Aktivist Beck für Wahlrechtexperimente: „Wir brauchen einen Neustart der Demokratie“
Wieder droht ein AfD-Wahlerfolg, das Vertrauen in die Demokratie sinkt. Ralf-Uwe Beck von Mehr Demokratie fordert „Experimente“ beim Wahlrecht.
![Ein Volt-Wahlplakat neben einer Bushaltestelle, angelehnt an einem Halteverbotschild Ein Volt-Wahlplakat neben einer Bushaltestelle, angelehnt an einem Halteverbotschild](https://taz.de/picture/7467225/14/Volt-Wahlplakat-1.jpeg)
taz: Herr Beck, die Bundestagswahl naht und es drohen – wie schon bei den jüngsten Landtagswahlen im Osten – Wahlerfolge der rechtsextremen AfD. Die Demokratie steht unter Druck. Ihr Verein fordert deshalb einen „Innovationsschub“ für die Demokratie und „Experimente“. Was genau?
Ralf-Uwe Beck: Es gibt eine große Unzufriedenheit, wir verzeichnen ein sinkendes Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Der Eindruck vieler Menschen ist, dass „die da oben“ machen, was sie wollen. Sie wenden sich ab oder wählen, schlimmer noch, Extremisten. Da muss uns etwas einfallen. Deshalb sollte sich die Politik bewegen und den Bürgerinnen und Bürgern signalisieren, dass ihr Mittun wertvoll ist für die Demokratie. Wir brauchen einen Neustart der Demokratie, Innovationen und Experimentierräume bei der Bürgerbeteiligung, aber auch bei Wahlen.
Sie fordern etwa die Absenkung der Fünf-Prozent-Hürde auf eine Drei-Prozent-Hürde. Was würde das helfen?
Beck: Für Wahlen gilt das Gleichheitsprinzip: Alle Stimmen wiegen gleich schwer, die des 18-Jährigen genau wie die der 80-Jährigen, die der erfolgreichen Unternehmerin genauso wie die des Bürgergeldempfängers. Hier scheint die Vision einer gerechten Gesellschaft auf, in der alle Menschen dieselben Chancen haben, dieses Land zu gestalten. Das wird mit einer Sperrklausel ausgehebelt, weil dann Stimmen einfach unter den Tisch fallen, also nicht im Parlament repräsentiert sind – bei Landtagswahlen sind das zehntausende, bei Bundestagswahlen gar Millionen.
Laut aktuellen Umfragen könnte das bei der jetzigen Bundestagswahl bis zu 20 Prozent der Stimmen betreffen – wenn BSW, Linke, FDP und kleinere Parteien nicht in den Bundestag einziehen.
Beck: Genau. Das wirft die Frage auf, ob der Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze durch die Sperrklausel, jedenfalls in dieser Höhe, noch gerechtfertigt ist. Es könnte gut sein, dass dies auch mit einer Drei-Prozent-Hürde erreicht wird. Die fünf Prozent sind jedenfalls nicht in Stein gemeißelt.
Das Ziel der Fünf-Prozent-Hürde – eine Zersplitterung der Parlamente zu verhindern und stabile Regierungen zu ermöglichen – sehen Sie als überholt?
Beck: Das sehen wir doch gerade in Thüringen, wo nach den Wahlen eben keine demokratische Mehrheit mehr zustande kommt. Und die AfD hat in Brandenburg und Thüringen nun eine Sperrminorität, in Sachsen ist sie knapp daran vorbeigeschrammt – was nicht der Fall wäre, wenn noch andere Parteien im Landtag säßen, in Brandenburg etwa die Grünen. Eine Absenkung der Fünf-Prozent-Hürde würde Regierungsbildungen wieder erleichtern und Sperrminoritäten verhindern.
Die Sperrklausel ganz abschaffen wollen Sie aber nicht?
Beck: Nein. Aber es wäre der Auftrag des Gesetzgebers, die Prozenthürde regelmäßig zu überprüfen, ob sie noch angemessen ist.
Sie fordern auch die Einführung einer Ersatzstimme. Was hat es damit auf sich?
Beck: Das wäre eine Ergänzung – umso mehr, wenn die Fünf-Prozent-Hürde Bestand hat. Das bedeutet, dass ich auf meinem Wahlzettel eine zweite Option ankreuzen kann, falls meine favorisierte Partei vermutlich nicht ins Parlament einzieht. Damit würde die Stimme nicht unter den Tisch fallen.
Aber es würde die Wahlzettel noch komplizierter machen.
Beck: Das glaube ich nicht. Sie haben Recht: Das Wahlrecht muss verständlich sein. Aber man könnte das zum Beispiel mit Ziffern machen. Eine Partei wähle ich mit einer „1“, eine andere mit einer „2“. So kompliziert wäre das nicht.
Aber schon bei der jüngsten Wahlrechtsreform im Bund hat man gesehen, wie umkämpft dieses Thema ist. Die Union will diese Reform im Falle eines Wahlsiegs direkt wieder zurücknehmen.
Beck: Ja, Wahlrechtsreformen sind wirklich dicke Bretter. Da gibt es enorme Vorbehalte der Parteien. Es wird immer durchkalkuliert, ob das für sie mehr oder weniger Stimmen bringen würde. Deshalb machen wir noch einen Vorschlag: Lasst uns Innovationen erstmal im Kommunalen ausprobieren. Mit der Aufnahme einer Experimentierklausel ins Kommunalwahlrecht wäre das möglich.
Experimentierklausel, was wäre das jetzt wieder?
Beck: Das wäre eine Klausel, die es Kommunen ermöglichen würde, bei Kommunalwahlen das eine oder andere Instrument für eine Modernisierung des Wahlrechts auszuprobieren. Diesen Instrumentenkasten müsste man definieren – wie ein Innovationsbuffet, an dem sich die Kommunen bei ihren Bürgermeister- oder Gemeinderatswahlen bedienen könnten.
Nennen Sie bitte mal ein Beispiel für ein Instrument.
Beck: Ein Beispiel wurde zu Corona-Zeiten erprobt: Eine Briefwahl für alle, also die automatische Zustellung der Briefwahlunterlagen. Man konnte dennoch ins Wahllokal gehen, aber es haben sich sehr viel mehr Menschen für die Briefwahl entschieden als früher. Das hat die Wahlbeteiligung um 15 Prozentpunkte gesteigert. Was im Krisenmodus probiert wurde, könnten wir zum Normalfall werden lassen, es mindestens zum Ausprobieren anbieten.
Haben Sie noch ein Beispiel?
Beck: Die Einführung einer Proteststimme. Wenn Sie sich bisher enthalten und kein Kreuz auf dem Wahlzettel machen, ist Ihre Stimme ungültig. Sinnvoller aber wäre ein weiteres Kästchen, mit dem man die Möglichkeit hat, anzukreuzen, dass man sich bei keiner der Parteien wiederfindet. Für Menschen, die einfach die Schnauze voll haben und bei Wahlen kein Angebot finden. Weshalb viele dann die Partei wählen, die den größten gesellschaftlichen Wirbel verursacht. Und das sind dann eben oft die Rechtsextremisten.
Aber viele wählen die AfD inzwischen nicht mehr aus Protest, sondern weil sie genau deren Politik wollen.
Beck: Das stimmt. Aber der Anteil der Protestwähler unter den AfD-Wählerinnen und Wählern ist immer noch nennenswert. Er lag vor Jahren bei 65 Prozent, zuletzt geschätzt aber immer noch bei rund 35 Prozent. Und wenn von diesen etliche nicht mehr die AfD wählen, sondern ihr Kreuz bei einer Proteststimme machen und sich so enthalten, wäre das ein Gewinn.
Aber wäre es nicht letztlich ein folgenloses Ventil?
Beck: Ja, es wäre ein Ventil, aber ein sichtbares, ein Hilferuf. Diese Stimme würde ja im Wahlergebnis mit ausgewiesen und von Medien sicher aufgegriffen. Es wäre ein Schuss vor den Bug der anderen Parteien, sich um diese Wähler zu kümmern.
Sie fordern auch deutlich mehr direkte Demokratie und Senkung der Hürden für Petitionen, Volksbegehren oder digitale Beteiligung. Woran hapert es da?
Beck: Es gibt auf Bundesebene keine Volksbegehren oder Volksentscheide – ich halte das für die größte Demokratiebaustelle in Deutschland. Und in einigen Bundesländern haben diese Instrumente meist so hohe Hürden, dass sie Bürgerrechte nur vorgaukeln. Sachsen hat bundesweit die höchsten Unterschriftenhürden. In Brandenburg werden die Menschen gezwungen, für eine Unterschrift aufs Amt zu gehen, statt sie an der Haustür oder online abzugeben. In Thüringen gilt ein Finanztabu, da darf über nichts abgestimmt werden, das etwas kostet – was absurd ist, weil alles, was politisch entschieden wird, etwas kostet, und die Bürger mit ihrem Steuergeld jede Zeche zahlen. Die direkte Demokratie wird mit einem Misstrauen belegt, das nicht zu rechtfertigen ist. Diese Hürden müssen weg, sonst fühlen sich die Leute vergackeiert.
Etwas direkte Demokratie gibt es ja: Im Bundestag etwa können Petitionen eingereicht werden. Knacken diese ein Quorum von 30.000 Unterschriften, wird das Anliegen in einem Ausschuss angehört.
Beck: Nun, direkte Demokratie nennen wir nur, was zu verbindlichen Entscheidungen führt. Aber das Petitionsrecht ist exzellent, um den Dialog zwischen Initiativen und Parlament zu befördern. Es gibt solche Öffentlichen Petitionen auch in sechs Landtagen – wir brauchen sie überall. Ich habe selbst so eine Anhörung bei mir in Thüringen miterlebt. Man wird angehört, kann mit den Abgeordneten diskutieren – das ist großes Kino. Es gibt keinen Grund, das nicht überall einzuführen.
Instrumente der direkten Demokratie können aber auch von AfD und Rechtsextremen hetzerisch genutzt werden.
Beck: Das ist richtig. Deshalb ist es sehr wichtig, möglichst lange Fristen für die Unterschriftensammlungen zu haben und die Menschen vor Entscheidungen ausgewogen zu informieren. Für Volksbegehren gilt in allen Ländern zudem, dass Grund- und Minderheitenrechte nicht angetastet werden können.
In der Schweiz konnten die Rechtsaußen der SVP Abstimmungen für sich nutzen und etwa ein Minarettverbot durchsetzen.
Beck: Diese Volksbegehren wären in keinem der deutschen Bundesländer zugelassen worden. Die SVP hat sich ein paar Mal durchgesetzt. Aber mittlerweile hat die Zivilgesellschaft gelernt, sich nicht auf Umfragen zurückzuziehen, nach dem Motto „Wird schon nichts passieren“, sondern dass sie kämpfen muss. Und nun setzt sich die SVP viel weniger durch.
Sie plädieren auch für einen Volkseinwand, wie es ihn in der Schweiz gibt. Was bewirkt dieser?
Beck: In der Schweiz ist es das älteste direktdemokratische Instrument. Damit treten neue Gesetze erst 100 Tage, nachdem sie beschlossen wurden, in Kraft. In diesen hundert Tagen können die Bürger, wenn sie das Gesetz nicht überzeugt, dagegen Unterschriften sammeln. Unterschreibt ein Prozent der Stimmbevölkerung, tritt das Gesetz nicht in Kraft, sondern es gibt einen Volksentscheid darüber. Es ist nicht so, dass dieses Mittel inflationär genutzt würde, aber der Effekt ist, dass mehr mit den Menschen geredet und weniger über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Gibt es diesen Volkseinwand, würde weniger auf „die da oben“ gezeigt, weil sie eben doch nicht machen können, was sie wollen. Außerdem: Wenn die AfD wirklich mal in eine Regierung käme, hätte die Zivilgesellschaft ein Instrument in der Hand, um die Rechtsextremen zu stoppen und Gesetzgebung wieder zurückzuholen.
Und all das würde die Demokratie reparieren?
Beck: Viele Menschen schieben in diesem 35. Jubiläumsjahr der Deutschen Einheit Frust, weil das Versprechen, eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten und dann die direkte Demokratie auch auf Bundesebene vorzusehen, nicht eingelöst wurde. Allein die Diskussion über eine Weiterentwicklung der Bürgerrechte würde schon wirken wie ein Frustschutzmittel. Und käme es zu echten Reformen, hätten der Bund und die Länder die Chance, Verfassungsschutzgeschichte zu schreiben.
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