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Aiwanger verschiebt den DiskursDie Opfer? Nicht so wichtig

Ariane Lemme
Kommentar von Ariane Lemme

Wahltaktisch mag es Sinn ergeben, Bayerns Vize Hubert Aiwanger nicht zu feuern. Gesellschaftlich ist es fatal: Es missachtet die Würde vieler Bürger.

Aiwanger schreibt in ein Gästebuch Foto: Uwe Lein/dpa

E s mag Gründe gegeben haben, Hubert Aiwanger nicht zu feuern – politisch, juristisch, wahltaktisch. Viele sagen, politisch sei es klug von Söder, Aiwanger im Amt zu lassen, damit der sich vor der Landtagswahl nicht als Opfer stilisiert und rechte Wähler abgreift.

Nun, als Opfer einer Schmutzkampagne stilisiert der sich so oder so, schon bei seiner „Entschuldigung“. „Die Medien“ sind mal wieder schuld, schon darin erinnert sein Duktus an jenen vieler Rechter. Und noch eine Ähnlichkeit gibt es zwischen der Causa Aiwanger und der strategischen Diskursverschiebung der Rechten zu ihren Gunsten: die Salamitaktik. Etwas Unsagbares taucht auf oder wird gesagt, dann wird rumgeeiert, ein bisschen distanziert und am Ende passiert: nichts. Zumindest nicht auf der Oberfläche. Doch der Raum darunter ist ein anderer geworden.

Ob man von einer „Moralkeule Auschwitz“ spricht, von der NS-Zeit als „Vogelschiss“ oder einen Politiker im Amt lässt, der sich, konfrontiert mit widerlichen Witzen über die Opfer des Holocaust, nicht sofort beschämt distanziert und sich entweder glaubhaft entschuldigt oder eben glaubhaft seine Unschuld erklärt – das Ergebnis ist dasselbe.

All diejenigen, die insgeheim oder weniger geheim einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, mit der Verantwortung, die sich daraus in die Gegenwart und Zukunft ergibt, ziehen wollen, fühlen: Passt scho! Wenn sogar ein Vize-Landeschef vielleicht schon mal Auschwitz-Witze machen konnte und am Ende als triumphierendes Opfer einer Kampagne dasteht, müssen wir uns auch nicht immer so zusammenreißen. In jedem Fall rufen die Beteiligten, hier also auch Söder, all denjenigen, deren Familien Opfer waren, zu: Sorry, ihr gehört nicht dazu. Was sagbar ist, bestimmen immer noch wir! Und: die Befindlichkeiten bestimmter Bürger sind uns wichtiger als eure Würde.

Die Taktik, den Rechten ja keinen Grund zu liefern, sich als Opfer zu fühlen, verhöhnt also nicht nur die realen Opfer des Holocaust, es hat die Rechten, guckt man auf die AfD-Umfragewerte, bislang nur gestärkt.

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Ariane Lemme
Redakteurin
schreibt vor allem zu den Themen Nahost, Antisemitismus, Gesellschaft und Soziales
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16 Kommentare

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  • Den Bezug auf den Umgang mit dem NS Regim und Herr Aiwanger verstehe ich nicht. Er hat nichts kritikwürdiges dazu die letzten 30 Jahre geäusert und hat diese Flugblatt nicht verfasst. Das sind die Fakten. Der Rest ist parteiüolitische Prosa.

    • @Kristina Ihle:

      Seine Rede in Erding haben Sie nicht zur Kenntnis genommen?



      Seinem Geiere zur Urheberschaft des Flugblattes glauben Sie aber unhinterfragt?



      Erstaunlich, wie viele FürsprecherInnen der Herr Aiwanger hier in der Leserschaft hat!

  • Nun, die SZ hat einen unmittelbar wertenden Artikel geschrieben, andere Medien und Politiker haben sich angeschlossen.



    Das ist, nach Definition, eine Kampagne.



    Ganz unabhängig, was und wer dran ist.



    Es ist einfach ein Tatsache.

    Und in diesem Fall ist die Basis dafür auch noch extrem dünn:



    Wenn das einzige Problem ist, woran er als Minderjähriger, vielleicht, mitgeschrieben hat -



    dann muss er ja heute ein "Pfundskerl" sein.

    Die Autorin sieht das offensichtlich anders; die Mehrheit der Deutschen scheint das, laut Umfragen, eher so zu sehen wie ich.

    Mit Hinblick auf die Nazi-Herrschaft finde ich es ausgesprochen wichtig, wachsam zu sein und totalitäre Tendenzen in der heutigen Politik aufzustöbern und zu bekämpfen.



    Die meisten Wölfe kommen in Schafspelzen daher, sie kommen ganz ohne Nazi-Vokabular aus.



    Hier reden wir über erwachsene Menschen in Verantwortungspositionen, die aus welchen Motiven auch immer vielleicht großen Schaden an der Demokratie anrichten.



    In diesem Sinne hat Erinnerungskultur einen Sinn.

    Die heutigen Taten sind das Problem.



    Wenn jedoch Journalisten einen Politiker wegen seines - widerwärtigen - Geschreibsels zu Schulzeit selbstgefällig und unnachgiebig fertig machen wollen, wird das der Erinnerungskultur gerecht?



    Auch das muss jede/r selbst beantworten.

    • @Frauke Z:

      Sie haben das schon für sich entschieden. Sie meinen, einen Rechten Populisten verteidigen zu müssen und Täter - Opfer Umkehr zu betreiben, wäre die richtige Art und Weise, wie wir uns erinnern sollen.

  • Die Brandmauer ist doch eh Firlefanz. Wenn Söder dem Ruf nach Entlassung gefolgt wäre, hätte gemäß der Bayerischen Verfassung der Landtag über die Entlassung abstimmen müssen. Und - was kaum erwähnt wurde - der Fraktionsvorsitzende der AfD im Landtag hat ebenso die Entlassung Aiwangers gefordert.

    Was wäre dann passiert? Die SPD und die Grünen, die sonst Zeter und Mordio schreien, wenn die CDU im Gemeinderat von Posemuckel zusammen mit der AfD einen Radweg beschließt, hätten erklären müssen, wieso es diesmal richtig ist, dass Katha Schulze und Florian von Brunn einträchtig mit 22 AfD-Abgeordneten, von denen 18 bei einer Holocaust-Gedenkstunde nach eine Rede von Charlotte Knobloch (!) das Plenum verlassen, die Hand heben.

  • Meine Familie war auch Opfer. Möglicherweise deswegen nehme ich das Thema sehr ernst und gerade deswegen will ich hier auch widersprechen - ich sehe das etwas anders als der Artikel.

    Der Fehler von Aiwanger ist, dass er eben nicht "das" Volk vertritt. Rund um den Gillamoos vielleicht, aber auch da wird es viele andere Stimmen geben. In München sicher nicht, und da leben sehr viele Menschen. Aiwanger tritt allen möglichen Leuten heute auf die Füße, die nicht in die Gillamoos-Weltsicht passen. Darum geht es. Umgekehrt gilt das alledings auch: es gibt das Gillamoos, die Leute dort sind nicht von Aiwanger gekauft, sondern er vertritt sie, und es sind auch nicht ganz wenige. Auch deren Weltsichten und Lebensweisen dürften aus vieler Münchner Sicht so gar nicht existieren (weil sie aus Münchner Sicht andere angreift).

    Das sind schwierige Gegensätze und darüber muss die Gesellschaft dringend reden. Das hinter einer Holocaustdiskussion zu verstecken ist nicht gut. Weder Aiwanger noch seine Anhänger planen das, sie leisten dem auch nicht mehr Vorschub als dass alles irgendwie auch entgleiten kann (auch die eigene Seite). Es ist ok, wenn man Aiwanger tief ablehnt. Aber so einfach, dass er aus universellen Gründen für alle klar außerhalb steht (Holocaust), ist es nicht. Und weil es nicht so ist, ist das gefährlich und geht nach hinten los.

  • Es wäre mal an der Zeit, die Kausalkette etwas sorgfältiger zu beschreiben. Ursache der ganzen Miseren - Inflation, Firmenauswanderung, Zulauf der Rechten und vieles mehr - ist eindeutig die verheerende, verantwortungslose und wenig vorausschauende Politik von Merkel und Entourage. Zu letzterer gehört auch die billige Verhaltensweise von z.B. BASF, getreu der Devise: Billige Arbeitskräfte und billige Energie = maximale Gewinne der Industrie. "Zufällig" genau so lange, wie Merkel an der Macht war, mit 16 Jahren viel zu lang. Solar abgewürgt, Wind ausgebremst (By hat gerade mal 6 neue Windräder am Netzt, dieses Jahr), Abhängigkeit von Putin drastisch erhöht. Hunderte von Milliarden weniger in seinen Rachen, ohne Sanktiönchen, sondern mit Ausbau der Erneuerbaren etc., geht doch mit Balkonkraftwerk, und die Welt sähe deutlich anders aus. Aiwanger müsste noch viel intensiver lügen, um etwas zu erreichen. Merkel und Söder haben es ihm, wie der AfD, außerordentlich leicht gemacht.

  • Man mag es mögen oder nicht, aber zähneknirschend muss man einräumen, dass Söder diesmal richtig gehandelt hat. Manchmal ist halt auch bei der Moral - oder was man dafür hält - eine genauere Abwägung angesagt. Diejenigen, die sich jetzt mit simpler Entrüstungsrhetorik aus der Verantwortung zu stehlen versuchen, machen es sich doch gar zu einfach. Die Entlassungen von Aiwanger hätte die AFD, jetzt schon zweitstärkste Kraft in Bayern, weiter gestärkt. Und die politische Landschaft in Bayern ist leergefegt. Nach CSU und AFD kommt lange nichts. Mit wem sollte sich also die CSU verbünden ? Doch wohl nicht mit den Grünen - dem roten Tuch aller konservativen Wähler - oder der planlos scholzende SPD ? Ja, die demokratische Brandmauer gegen Rechts ist brüchig geworden . Ein falsche Wendung und sie bricht!

  • Die Medien - hier die SZ - ist tatsächlich daran Schuld, dass sich Herr Aiwanger als Opfer darstellen kann. Vollkommen unnötigerweise wurde der im Raum stehende Vorwurf als echte Fakten präsentiert. Auch eine differenzierte Betrachtung unter Berücksichtigungg der Tatsache, dass das Ganze bereits 35 Jahre her ist und der Beschuldigte zum damaligen Zeitpunkt minderjährig war, wurde nicht vorgenommen. Alles lief auf eine Vorverurteilung zwecks Entfernung aus dem Amt hinaus. Damit hat die Presse - hier die SZ - Herrn Aiwanger letzten Endes möglicherweise sogar gestärkt. Guter Kommentar im Tagesspiegel: www.tagesspiegel.d...tieg-10411747.html.

    • @DiMa:

      Wenn nichts zu Aiwanger geschrieben worden wäre, würde es mir Angst machen! Deshalb danke sz !

      • @A.S.:

        Es geht nicht um nichts sondern um die Art der Dartellung. Die SZ hätte darstellen müssen, dass es sich um Vermutungen handelt. Statt dessen hat die SZ Vermutungen als Fakten dargestellt, Fakten die sie nicht beweisen kann. Ein vorsichtiger Bericht wäre angemessen und richtig gewesen. So ist die SZ vollkommen über das Ziel hinaus geschossen und macht die Berichte angreifbar.

    • @DiMa:

      Ich kenne nicht alle Fakten aber der Tagesspiegel bringt meinen Eindruck auf den Punkt.

  • Ich würde das gerne ein bisschen einordnen. Ein süddeutscher Provinzpolitiker einer nicht besonders bedeutenden Partei hat als Teenager ein Flugblatt geschrieben oder verbreitet und sein heutiger Umgang damit spricht nicht gerade für ihn. Er ist in seiner Funktion als Provinzminister nicht mehr tragbar, wird aber von seinem Chef, dem man durchaus eine gewisse politische Bedeutung in Deutschland nachsagen kann, aus wahltaktisscheb Gründen nicht sanktioniert. So weit so schlecht. Aber letztlich ist es eine peinliche Provinzposse. Idioten in der Provinz (und in fen Metropolen natürlich auch) gab es immer, gibt es immer. Damit daraus eine "Diskursverschiebung" wird, bedarf es Medien, die aus einer Provinzposse ein Riesenthema machen, täglich x Artkel dazu raushauen, Aiwangers und Söders Gewäsch immer wieder reproduzieren. Hier haben Medien auch eine Verantwortung, die über das Klicks und Empörung produzieren hinausgeht, Dinge richtig einzuordnen.

  • Es ist typisch für die deutsche Rechte, die deutschen Opfer rechter Gewalt (sei es das Naziregime oder das Kaiserreich) mental auszubürgern. Dadurch kann es in den Köpfen der Rechten keine (deutschen) Opfer neben ihnen geben.

    • @Tannenzapfen:

      Ja, so hart ist die Realität, das Ausgrenzen ist oft der Anfang und es beginnt meist mit der kompromisslosen Eroberung der Deutungshoheit. Wer schweigt, stimmt zu.



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      "In jedem Fall rufen die Beteiligten, hier also auch Söder, all denjenigen, deren Familien Opfer waren, zu: Sorry, ihr gehört nicht dazu. Was sagbar ist, bestimmen immer noch wir! Und: die Befindlichkeiten bestimmter Bürger sind uns wichtiger als eure Würde."



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      Dass vielleicht persönliche Meinungen auch eher Privatmeinungen bleiben und nach der vermeintlichen Parteiräson taktisch motiviert gehandelt wird, ist mir suspekt. Bei diesem Thema ist und bleibt es fatalerweise extrem falsch.

  • Vielen Dank für diesen tollen Text! Ich wünschte die darin beschriebenen Mechanismen wären viel mehr Menschen verständlich.