Antisemitismus in Deutschland und Essen: Nach dem Anschlag
Ein Angriff in Essen entpuppt sich als internationaler Krimi mit Rockern und Revolutionsgarden. Doch er zeigt auch banalen, antisemitischen Alltag.
Die Alte Synagoge ist, wie selten das in Deutschland ist, ein prächtiger Bau mitten im Zentrum der Ruhr-Metropole. Im neobyzantinischen Stil reckt sie ihre Kuppel selbstbewusst seit 1913 in den Himmel neben dem Rathaus, damals Haus einer der größten jüdischen Gemeinden im Rheinland. Vor dem Hauptportal fließt es mehrspurig, daneben zieht die ruhigere Streeler Straße. Nebenan: das Hotel Shanghai, lange einer der feinsten Clubs des Ruhrgebiets. Hier liegt auch der Eingang des Rabbinerhauses, baulich Teil der Synagoge.
Seit 1938 wohnt hier kein Rabbiner mehr, genauso wenig wie die Synagoge eine Synagoge ist: Sie ist ein Kulturzentrum, und das Rabbinerhaus ist Teil der Universität Duisburg-Essen. Wenn man es genau nimmt, fielen die Schüsse auf den Eingang zu Forschungsinstituten: Das Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte ist dort untergebracht und Räumlichkeiten eines Forschungszentrums für Gesundheitsökonomie.
Jüdische Welten der Gegenwart
„Das Attentat war etwas Generelles. Das hat nichts mit einem persönlichen, individuellen Vorfall zu tun. Kann es ja auch nicht. Mit einem Forschungsinstitut für Gesundheitsökonomik kann man schließlich keinen persönlichen Krach haben“, sagt Uri Kaufmann ironisch. Seit 2011 leitet der Historiker das Haus, machte die Alte Synagoge zu einem sichtbaren Kulturort weit über die Region hinaus. Gezielt sprechen seine Workshops, Veranstaltungen und Konzepte nicht nur das ältere Bildungsbürgertum, sondern auch Schüler*innen aus der Nachbarschaft an, die oft aus antisemitischen Umfeldern kommen. Das Leben, nicht die Vernichtung steht im Mittelpunkt, jüdische Welten der Gegenwart. „Es soll ein offener Ort sein, ein angenehmer Ort“, erklärt Kaufmann. In der Galerie hängt ein Porträt von Amy Winehouse.
Vom Anschlag auf sein Haus erfuhr der Leiter nicht durch die Behörden, sondern durch einen Anruf des Priesters der benachbarten Altkatholischen Gemeinde. Kaufmann ist unzufrieden mit der Kommunikation. Dass NRW-Innenminister Herbert Reul zur Synagoge kam und TV-Interviews gab, erfuhr er auch erst aus den Nachrichten. „Man ist schon manchmal überrascht, wenn man nur en passant Dinge erfährt, die einen doch angehen“, sagt er, „wir müssen ja den Kopf hinhalten, hier im Haus, die anderen nicht.“
Seit gut zwei Wochen entwickelt sich der Fall immer mehr zu einem überdrehten Thriller mit internationalen Dimensionen. Schon bald fällt den Behörden auf, dass die Schüsse Teil einer Anschlagsserie sein könnten: Nachdem die Polizei Informationen über einen Anwerbeversuch für einen Anschlag auf die Dortmunder Synagoge erhielt, erschien auch der Wurf eines Brandsatzes auf die Bochumer Hildegardis-Schule in der gleichen Nacht neu verdächtig – die Schule grenzt unmittelbar an die Synagoge. Ein Verdächtiger für Anwerbung und Brandstiftung sitzt in Haft.
Rocker und Revolutionsgarden
Mittlerweile ermittelt im Fall des Anschlags von Essen der Bundesgeneralanwalt, der Verdacht, ein ausländischer Geheimdienst sei an der Tat beteiligt, hat sich zuletzt erhärtet. Die Spur führt zu iranischen Revolutionsgarden – und zugleich ins Rockermilieu des Ruhrgebiets. Der bereits verhaftete Deutsch-Iraner soll Kontakte zum Hells-Angels-Boss Ramin Y. haben, Hauptverdächtiger in einem brutalen Mordfall und seit letztem Jahr im Iran untergetaucht sein. Von dort aus soll er ein Terrorkommando der Revolutionsgarden in Deutschland steuern. Auf der Zielliste auch: der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster.
Die Ermittlungen sind nicht zuletzt auch außenpolitisch von hoher Bedeutung: Um die Frage, ob die Revolutionsgarden als Stützen des Regimes auf die EU-Terrorliste gesetzt werden sollen, herrscht Zwist. Ein Beweis für terroristische Anschläge in Mitteleuropa könnte die Debatte massiv verändern. Dennoch blieb die Reaktion der Politik bislang eher in leiseren und routinierten Bahnen, was angesichts der Intensität der Lage viele verwundert.
In der Nachbarschaft hat sich eine Schule schnell solidarisiert und eine Demo mit mehreren hundert Schüler*innen gegen Antisemitismus organisiert: die Frida-Levy-Gesamtschule, geprägt durch muslimische Schülerschaft, benannt nach einer jüdischen Frauenrechtlerin. Die 18-jährige Schülersprecherin Manal Aarab ist schockiert. „Antisemitismus ist in der Innenstadt präsent“, sagt sie, „und auch in der Schülerschaft gibt es einen unterschwelligen Hass.“ Es sei aber kein Problem einer bestimmten Community: „Deutschland hat eine Vorbildfunktion. Und dass wir immer nur das Nötigste tun, ist erschreckend.“
Antisemitische Angriffe aus dem islamischen und antiimperialistischen Spektrum gab es auf die Alte Synagoge, seit sie in den 1980ern Kulturort wurde. 2000 griffen bei einer Demo gegen israelische Politik palästinensische Libanesen das Gebäude an, Steine flogen. Während des Gazakrieges 2014 gab es Aufrufe zur Zerstörung, zahlreiche Festnahmen verhinderten die Umsetzung.
Schläge, Stöße, Schüsse
Die heutige jüdische Gemeinde hat ihren Sitz in der abgelegenen Sedanstraße. Die Präsenz der Alten Synagoge im Zentrum der Stadt ist für sie ein Garant verhältnismäßiger Ruhe. Antisemitische Aggression entlädt sich meist auf Kaufmanns Kulturzentrum. Die Polizeipräsenz wurde dennoch überall verstärkt, die markante Kuppelschale der neuen Synagoge wird demnächst auch von einem schützenden Zaun umgeben. Vor zwei Jahren zerstörte der Wurf einer schweren Gehwegplatte ein Fenster. Und kurz nach den Schüssen vom November entdeckte man auch am metallenen Mantel der neuen Synagoge verdächtige Löcher – diese entpuppten sich allerdings nach ballistischer Untersuchung nicht als Einschüsse, sondern als Ergebnis von Schlägen oder Stößen. Ein unbemerkter Angriff, der alltägliche Hass.
„Die Gewaltspirale dreht sich. Früher gab es Schmierereien, dann Steinwürfe, jetzt sind es Schüsse mitten in der Stadt. Der Täter ist noch nicht festgenommen, wir wissen nicht, was er vorhat, das gibt ein großes Unsicherheitsgefühl“, sagt Schalwa Chemsuraschwili, Vorstandsvorsitzender der Gemeinde. Den Gottesdienst am Tag nach der Tat abzusagen hatte er mit seinen Gemeindemitgliedern debattiert. Aber: „Die Abschreckung hat nicht funktioniert“, sagt er. Und dennoch seien viele verunsichert. Umso wichtiger sei die Anteilnahme, die die Gemeinde erfahre, erzählt Chemsuraschwili.
Viele schrieben, sicherten ihre Solidarität zu. In einer fraktionsübergreifenden Erklärung des Stadtrats distanzierte sich Essen von Antisemitismus. Aber das reiche nicht, sagt Chemsuraschwili, der in seinem familiären Umfeld Erfahrungen mit Mobbing an Schulen gemacht hat. Dem Lehrpersonal wie der Justiz fehle es an Sensibilität. Zu oft würden antisemitische Taten pathologisiert oder als politischer Protest gegen Israel verharmlost, statt als solche benannt und bestraft zu werden.
Dauerübung in Resilienz
Unterdessen bleibt der Anschlag in Essen dubios. Bei der Staatsterrorismusthese zucken die Schultern derjenigen, die sich noch an das mutmaßlich vom Iran durchgeführte Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum von Buenos Aires 1994 mit 85 Toten erinnern – nächtliche Schüsse auf das Nebengebäude einer ehemaligen Synagoge erscheinen dagegen dilettantisch. Aber wie konnte ein Mitglied der Hells Angels im von den gegnerischen Bandidos dominierten Essen überhaupt Anschläge ausführen? Und nicht zuletzt erinnert man sich nicht nur beim Bündnis „Essen stellt sich quer“ an die nie aufgeklärten Schüsse auf ein Kulturzentrum 2018, hinter denen man die rechtsextreme Gruppierung Steeler Jungs vermutet, die als Schnittpunkt von Hooligans, Rockern, Neonazis und Bürgerlichen das Essener Viertel Steele mit bürgerwehrähnlichen Aufmärschen terrorisieren. Eine Szene, die heute von „eingewandertem Antisemitismus“ spricht.
Für jüngere Essener Juden wie den Schauspieler Anton Tsirin ist die Frage der Täterschaft eher zweitrangig. Weil es nichts ändert daran, wie jüdischer Alltag aussieht, als Dauerübung in Resilienz. „Ich habe gecheckt, ob jemand verletzt wurde, näher habe ich mich nicht damit beschäftigt. Ich habe überlegt, warum es mich nicht bewegt hat“, erzählt er. „Wenn ich nicht schon gewusst hätte, dass es einen Anschlag geben könnte, wenn es etwas Neues wäre, wäre ich erschüttert.“ Aber so: „Was hast du davon, in ein Gebäude zu schießen, das hundert Jahre alt ist? Was willst du auslösen? Wenn du uns erschrecken willst, lass dir was Besseres einfallen. Dafür haben wir viel zu viel Scheiße fressen müssen in der Vergangenheit.“ Ähnlich sieht das Uri Kaufmann. Ob Schüsse oder Stille, die Wache steht vor der Tür: „Das gehört zur Realität, die Sie über die Jahrzehnte erfahren, die Teil einer Normalität geworden ist.“
Für das nächste Jahr plant er die Übernahme einer Ausstellung vom Baukunstarchiv NRW: „Teheran – Tel Aviv“ zeigt die architektonische Brücke zwischen den beiden sich seit der Moderne auseinanderentwickelnden Städten. Auch angesichts des Verdachts zu den Hintergründen der Schüsse in Essen bleibt nur die Hoffnung, dass das theokratische System im Iran 2023 aufgeben muss, damit zumindest seine Rolle im globalen Hass auf Jüd*innen an ein Ende gekommen ist. Der Antisemitismus wäre damit aber natürlich längst nicht verschwunden.
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