder auch zu blutiger Verfolgung geführt hat.

Spätestens mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs war großen Teilen der arabischen Juden klar, wie sich ihre Situation darstellte. Und dass es keinen nennenswerten Unterschied machte, ob sie sich für oder gegen den Zionismus stellten. Die islamisch geprägte Mehrheitsbevölkerung in den arabischen Staaten hat sich letztlich in ihrem Verhalten gegenüber den Juden nicht darum geschert, ob die sich, wie in Syrien und im Irak, lautstark dem arabischen Antizionismus anschlossen; wie in Ägypten ein ums andere mal ihre Loyalität bekundeten; sich, wie teilweise in Tunesien und Libyen, offen hinter die zionistische Sache stellten; oder, wie häufig in Algerien, sich angesichts des Charakters des arabischen Nationalismus auf die Seite der Kolonialmacht schlugen.

Für die arabisch-islamische Verachtung von Juden bedurfte es nicht der Gründung Israels

Für die arabisch-islamische Verachtung von Juden bedurfte es nicht der israelischen Staatsgründung, die vielmehr als Treibsatz für die Transformation dieser traditionellen Verachtung der jüdischen dhimmis in einen Hass auf die sich selbst zur Souveränität ermächtigenden „Schutzbefohlenen“ fungierte. Die Radikalisierung der arabisch-islamischen Judenfeindschaft setzte vor der israelischen Staatsgründung ein und war in vielen Aspekten eine Reaktion auf die partielle Autoemanzipation der Juden in den arabischen Gesellschaften. Ähnlich wie im europäischen Antisemitismus, aber eingebettet in den Kontext einer anderen religiösen Tradition, wurden die Juden in der arabischen Welt als Repräsentanten der Moderne attackiert.

Dieser Hass auf die Moderne lässt sich bei Sayyid Qutbs programmatischer Schrift „Unser Kampf mit den Juden“ zeigen, die bis heute islamistische Attentäter rund um den Globus inspiriert, oder anhand der Schriften des im deutschsprachigen Raum viel zu unbekannten algerischen Vordenkers des Islamismus, Malek Bennabi. An Bennabi („Dies ist das Jahrhundert der Frau, des Juden und des Dollars“) lässt sich auch die innige Verbindung von Juden- und Frauenhass im arabischen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts demonstrieren. Woran sich auch eine deutliche Parallele zum europäischen Antisemitismus insbesondere des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts zeigen ließe.

Doch selbst im Panarabismus musste die radikale antisemitische Politik erst durchgesetzt werden. In Ägypten etwa weigerte sich Muhammad Nagib, der erste Präsident nach dem Sturz der Monarchie 1952, den Forderungen der Arabischen Liga nach Konfiszierung des jüdischen Eigentums nachzugeben. Und zu Jom Kippur besuchte er demonstrativ eine Synagoge in Kairo. Zur rasanten Verschlechterung der Situation der Juden in Ägypten kam es erst ab 1954 mit dem Sturz Nagibs und der Präsidentschaft Gamal Abdel Nassers. Der hatte als Offizier im Zweiten Weltkrieg aufgrund eines für den Nahen Osten typischen Gemischs von Antikolonialismus und Antisemitismus zeitweise mit deutschen und italienischen Agenten kooperiert. Und er empfahl die antisemitische Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ zur Lektüre, die bis zum heutigen Tag die ägyptische Gesellschaft vergiftet.

Ein schonungsloser Blick auf die antisemitischen Traditionen in den arabischen und islamischen Gesellschaften – eine Reflexion der Geschichte von Diskriminierung, Verfolgung, Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten – würde auch in der deutschsprachigen Diskussion über den Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn ein besseres Verständnis der Situation ermöglichen. Ein solcher könnte perspektivisch wohl auch einen Beitrag zu einer weiteren Annäherung im Nahen Osten leisten, wie sie mit den Abraham Accords derzeit aufblitzt. Diese Annäherung kann letztlich aber nur gelingen, wenn es in den arabischen Gesellschaften und den islamischen Gemeinden zu einer Selbstkritik grundlegenden Ausmaßes kommt. Dementsprechend wäre es wichtig, jene vereinzelten Stimmen zu unterstützen, die solch eine Selbstkritik heute schon formulieren.

Die arabischen Gesellschaften selbst müssen sich letztlich entscheiden: Niemand zwingt sie, innere Konflikte mittels des Antisemitismus weiter auf den äußeren Feind Israel zu projizieren, nachdem sie sich durch die Ver­treibung der arabischen Juden um die konkrete Projektionsfläche im Innern gebracht ­haben.

Bereits Herbert Marcuse notierte im Vorwort für die hebräische Ausgabe von „Der eindimensionale Mensch“ eine Bedingung für eine friedliche Koexistenz von Juden und Arabern im Nahen Osten, die leider bis heute nicht erfüllt ist: „Nur eine freie arabische Welt kann neben einem freien Israel bestehen.“

Der Autor ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus am Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen und der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Er ist Herausgeber von „Iran – Israel – Deutschland. Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm“ und Autor von „Die Einsamkeit Israels: Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung“.