Aktivistin aus Iran über tote Tochter: „Ich kann sie jetzt gehen lassen“
Shole Pakravan liest in Hamburg aus ihrem Buch über ihre im Iran hingerichtete Tochter. Sie hatte ihren Vergewaltiger in Notwehr erstochen.
taz: Frau Pakravan, was war Ihre Tochter Reyhaneh für ein Mensch?
Shole Pakravan: Wie alle Mütter dieser Welt würde ich sagen: „Sie war so schön, so freundlich …“, nur positive Dinge. Aber letztlich spricht ihr Handeln für sich. Bevor sie ins Gefängnis kam, war sie ein junges Mädchen wie Millionen andere im Iran. Sie war modebewusst, trug gern Markenkleidung und solche Dinge. Aber im Gefängnis veränderte sie sich. Ihr drohte aufgrund des Scharia-Gesetzes der Blutrache die Todesstrafe. Aber sie fing an, für ihre Zellgenossinnen zu kämpfen, die dasselbe erwartete. Sie drängte mich, diesen Frauen zu helfen. Sie sagte: „Sprich mit den Familien, die Blutrache fordern, versuch, sie davon abzubringen!“
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe ihr gesagt: „Ich möchte dich retten, mehr Energie habe ich nicht!“ Ihre Antwort war: „Die anderen brauchen deine Hilfe dringender als ich.“ Also habe ich die „Diplomatie der Blutrache“ gelernt, habe verstanden, wie ich verhandeln muss, damit sich die „Blutrache-Eigner“ auf einen Deal einlassen. Ich habe das für viele Menschen getan und wurde professionell darin. Reyhaneh hat mich gelehrt, mutig zu sein und nicht um ihrer Sicherheit willen zu lügen – wie auch sie nicht log. Denn wenn sie den Vergewaltigungsvorwurf zurückgezogen, also die Unwahrheit gesagt hätte, wäre sie vermutlich noch am Leben.
Wie funktioniert die „Diplomatie der Blutrache“?
Man kann versuchen, der betroffenen Familie Geld zu bieten. Der Weg zu diesem Deal ist allerdings mühsam. Denn die Familie des Opfers denkt, wenn sie einen Deal macht und dem Mörder verzeiht, verrate sie ihr totes Familienmitglied. Man muss also psychologisch sehr geschickt vorgehen.
Ein Beispiel?
In einem Fall fand ich heraus, dass der Vater, der Blutrache für einen Sohn forderte, noch einen jüngeren Sohn hatte, der kein Auto besaß. Ich nahm Kontakt zu ihm auf und sagte: „Wenn dein Vater das Geld annimmt, kommt es dir zugute. Du kannst davon ein Auto kaufen. Sprich doch mit deinem Vater.“ Das tat er. Nach einer Woche rief mich der Vater an: „Ja, ich unterschreibe den Deal.“ Mit der Zeit wurde ich sehr geübt im Aushandeln solcher Deals, und immer mehr Familien baten mich um Hilfe.
Aber Ihrer Tochter konnten Sie nicht helfen.
Leider nicht. Zuerst habe ich geweint, geschimpft, gebettelt, dass sie die Anschuldigung der versuchten Vergewaltigung zurückzieht. Sie weigerte sich. Dann habe ich Anwälte aufgesucht, Eingaben gemacht. Die intensivste Phase begann 2014, als Reyhaneh ihre Verteidigungsschrift verfasste. Sie wollte öffentlich machen, dass sie ihren Angreifer in Notwehr erstochen hatte. Ich habe auch einen Deal versucht und mit dem Sohn des Toten gesprochen. Er war damals 32, ein freundlicher, sanfter Mensch. Ich kann immer noch nicht fassen, dass er beschloss, meine Tochter zu töten.
Was haben Sie mit ihm erlebt?
In der Nacht ihres Todes schrieb ich ihm: „Heute Abend wollen sie Reyhaneh hinrichten. Sie haben uns nicht gesagt, in welchem Gefängnis. Weißt du, wohin ich fahren muss?“ Er war schockiert und schrieb: „Nein, davon weiß ich nichts. Sie müssen mich ja anrufen.“ Denn er musste, wie im Iran üblich, selbst den Knopf drücken, der den Boden unter dem Galgen wegzog. Er schrieb mir: „Wenn sie mich anrufen, nenne ich dir den Ort.“ Als ich Stunden später noch einmal fragte, antwortete er: „Ich werde es dir nicht sagen!“ Ich war total schockiert. Heute denke ich, dass er unter Druck gesetzt worden war. Ich möchte ihn nicht in Schutz nehmen, aber ich glaube nicht, dass es seine freie Entscheidung war.
Wie ging es Ihnen nach Reyhanehs Tod?
Ich war zerstört. Ich habe jeden Tag zu Gott gebetet, dass er mich zu sich nimmt. Ich blieb die ganze Zeit im Bett und hoffte, am nächsten Morgen nicht wieder aufzuwachen. Für meine Familie war das sehr schwer. Mein Mann wollte mir nah sein und mir helfen, diese Tragödie zu akzeptieren. Aber ich wollte nicht reden. Meine beiden anderen Töchter drängten mich zu essen. Ich tat es, aber ich fühlte nichts. Ich war ganz apathisch.
Es blieb nicht so.
Nein. Eine Begegnung hat alles verändert. Ich traf eine Frau, deren Sohn bei den Protesten 2009 erschossen worden war. Sie brachte mich zu einer alten Dame, die sechs Familienmitglieder durch Hinrichtungen verloren hatte. Ihr jüngster Sohn war mit 19 verhaftet worden, und bis nach seiner Hinrichtung hat sie ihn nicht wiedergesehen. Da dachte ich: „Diese Frau hat dasselbe erlebt wie du, hat danach ein langes Leben gehabt. Wenn du noch lange lebst – willst du jeden Tag um deinen Tod beten? Nein, du musst etwas tun. Diese alte Frau hat in einer Zeit ohne Social Media gekämpft, hat sogar Briefe an die UN geschrieben. Wie viel leichter ist es mit den Möglichkeiten von heute!“ Also begann ich, Familien zu besuchen, die ein ähnliches Schicksal hatten. Im Laufe der Zeit traf ich fast 100 betroffene Familien.
59, hat Schauspiel in Teheran studiert, ist Frauenrechtlerin und kämpft gegen die Todesstrafe. Auslöser ihres Engagements war die Hinrichtung ihrer Tochter Reyhaneh Jabbari im Jahr 2014. Sie hatte sieben Jahre zuvor einen Geheimdienstmitarbeiter in Notwehr erstochen, als dieser versuchte, sie zu vergewaltigen. Pakravan verließ 2017 den Iran und lebt in Berlin mit ihren Töchtern im Exil. Ihr Mann wird im Iran festgehalten.
Ihre Geschichte erzählt sie im Buch „Wie man ein Schmetterling wird“, Berlin Verlag, 269 S., 24 Euro.
Lesung am Montag, 13.3. in Hamburg, W3, Nernstweg, 19 Uhr.
Inwiefern hat Sie das verändert?
Es half mir. Mit diesen Frauen zu sprechen, gab mir Kraft. Und je mehr Leute ich traf, desto klarer sah ich, dass die Lügen der Regierung Methode hatten. Dass ich es nicht persönlich nehmen musste, sondern dass sie es mit allen so machten. Das war eine wichtige Erkenntnis. Ich gründete die Gruppe „Madaraneh“ („Mutterschaft“), für Mütter, die ein Kind auf diese Art verloren haben, in der wir uns gegenseitig stärken.
Wie groß ist das Problem der Vergewaltigung im Iran?
Es ist in der ganzen Welt ein Problem. Das besondere Problem im Iran: Wenn ein „Mann aus dem Volk“ das tut, wird er hingerichtet. Wenn er aber zur regierenden Elite gehört – und der Peiniger meiner Tochter war Mitarbeiter des Geheimdienstes –, passiert ihm nichts. Wir hatten zwar bereits kurz nach Reyhanehs Verhaftung erfahren, dass er vom Geheimdienst war. Wir wussten jedoch nicht, dass die Regierung ihn schützen würde. Sonst hätten wir vielleicht aufgegeben. Aber wir hofften, dass wir vor Gericht gewinnen würden, weil Reyhaneh das Opfer war und die Beweislage so klar. Doch das Gericht hat alle für Reyhaneh sprechenden Beweise ignoriert.
In dem Buch „Wie man ein Schmetterling wird“ erzählen Sie Reyhanehs Geschichte. Was bedeutet es Ihnen?
Sehr viel. Reyhaneh hat mich in ihrem Testament um Verschiedenes gebeten. Ihre Organe sollten gespendet werden. Das durfte ich nicht. Sie bat mich, den Folterern und den Richtern zu vergeben. Das konnte ich nicht. Sie wollte kein Grab. Auch diesen Wunsch konnte ich ihr nicht erfüllen. Und schließlich bat sie: „Lass mich mit dem Wind reisen. Lass mich gehen. Leb weiter und vergiss, dass es mich gab.“ Letzteres ist unmöglich. Aber ich denke, dass ich ihr mit dem Buch den Wunsch erfülle, sie dem Wind zu übergeben. Und sie nun gehen lassen kann.
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