Aktivistin über Waffen für Saudi-Arabien: „Zehn Schritte rückwärts“
Deutschland liefert wieder Waffen an Saudi-Arabien. Die Juristin Lina al-Hathloul warnt: Mit seinem Israel-Kurs kaschiere Riad Menschenrechtsverstöße.
taz: Frau al-Hathloul, die deutsche Regierung macht eine Kehrtwende und liefert wieder Waffen an Saudi-Arabien. Was halten Sie davon?
Lina al-Hathloul, 28, ist Juristin und lebt seit 2011 in Belgien. Sie arbeitet für die Menschenrechtsorganisation ALQST. Ihre Schwester, die Frauenrechtsaktivistin Loujain al-Hathloul, wurde 2018 festgenommen und ist seit 2021 wieder auf freiem Fuß, wird aber in Saudi-Arabien festgehalten. Über ihre Schwester veröffentlichte Lina al-Hathloul ein Kinderbuch.
Lina al-Hathloul: Es ist enttäuschend. Deutschland hat nach dem Mord an Jamal Khashoggi eine Vorreiterrolle gespielt, ist standhaft geblieben und hat versucht, die saudische Regierung für diesen grauenhaften Mord zur Verantwortung zu ziehen. Nun gibt es grünes Licht für weitere Menschenrechtsverstöße. Indem es wieder Waffen verkauft – und zwar ohne Bedingungen in Sachen Menschenrechte –, macht Deutschland zehn Schritte rückwärts. Am Ende des Tages wird das nach hinten losgehen: Den Jemenkrieg zum Beispiel hätte Saudi-Arabien nicht führen können ohne westliche Waffenexporte.
Saudi-Arabiens Krieg gegen die Huthis im Jemen war neben dem Mord an Khashoggi 2018 der Hauptgrund, dass Deutschland die Waffenexporte aussetzte. Nun lautet das Argument für die Wiederaufnahme, dass Saudi-Arabien eine „sehr konstruktive Haltung“ einnehme in Bezug auf Israel, etwa indem es Huthi-Raketen auf Israel abfängt.
Deutschlands Position in Israels Krieg gegen Gaza ist eine Katastrophe. Es ist auf traurige Weise unterhaltsam, wie Israel-Unterstützer willens sind, Saudi-Arabien einen Freifahrtschein auszustellen, nur damit es sich wohlwollend gegenüber Israel verhält. Natürlich will MBS (Kronprinz Mohammed bin Salman, d. Red.) dafür Gegenleistungen. Das Ergebnis sind bedingungslose Waffenlieferungen an Saudi-Arabien.
Streiten Sie ab, dass Saudi-Arabien in Bezug auf Israel eine konstruktive Haltung einnimmt?
Das hängt davon ab, wie man „konstruktiv“ definiert. Israel verhält sich aktuell nicht so, dass es Unterstützung verdient. Gegen Israel sollten wegen des Kriegs gegen Gaza Sanktionen verhängt werden. Konstruktiv wäre in diesem Fall also eine starke Haltung gegen Israel, damit es seine Verstöße gegen das Völkerrecht einstellt. So gesehen habe ich von Saudi-Arabien nichts Konstruktives gesehen, nichts, das sicherstellt, dass Israel internationale Verpflichtungen einhält. Auch nicht, dass sich Saudi-Arabien sonderlich für die Palästinenser einsetzt.
Was steht hinter dem israelfreundlichen Kurs der saudischen Führung?
MBS will in allererster Linie an der Macht bleiben. Sein Vater (König Salman, d. Red.) hat ihn zum Kronprinzen gemacht, obwohl er eigentlich nicht dafür vorgesehen war. MBS verfügt über keinerlei Legitimität und ist deshalb misstrauisch gegenüber allen. MBS ist paranoid. Und um seine Macht zu sichern, setzt er auf internationale Unterstützung. Eine seiner Gegenleistungen ist Unterstützung für Israel.
Wie kommt das in der saudischen Bevölkerung an?
Es gibt keine Umfragen, aber in der gesamten arabischen Welt fühlen wir uns den Palästinensern nah. Selbst die jemenitischen Huthis haben an Sympathien gewonnen. Die Leute sagen, dass die Huthis die Einzigen sind, die die Palästinenser wirklich unterstützen.
Wie kommt MBS in der saudischen Bevölkerung damit durch? Er hatte vor dem Gazakrieg ein Normalisierungsabkommen mit Israel in Aussicht gestellt. Selbst in der derzeit aufgeladenen Stimmung schließt er eine weitere Annäherung nicht aus.
MBS hat es seit 2017 geschafft, jegliche freie Meinungsäußerung, jede Kritik zu unterbinden. Er hat frühzeitig die Bühne dafür bereitet, Entscheidungen treffen zu können, die die öffentliche Meinung gegen ihn aufbringen könnten. Beziehungen zu Israel werden seiner Popularität in Saudi-Arabien nicht zuträglich sein, aber sie werden seine Macht festigen, indem sie ihm westliche Rückendeckung bringen.
Außenministerin Annalena Baerbock wählte interessante Worte. Sie sprach davon, dass sich Saudi-Arabien „insbesondere bei der Unterstützung von Israel“ verändert habe. Hat sich auch die Menschenrechtslage zum Positiven entwickelt?
Das Land wird immer repressiver. Saudi-Arabien ist zu einem reinen Polizeistaat geworden seit der Schaffung der Staatssicherheit 2017, einer Art Privatpolizei von MBS. Sie kann in Häuser einbrechen und Leute gewaltsam verschwinden lassen. Leute werden für Kleinigkeiten vor Terrorgerichte gestellt. Es gibt inoffizielle Gefängnisse und Foltereinrichtungen. Man kann nichts kommentieren, nichts kritisieren. Alles, was mit dem Staat zu tun hat, ist eine rote Linie. MBS hat eine Atmosphäre von ständiger Angst geschaffen. Und Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty haben keinen Zugang zu Saudi-Arabien. Wenn Leute sagen, dass sich die Lage verbessert, ist meine Frage: Auf welcher Grundlage kommen sie zu dieser Einschätzung?
Letztes Jahr hat Saudi-Arabien mindestens 170 Menschen hingerichtet. Was bewirkt das Regime damit?
Zum einen geht es um Einschüchterung. Es gibt zum Beispiel den Fall von Mohammed al-Ghamdi, der wegen Tweets zum Tode verurteilt wurde. Er ist der Bruder eines prominenten Dissidenten, der in Großbritannien lebt. Es war das erste Mal, dass jemand nur wegen Online-Aktivitäten die Todesstrafe bekommen hat. In vielen anderen Fällen ist zu wenig bekannt, um eine Strategie dahinter ausmachen zu können. Es ist sehr willkürlich. Von Anfang bis Ende findet alles hinter verschlossenen Türen statt. Manchmal geben sie noch nicht einmal die Körper an die Familien zurück.
Unter MBS gibt sich Saudi-Arabien betont progressiv und reformorientiert. Warum hat das keine Auswirkungen auf die Menschenrechte?
Weil es eine Fassade ist, ein Narrativ. Zwar hat es einige Veränderungen gegeben, aber sie sind nicht institutionell verankert. MBS hat Frauen das Autofahren erlaubt, aber zur selben Zeit wurden Frauen, die sich dafür eingesetzt haben, eingesperrt, gefoltert und sexuell belästigt. Und auch der gesellschaftliche Wandel hängt stark davon ab, wer man ist. Wenn der männliche Vormund einer Frau der Meinung ist, dass sie ungehorsam ist, kann sie verhaftet werden – und zwar auf Grundlage des Gesetzes, nicht aufgrund von Tradition oder Kultur. MBS hat die Macht, diese Gesetze zu ändern. Wenn er Frauen wirklich ermächtigen wollen würde, würde er sie vor ihren eigenen Familien beschützen.
Kürzlich hat Saudi-Arabien den Zuschlag für die Expo 2030 bekommen. 2034 soll die Fußball-WM folgen. Welche Rolle spielen solche Events?
Die Menschen in Saudi-Arabien verdienen genau die gleichen Freiheiten, die ich in Europa genieße. Das Problem ist, dass hinter allem, was in Saudi-Arabien veranstaltet wird, hinter jedem Ticket, das verkauft wird, MBS steckt. Wenn die Veranstaltungen dazu beitragen würden, die Realität vor Ort bekannt zu machen, würde ich mich freuen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Menschen kommen nach Saudi-Arabien, beklatschen die Veränderungen und schweigen. Sie blicken nicht hinter die Fassade, sondern sind Teil des PR-Spiels der Regierung. Das ist der Punkt, an dem es für uns frustrierend wird, weil uns niemand mehr zuhören will, wenn wir uns beschweren.
Stattdessen wird Cristiano Ronaldo zugehört, den Saudi-Arabien als Tourismus-Botschafter gewinnen konnte. Auch bei der Expo-Vergabe spielte er eine Rolle.
Ronaldo hat nie über Menschenrechtsverletzungen gesprochen und keinerlei positive Veränderung bewirkt. Noch schlimmer ist, dass seine Freundin ein falsches Bild vermittelt, wenn sie sich im Bikini in Saudi-Arabien zeigt. Saudische Frauen werden dafür trotzdem verhaftet. Die Fitness-Trainerin (und Influencerin, d.Red.) Manahel al-Otaibi ist ein Beispiel dafür. Sie wurde festgenommen, und der offizielle Vorwurf lautete unter anderem, dass sie in ihren Videos keine Abaja trug.
Welche Konsequenz ziehen Sie daraus? Sollte ein Land wie Deutschland nicht an der Expo 2030 teilnehmen?
Das ist absolut nicht das, was ich sage. Ein Boykott Saudi-Arabiens ist keine Lösung. Aber wer mit einem starken Pass und all den Privilegien, die dieser mit sich bringt, nach Saudi-Arabien reist, darf nicht schweigen. Vor allem Prominente können zum Beispiel twittern, sobald sie im Land sind. Es gibt ja genug Menschenrechtsverletzungen, die bekannt sind. Warum sitzt Manahel im Gefängnis? Warum darf meine Schwester immer noch nicht das Land verlassen.
Ihre Schwester Loujain hatte ein Ende des Autofahrverbots gefordert und wurde 2018 im Rahmen eines Crackdowns gegen Frauenrechtsaktivistinnen festgenommen. Mittlerweile ist sie wieder frei. Wie geht es ihr?
Es ist schwer, für jemanden zu sprechen, der Folter und viele andere Verstöße gegen die Menschenrechte erlebt hat. Für Loujain gilt immer noch ein Ausreiseverbot. Es hätte im September aufgehoben werden sollen. Doch als sie versuchte, die Grenze zu Bahrain zu überqueren, sagte man ihr, sie habe ein unbefristetes Reiseverbot. Sie wurde auch mit Pegasus, der israelischen Spionagesoftware, überwacht. Sie weiß, dass sie die ganze Zeit überwacht wird.
Ist sie in der Lage, ansonsten ein normales Leben zu führen?
Ja, aber die soziale Isolation lastet schwer auf ihren Schultern. Für alle, die aus dem Gefängnis entlassen werden, ist es sehr schwierig, ein normales Leben zu führen. Viele Unternehmen wollen zum Beispiel nicht das Risiko eingehen, jemanden einzustellen, der im Gefängnis saß, um nicht die saudische Regierung zu konfrontieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut