Anschlag in Hanau: Im Terrorwahn

In Hanau tötet ein Mann neun Menschen mit Migrationshintergrund. Zuvor verbreitete er Hass. Wo beginnt Terror?

Das Auto des rechten Attentäters R. wird in Hanau von der Polizei abgeschleppt.

Ermittler beschlagnahmen das Auto von Tobias R. in Hanau Foto: Thomas Lohnes/afp

HANAU / BERLIN taz | Tobias R. hat sich ordentlich ein Hemd angezogen für sein Video, er blickt ernst in die Kamera. „Dies ist eine Botschaft an das gesamte deutsche Volk“, sagt der Hanauer. Und dann redet Tobias R., eine Stunde lang. Über seine Kindheit, über Geheimdienste, die ihn überwachten, über fehlende Frauen in seinem Leben, über US-Einsätze im Irak und Afghanistan. Aber auch: über „Ausländerkriminalität“, über Menschen mit Migrationshintergrund, deren Existenz „an sich ein grundsätzlicher Fehler ist“ und über Völker, die „vernichtet werden müssen“.

Und aus all diesen Gründen, sagt R., „blieb mir also nichts anderes übrig, so zu handeln, wie ich es getan habe“.

Es ist ein abstruses Video, wirr, verschwörerisch, voller Hass. Aber Tobias R. spult seine Gedanken mit gewichtigem Blick runter. Er hat sie auch verschriftlich, in fehlerfreiem Deutsch, in einem „Skript“, 24 Seiten lang. Den Schriftsatz und das Video stellt Tobias R., neben anderen Dokumenten, auf eine auf seinen Namen angelegte Internetseite, legt dazu ein Impressum mit seiner Adresse und Handynummer an. Ein fast bürokratisches Vorgehen. Und dann zieht Tobias R. los.

Mit seinem schwarzen BMW, so der Ermittlungsstand, fährt der 43-Jährige am Mittwochabend in die Hanauer Innenstadt. Mit einer Waffe stürmte er zunächst die Shishabar „Midnight“ am zentralen Heumarkt, erschießt dort mehrere Menschen. Dann fährt Tobias R. weiter, westwärts zum Ortsteil Kesselstadt, wo er die „Arena Bar“ am Kurt-Schumacher-Platz angreift und weiter mordet. Am Ende sind neun Menschen mit Migrationshintergrund tot, 21 bis 44 Jahre alt, sechs weitere teils schwer verletzt.

Schlimmste Rechtsterrortat seit dem NSU

Dann fährt Tobias R. nach Hause. Als die Polizei, von Zeugen auf das Tatfahrzeug hingewiesen, dort später in der Nacht eintrifft, finden sie Tobias R. und dessen 72-jährige Mutter tot auf, beide erschossen. Neben Tobias R. liegt eine Pistole. Unverletzt bleibt der Vater.

Zehn Mordopfer, neun davon aus rassistischem Hass. Der Anschlag von Hanau ist damit der schwerste rechtsterroristische Anschlag seit der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, der 2011 aufflog. Noch um 4 Uhr in der Nacht zieht die Bundesanwaltschaft die Tat an sich, wegen der besonderen Bedeutung des Falls.

Es ist die Fortsetzung einer bedenkliche Gewaltserie, die sich in den vergangenen Monaten in Gang setzte. Schon im Juni hatte ein Rechtsextremist in Hessen getötet: Er erschoss den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dessen Haus. Einen Monat später schoss ein Mann auf einen Eritreer in Wächtersbach, auch Hessen, verletzte das Opfer lebensgefährlich. Im Oktober versuchte ein Rechtsextremist in Halle die Synagoge zu stürmen, erschoss danach zwei Passanten. Und erst am Freitag hatte die Bundesanwaltschaft 12 Rechtsextremisten unter Terrorverdacht festnehmen lassen, die „Gruppe S.“, Fanatiker aus dem Bürgerwehrmilieu.

Und nun Hanau.

„Rassismus ist ein Gift“

Mit „Entsetzen“ reagiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag auf die „terroristische Gewalttat“. Kanzlerin Angela Merkel sagt: „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift, und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft, und ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen.“ Tatsächlich: Es ist etwas ins Rutschen gekommen in diesem Land.

Tobias R. hat dazu nun beigetragen. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn nicht auf dem Schirm. Der 43-Jährige lebte in einer Wohnung in einem Reihenhaus in Kesselstadt, bei seinen Eltern. Nach eigener Auskunft in seinem Video machte er eine Bankerlehre und studierte BWL. Ein Bildausschnitt zeigt sein karg eingerichtetes Zimmer: ein senffarbener Sessel, ein Bett, vor allem aber Regale voller Aktenordner. In seiner Freizeit betätigte sich R. als Sportschütze. Als Rechtsextremist fiel er den Behörden nicht auf, auch nicht mit sonstigen Straftaten.

Offensichtlich aber scheint, dass Tobias R. psychische Probleme hatte. In seinem Video äußert er immer wieder, dass er sich überwacht und verfolgt fühle. Tobias R. spinnt sich in einem wahnhaften Komplott, in dem eine „Geheimorganisation“ die Welt steuere und sich Geheimdienste in Gehirne „einklinken“ könne. R. erzählt von einer „Schattenregierung“, von Hollywood, vom DFB und Donald Trump. Etliche Ereignisse der Weltgeschichte seien „auf meinen Willen zurückzuführen“, sagt er.

Gleichzeitig klagt er, nie eine Frau an seiner Seite gehabt zu haben. Und er ätzt über Menschen mit Migrationshintergrund, die „nicht leistungsfähig“, kriminell und „in jeglicher Hinsicht destruktiv“ seien. Deren Ausweisung sei „keine Lösung mehr“, es brauche eine „Grob-Säuberung“. „Ich würde diese Menschen alle eliminieren.“ Seine Tat sei daher als „Doppelschlag“ zu verstehen, schließt Tobias R.: „gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes“.

Wo beginnt Terror?

Die Einordnung der Tat hinterlässt damit Fragen. Was ist hier Terror, was ist Wahn? Die Frage stellt sich nicht zum ersten Mal.

Schon nach dem Attentat am Münchener OEZ-Einkaufszentrum 2016 wurde darüber diskutiert. Neun Menschen hatte damals der 18-jährige David S. erschossen, allesamt Menschen mit Migrationshintergrund. Jahrelang stritten die Gutachter, ob hier ein rassistisches Verbrechen vorliegt. Weil der Täter sich von Mitschülern gemobbt fühlte und psychische Problem hatte, dann aber seinen Frust gegen Menschen mit Migrationshintergrund richtete, gegen diese „Untermenschen“ und „Kakerlaken“, wie er schrieb, weil er für den Rechtsterroristen Anders Breivik schwärmte und genau an dessen Attentatstag loszog. Erst im Oktober 2019 entschieden die Ermittler: Die Tat wird als rechtsextrem eingestuft, weil sich David S. seine Opfer gezielt ausgesucht habe.

Auch nach dem Halle-Attentat tauchte die Diskussion wieder auf. Auch der dortige Attentäter Stephan Balliet verfasste eine Dokumentensammlung, in der er aufrief, „so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, Juden präferiert“. Dazu schrieb er eine Liste, auf welche Weisen er alles Juden töten wolle. Seinen Verteidiger fragte er als Erstes, ob dieser Jude sei. Dennoch halten die Behörden Balliet bisher für voll zurechnungsfähig. Die Anklage gegen ihn soll demnächst erhoben werden.

Beide Fälle zeigen aber auch die rechtsextremen Ideologiefragmente, welche die Täter aufgriffen – und derer sich nun auch der Hanau-Attentäter Tobias R. bedient. In seinem Fall ist es der tiefe Hass auf Menschen mit Migrationshintergrund und der Wahn, das diese bewusst auf eine „weitere Vermehrung“ setzten, wie R. schreibt. Es ist das in der Szene propagierte Bild des „Großen Austauschs“, eines angeblich gezielten Bevölkerungsaustauschs. Bei Tobias R. kommen dazu Anleihen an die Incel-Bewegung, die sich aus ihrer Sexlosigkeit in einen Hass auf Frauen steigern.

„Zutiefst rassistische Gesinnung“

Auch der Thüringer Rechtsextremismusforscher Matthias Quent ordnet den Fall am Donnerstag wegen der rassistischen Opferauswahl als Hassverbrechen und rechten Terror ein. „Aspekte von Amok und Terror schließen sich nicht aus“, betont er.

Gleiches tut am Nachmittag auch Generalbundesanwalt Peter Frank. Auch er attestiert Tobias R. „wirre Gedanken“ und „abstruse Verschwörungstheorien“, zugleich aber auch eine „zutiefst rassistische Gesinnung“. Die Indizien für eine rechtsextremistische Tat seien daher „gravierend“. „Das war eine Nacht, die uns noch lange in Erinnerung bleiben wird.“

Die Sicherheitsbehörden stellt der Fall aber noch vor ein größeres Problem. Denn wieder konnte sich ein Mann im Stillen radikalisieren, wieder konnten sie einen Rechtsextremisten nicht von seiner Tat abhalten – wie schon im Fall Lübcke und in Halle. Und wie konnte jemand mit derart psychischen Problemen an Waffen gelangen?

Tobias R. besaß Waffen als Sportschütze

Nach taz-Informationen besaß Tobias R. schon seit Jahren legal Waffenbesitzkarten als Sportschütze. Drei Pistolen sollen darauf registriert gewesen sein: je eine der Marken Sauer, Luger und Walther. Erst im vergangenen Sommer wurde Tobias R. von den Behörden routinemäßig kontrolliert: ohne Auffälligkeiten.

Dabei hatte die Bundesregierung zuletzt erst ein Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus geschnürt – inklusive eines verschärften Waffenrechts. Nun sollen Antragsteller eines Waffenscheins zuerst mit einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz überprüft werden. Allein: Tobias R. war dort ja nicht bekannt.

Das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz hatten zudem Konzepte aufgestellt, um auch Einzeltäter schneller aufspüren und deren Gefahr besser einschätzen zu können, etwa mit dem geplanten Analysetool Radar-rechts. Aber auch hier müssen die Gewalttäter überhaupt erst ins Visier der Behörden kommen.

„Sehr besorgniserregende Entwicklungen“

Generalbundesanwalt Peter Frank will nun vorerst klären, ob Tobias R. Mitwisser und Unterstützer hatte, möglicherweise auch im Ausland. Gleichzeitig sind die Behörden in Sorge über die derzeitige Dynamik in der rechtsextremen Szene. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der am Donnerstag mit anderen Spitzenpolitikern eigens nach Hanau reist, spricht von „sehr besorgniserregenden Entwicklungen“. Er verkündet, die Sicherheitsvorkehrungen in Deutschland zu verstärken. Noch am Abend wolle er mit den Innenministern der Länder darüber beraten, auch „vor dem Hintergrund vieler öffentlicher Veranstaltungen in den nächsten Tagen“.

In Hanau wollten sich da parallel Bürger und Politiker zu einer Gedenkkundgebung versammeln. Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) spricht zuvor schon von zurückliegenden Stunden, die zu den „traurigsten, bittersten gehören, die diese Stadt seit Friedenszeiten erlebt hat“.

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Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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