Das Aiwanger-Problem: Normal nur unter Rechten
Wie kommt Aiwanger dazu, das Flugblatt als Jugendsünde zu verkaufen? Wir haben uns das Märchen von der Erinnerungskultur selbstverliebt erzählt.
E s aiwangert – das müsste ein neues Wort werden. Was genau es bedeutet, wird noch herauszufinden sein. Klanglich liegt es irgendwo zwischen „rumeiern“ und „a weng.“
Ich wusste anfangs nicht, wie die ganze Causa Aiwanger einzuordnen ist. Soll jemand wegen seiner Fehler als junger Mann später seinen Posten verlieren? Der Irrtum dieser Aiwanger-Causa ist jedoch, sie überhaupt auf diese Frage zuzuspitzen, weil sie moralisch die einfachste ist, weil Aiwanger durch sie am besten aus der Misere zu holen ist.
Dabei wird das individuelle, ungewöhnliche Vergehen Aiwangers zu einer allgemeinen Frage, Aiwanger damit zur potenziellen Identifikationsfigur. Dank dieser Zuspitzung konnte Söder sein 25-Fragen-Spiel spielen, denn letztlich will kaum jemand, dass die Jugend keine Fehler begehen darf. Wie bequem für die beiden, dass sich weite Teile der Öffentlichkeit auf diesen Argumentationsgang eingelassen haben.
Söders dicke Hose
Andere Fragen wären schwieriger gewesen: Ist Aiwanger seiner Verantwortung gewachsen? Besitzt er die politische Integrität? Natürlich würde Markus Söder seinen Königsmacher Aiwanger im Wahlkampf nicht fallen lassen, sonst müsste er ab Herbst womöglich mit einer Frau wie Katha Schulze koalieren, wo ließe Söder da nur die dicke Hose?
An der Causa Aiwanger zeigen sich Probleme der politischen Kultur in unserem Land, und es ist eine Meisterleistung von Aiwanger und Söder, mit der Frage nach der Jugendsünde von all diesen Problemen abgelenkt zu haben. Ich schreibe „Aiwanger“ vor „Söder“, weil Söder hier dem Aiwanger dient und nicht dem Land Bayern. Ein Ministerpräsident von Aiwangers Gnaden war er, ist er und wird er sein, darauf konnte Aiwanger sich ausruhen.
Die Causa Aiwanger zeigt: In Deutschland haben wir uns das Märchen von der Erinnerungskultur selbstverliebt erzählt, dabei ging es immer eher um die Rituale und nicht darum, nie wieder jemanden nach oben kommen zu lassen, der nicht integer genug ist. Statt darüber zu reden, welcher der Brüder das Flugblatt verfasste, hätte man fragen sollen: Welche Geistesverfassung hatten die Brüder Aiwanger, wenn sie Antisemitismus lustig fanden, und wie haben sie da herausgefunden? Wie kommt Aiwanger zum Urteil, so etwas als normale Jugendsünde einzuschätzen? Normal wäre so ein Blatt nur unter Rechtsextremen.
Für heute entschuldigen
Müsste er heute nicht von Beginn an den Anstand besitzen, sich nicht nur glaubwürdig für damals zu entschuldigen, sondern auch für heute? Dafür, dass heute auch nur ein Überlebender oder Nachfahre von Holocaust-Überlebenden damit konfrontiert wird? Stattdessen spottet er im Bierzelt in Gillamoos bereits über Lehrer, die Hausaufgaben von Schülern kopieren. Niemand hatte dieses Flugblatt damals als Hausaufgabe aufgegeben, schon damals war seine Haltung ein Problem.
Wie viele Menschen wussten von der Vergangenheit der Brüder Aiwanger – weshalb hat niemand vorher öffentlich Fragen gestellt? Wie kann es sein, dass Markus Söder sich als Politiker für Kanzlermaterial hält, aber nicht einmal in Bayern in der Lage ist, eine Mehrheit ohne seinen umstrittenen Koalitionspartner zu schaffen? Markus Söder hat sich entschieden, ihn nicht zu entlassen.
Es ist vermutlich richtig. Charlotte Knobloch hat in einem bemerkenswerten Interview im Deutschlandfunk betont, Söders Entscheidung sei zu akzeptieren. Nichts länge mir ferner, als Knoblochs Aussage zu bewerten, ich versuche zu verstehen, zu lernen. Schmerzhaft war der Moment, in dem sie sagte, es wäre eine größere Katastrophe, wenn Söder ihn entlassen hätte und Aiwanger trotzdem bei der Landtagswahl im Oktober gestärkt worden wäre. Die Realität, die sie mitdenkt, sind folglich bayrische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die mehr Empathie mit dem jungen Aiwanger haben könnten als mit den Überlebenden des Holocaust.
Falsche Führungskultur
Das Bittere: Aiwanger könnte so oder so bei den Landtagswahlen im Oktober belohnt werden, weil ihm und Söder gelungen ist, die Geschichte als Spin über die Freiheit der Jugend zu erzählen, statt darüber, wie er Abstand fand zum Antisemitismus und ob er heute ein Demokrat mit Format ist. Aiwanger triumphiert in Tweets nach Söders Entscheidung, während Charlotte Knobloch ringen und abwägen muss. Sein größter Sieg: Am Ende greifen fast alle Knobloch an.
Wir sollten die Causa Aiwanger als Gelegenheit nutzen, zu fragen, welchen Persönlichkeiten in Deutschland Macht zugetraut wird und warum. Was ist Kompetenz in diesem Land und wem wird sie zugeschrieben? Jene, die Aiwanger auf seinem Weg nach oben geholfen haben, müssen sich fragen lassen, warum sie ihn für qualifiziert genug für eine herausragende gesellschaftliche Positionen halten. Jene, die ihm schon lange misstrauten, müssen sich fragen, lassen, weshalb sie Erding brauchten, um ihn für sein Demokratieverständnis zu kritisieren.
Hätte man ihn nicht schon früher öffentlich herausfordern und die Debatte suchen müssen? Wenn das mit dem Flugblatt einigen schon 2008 bekannt war, welche Werte haben die Mitwisser um Aiwanger herum, die dennoch sagen: Der Aiwanger kann’s, für den Aiwanger arbeite ich?
Weiblich, jung und divers?
Es geht in der Causa Aiwanger um die Frage, ob in unserer Gesellschaft eine Führungskultur verankert ist, die Persönlichkeiten belohnt, deren unbedingter Machtwille die prägendste ihrer Eigenschaften ist. Markus Söder steht schützend hinter Aiwanger. Die Dominanzkultur, die schon Franz Josef Strauß verkörperte, gewinnt im Jahr 2023 und ekelt viele, die unsere Demokratie bräuchte, aus der politischen Alltagsarbeit heraus.
Nicht zufällig gelingt es Parteien auf kommunaler und Länderebene kaum, merklich weiblicher, jünger und diverser zu werden. „Es aiwangert“ könnte letztlich heißen, man sitzt als mittelmäßiger Machtmensch fest auf seinem Stuhl und weiß, ein noch mächtigerer Mann wird diesen Stuhl festschrauben, ganz gleich, wie hoch der Preis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“