Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker: „Die Mitte muss widersprechen“
Sachsens Vize-Ministerpräsident Günther fordert eine Reaktion der CDU nach dem Rücktritt von Landrat Neubauer: „Das muss ein Weckruf sein.“
In einem zwanzigminütigen Video hatte der parteilose Neubauer erklärt: „Ich gebe auf, weil da draußen zu viele den Mund halten.“ Zwei Jahre war er im Amt und hätte es noch bis 2029 bleiben können. Aber weil in seiner Region der Gestaltungswillen fehle und er seit Monaten von Rechten bedroht werde, wolle er seinen Posten so schnell wie möglich räumen.
Laut Vize-Ministerpräsident Günther ist Neubauer mit dieser Entscheidung nicht allein. „Mir haben Bürgermeister*innen gesagt, dass sie nicht mehr antreten, weil sich die Lage so geändert hat“, sagt Günther der taz. Genauso sei es bei Landtags- und Bundestagsabgeordneten.
In der vergangenen Woche kündigte beispielsweise Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas (CDU) aus dem Vogtland an, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren. „Ich habe viel an Beleidigungen, Bedrohungen, aber leider auch viel Gleichgültigkeit erlebt. Das raubt Kraft“, begründete sie. Ähnlich klang es Anfang des Monats auch beim Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby (SPD) aus Sachsen-Anhalt.
Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.
Kretschmer äußert sich nicht
Vize-Ministerpräsident Günther glaubt: „Das muss ein Weckruf sein. Wenn engagierte Menschen keine Verantwortung mehr übernehmen wollen, dann ist der Schaden für die Demokratie eingetreten.“ Das Problem seien dabei nicht nur die Extremist:innen. „Dass manche Menschen nicht mit Fakten klarkommen, wird man wahrscheinlich nie ändern können“, sagt Günther. Verändern könne sich aber die „Mitte der Gesellschaft, die für ihre Werte eintreten und Extremisten widersprechen muss.“
Mit der „Mitte der Gesellschaft“ meine Günther auch seinen Koalitionspartner: „Die CDU, die ja von Neubauer ausdrücklich adressiert wurde, sollte sich Gedanken machen, wie sie die Demokratie stärker verteidigen kann.“
David Begrich, Theologe, Sozialwissenschaftler und Experte für Rechtsextremismus, sieht als einen der Gründe für die Rücktritte, dass extrem Rechte Parteien stärker werden. Zum Beispiel hat die AfD laut Begrich ein intrinsisches Interesse an Polarisierung. Allerdings zeigt er wenig Hoffnung, dass der Rücktritt von Neubauer zu einer Änderung führt. „Ich fürchte, diese Anfeindungen bekommen zwei Tage lang Aufmerksamkeit, dann sinkt das wieder ab.“ Eigentlich wünsche er sich, „die Normalisierung würde von höherer Ebene konfrontiert.“ Damit meine er beispielsweise Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU).
Bisher äußerte sich Kretschmer nicht zum angekündigten Rücktritt Neubauers. Auch Stefan Hartmann, Landesvorsitzender der Linken in Sachsen, kritisiert das: „Während der Ministerpräsident fleißig die Weltlage kommentiert, zeigt er sich bei wichtigen Themen im eigenen Bundesland erstaunlich wortkarg.“ Dabei sei es Aufgabe der „demokratischen Kräfte“, kommunale Amtsinhaber:innen zu unterstützen.
Statt des Ministerpräsidenten Kretschmer äußerte sich Susan Leithoff, Kreisvorsitzende der CDU Mittelsachsen und Landtagsabgeordnete. Sie sagte: „Wir stellen uns komplett dagegen, wenn es zu Übergriffen auf Politiker kommt.“ Das sei selbstverständlich.
Auch sie bestätigt: „Die Verrohung hat zugenommen.“ Allerdings seien Äußerungen eben von der Meinungsfreiheit gedeckt, „bis es strafrechtlich relevant wird.“ Demokratische Politiker:innen hätten die Aufgabe, zu zeigen, dass Populist:innen nur einseitige oder falsche Lösungen anbieten.
Rechte Bedrohung als Standortfrage
Bei Neubauer sei zudem zu beachten, dass er mehrere Gründe für seinen Rücktritt angegeben habe. Neben der Bedrohungslage ging es auch um bürokratische Hürden und finanzielle Engpässe im Landkreis. „Diese Herausforderungen kennen auch andere Landräte. Der Unterschied ist, dass die sich dem mit Weitsicht stellen. Das ist, was ich unter Verantwortung verstehe“, sagt Leithoff.
Vize-Ministerpräsident Günther sieht das deutlich anders: Der Rücktritt Neubauers werfe auch den Landkreis als „wichtigen Industriestandort in Sachsen“ zurück. „Wenn er nicht seine Energiepolitik vorantreibt, fragen sich Unternehmen, ob sie da weiter investieren wollen“, sagt Günther.
Die verrohende Debatte habe nicht nur Folgen für Kommunalpolitiker:innen, ist Günther überzeugt. Der Vize-Ministerpräsident spreche derzeit viel mit Unternehmen. Er sagt: „Die beobachten sehr genau, wie sich die Situation entwickelt. Welchen Ruf der Freistaat Sachsen hat, ist ja eine bedeutende Standortfrage: Bekommt man Arbeitskräfte hier gehalten? Wird die Energiewende in Sachsen nach der Wahl zurückgedreht?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch