Älter werden: Sixty, something
Wenn man sechzig wird, scheinen einem die Welt und die Zeit zu entgleiten. Unser Autor fragt sich: Wie geht gutes Altern heute?
V or ein paar Monaten bin ich sechzig Jahre alt geworden. Lust, den Geburtstag groß zu feiern, hatte ich erst einmal keine. Damit liege ich wohl im Trend. Es ist, glaube ich, derzeit eher nicht üblich, aus diesem Geburtstag ein großes Ding zu machen. Und auch ich wollte ihn eigentlich eher pragmatisch angehen.
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Wir waren dann an dem Abend zu zweit ambitioniert essen – drei Michelin-Sterne – und das war schön; ich werde immer gut an diesen Tag zurückdenken. Doch der Punkt hier ist: Ich glaubte, damit sei es als Übergang in mein neues Lebensalter auch getan. Aber das war ein Irrtum.
Es ist keineswegs damit getan. Mein neues Lebensalter geht mir nach. Runde Geburtstage sind ja sowieso immer leicht anstrengend und mit Änderungen des Status und des Selbstbilds verbunden. Und der Sechzigste ist offenbar noch einmal eine besondere Ansage. Neben aller Normalität, die diese ominöse Sechs vor der Null längst angenommen haben mag – den medizinischen Fortschritten, den Vorsorgeuntersuchungen und den fitnessorientierteren Lebensführungen sei Dank –, behält sie immer noch etwas Irritierendes.
Es ist nämlich seltsam, hier und heute, in dieser Gesellschaft und in dieser Zeit sechzig zu werden, das weiß ich inzwischen, es ist so massiv wie unwirklich zugleich. Massiv, weil die Zuschreibungen weiterhin vehement sind. Und zugleich aber auch unwirklich, weil die Normalisierung dieses Ereignisses die Würde dieser Jahreszahl und erst recht das Gefühl von Gnade, das mit ihr einst verbunden gewesen sein mag, einerseits einkassiert, andererseits aber nichts wirklich an ihre Stelle gestellt hat.
Und: Dass die eigene Lebenszeit abläuft, während das Leben sonst weitergeht, bleibt ein Drama. Es mag sogar sein, dass es erst jetzt richtig als Drama empfunden wird. Mit einem lakonischen „Kurios“ wie der alte Konsul Buddenbrook bei Thomas Mann geht sowieso niemand mehr aus dieser Welt. Und ohne jetzt das große Religionsfass aufmachen zu wollen, kann man auf die aktuellen Studien verweisen, nach denen in unserer Gesellschaft der Glaube an ein Leben nach dem Tod stark zurückgegangen ist.
Von da aus gibt es den – auch von mir gehegten – Wunsch, das „Mark des Lebens“, wie der Schriftsteller Henry David Thoreau das nannte, so lange wie möglich auszusaugen. Und dabei hat man mit immer mehr Senioren zu tun, die das genauso vorhaben wie man selbst. In absehbarer Zeit werde ich einer von ihnen sein.
Subjektiv die meiste Lebenszeit hatte ich vor mir, als ich vierzig geworden bin. Als Jugendlicher denkt man eh nur bis zum nächsten Wochenende (The Cure: „Friday I’m in Love“), als Student nur bis zu den nächsten Semesterferien. Doch mit vierzig breitete sich eine ganze Landschaft an Zeit vor mir aus. Noch weitere vierzig Jahre bis zu den biblischen achtzig, ein gutes Vierteljahrhundert bis zur Rente. Eine unübersehbare Blumenwiese von zu gestaltender Zeit.
Von der inzwischen die Hälfte abgelaufen ist. Und was jetzt noch folgt, ist vermutlich keineswegs die angenehmere Hälfte; außerdem läuft die Lebenszeit immer schneller ab. Das arbeitet in einem. Es ist kein lautes, extrovertiertes Drama vielleicht, aber doch ein leise simmerndes, eines, das innerlich schwelt.
Was man zu diesem runden Geburtstag gesagt bekommt, hilft auch nicht immer weiter. Du bist nicht mehr jung, aber doch auch noch nicht alt, bekommt man gesagt. Und das stimmt vielleicht sogar. Aber, im Ernst, was bedeutet das genau? Was soll man damit anfangen?
Du bist so jung, wie du dich fühlst, wird einem auch gesagt. Lieb gemeint. Aber, mit Verlaub, das ist ein bisschen Quatsch, zumindest stimmt es nicht nur.
Es geht hier nämlich auch um Fremdbilder und eigene Internalisierungen. Es geht um gesellschaftliche Teilhabe und den Umgang mit sich verändernden Körpern – für Frauen noch einmal anders als für Männer, aber für Männer eben auch. Und es geht um die Verschiebungen im Altersaufbau unserer Gesellschaft und gleichzeitig darum, dass das eigene Altern und das Altern unserer Gesellschaft keineswegs deckungsgleich verlaufen müssen. Das alles ist mit Zuschreibungen verbunden, mit Bilanzierungen, Ängsten, Sorgen, halb vergessenen Sinnfragen.
Dabei sind es alltäglich gar nicht die großen, schweren Dinge wie Tod, Vermächtnis und Ausgrenzung, die mich an mein Alter denken lassen, es sind die Details. Bei mir zum Beispiel die Fingernägel. Nicht nur die Fingernägel, da gibt es noch blöde Haare auf den Ohrmuscheln, kein Backenzahn mehr unüberkront, und dass das Kopfhaar lichter und grauer wird, ist eh klar, aber da sind eben auch die Fingernägel. Seit einiger Zeit sind sie seltsam brüchig und neigen dazu, scharfe Spitzen auszubilden. Das kenne ich von früher so nicht.
Außerdem habe ich jetzt eine Gleitsichtbrille. Eine Gleitsichtbrille ist als Hinweis darauf, dass das Alter sich anschleicht, ein Klassiker. Und sie ist eine narzisstische Kränkung.
Der Körper spricht. Die Zeichen, sie sind da.
Oder es sind soziale Situationen. Wenn man bei einer Person, die so alt ist wie man selbst, die Falten und Hautflecken wahrnimmt, die man bei sich selbst lieber gnädig übersieht, beispielsweise. Oder wenn man mit einer neuen Kollegin in der Kantine zu Mittag isst und beim Smalltalk die in Berlin unvermeidliche Frage aufkommt, wann man denn hierhin gezogen sei.
„Bei mir war das 1999“, höre ich mich sagen.
Und die Kollegin sagt: „Cool, da bin ich gerade aufs Gymnasium gekommen.“
Und man verschweigt dann lieber, dass man 1999 schon zweifacher Vater gewesen ist, als Journalist auch kein Anfänger mehr war und sein Abitur im Jahre 1982 gemacht hat, als die Kollegin offensichtlich noch gar nicht geboren war.
Manchmal gibt es auch einen kleinen Schock. Neulich stieß ich in einem Antiquariat auf eine Ausgabe der damals einflussreichen Vierteljahreszeitschrift Kursbuch mit dem Thema „Jugend“. Der Schock kam, als ich aufs Impressum schaute: Im Dezember 1978 ist sie erschienen. Ich kann mich noch erinnern. Der erste Text von Rainald Goetz steht drin, außerdem ein Text über „Diskotheken, Buden, Läden“ – damals sagte man das noch so – und eine Reportage über das Leben in WGs, als ob das noch etwas aufregend Neues wäre.
Das alles war für mein damals schwankendes, hungrig nach Lebenserfahrungen gierendes Selbstverständnis wichtig. In der Gegenwart rechnete ich: 45 Jahre ist das her. In diesem Moment ging auch noch ein Wind durch die Bäume am Straßenrand, und man spürt mit einem Mal das Vergehen der Zeit und welche langen Entwicklungsbögen man schon hinter sich hat und was an Erlebtem man mit sich trägt. Das ist dann ein Moment, in dem die Gegenwart heftig gegen die eigene Vergangenheit ankämpfen muss. Es gibt ein Hippielied von einer Band namens Fairport Convention, „Who Knows Where The Time Goes“. Das fragt man sich dann.
Mein Großvater trug Kaiser-Wilhelm-Bart
Wenn ich von dieser Überlegung aus an die Menschen denke, die vor mir sechzig geworden sind, habe ich von durchwachsenen Erfahrungen zu erzählen.
Mein Vater ist gar nicht erst so alt geworden, er starb mit 54 an Leukämie. Aber mein Großvater ist alt geworden – allerdings auf eine Weise, die schon in den siebziger Jahren, als er bei uns lebte, wie aus der Zeit gefallen schien. 1889 geboren, trug er, kaisertreu bis zum Schluss, noch in der peacigen alten Bundesrepublik einen Kaiser-Wilhelm-Bart, ging stets in Mantel und Hut aus dem Haus und wohnte in zwei Zimmern unseres Einfamilienhauses in schweren, dunklen Möbeln, die er nach dem Ersten Weltkrieg angeschafft hatte.
Mein Großvater saß viel im Sessel, rauchte Zigarre und schaute in den Garten. Solche Erinnerungen vermitteln mir eine Anschauung davon, dass Altern früher einmal nicht wie heute mit Senioren in Funktionskleidung und auf E-Bikes, sondern mit würdigen, irgendwie gandalfhaft aussehenden Greisen assoziiert wurde, allerdings ohne die langen Haare.
Tatsächlich war dabei der Abstand der Generationen zu meinem Großvater gigantisch. Als wir kleine Kinder gewesen sind, passte er noch gut auf mich und meine Geschwister auf. Aber spätestens als Jugendliche konnten wir im Prinzip gar nicht mehr mit ihm reden. Die hedonistischen Jugendkulturen der Siebziger müssen ihm wie der Einbruch der Barbarei vorbeigekommen sein, Wörter wie „Hottentottenmusik“ fielen. Und ich weiß noch, wie ich einmal versucht habe, ihm einen meiner ersten Taschenrechner zu erklären, einen Texas Instruments – gibt es die Marke überhaupt noch?
Entgeistert starrte er auf die Ziffern im kleinen Display. Er verstand es schlicht nicht. So viel zum Beginn der Digitalisierung.
Und die Menschen, auf die ich traf, als ich studierte? Ich glaube, dass viele von ihnen, etwas grob gesprochen, keinen rechten Zugang zu ihrem eigenen Altern gefunden haben. Man muss hier vorsichtig sein, um nicht in die undifferenzierten Muster der pauschalen Kritik an Achtundsechzigern oder Boomern zu verfallen, aber dass sie das eigene Altern wegschieben, ist nun einmal eine einschneidende Erfahrung, die man mit dieser Alterskohorte haben konnte. Alte Menschen, das waren für sie Relikte wie mein Großvater, und das waren auch zumindest mögliche und ziemlich oft eben auch tatsächliche Nazis. Und als sie selbst ins Alter kamen, ignorierten sie das erst einmal oder versuchten es zumindest.
Ich kann mich gut an eine Szene mit Kurt Scheel erinnern, dem damaligen Herausgeber der Intellektuellenzeitschrift Merkur, auch wenn er kein typischer Achtundsechziger war. Wir waren damals beide in der Lesegruppe um den Essayisten Michael Rutschky, die sich traf, um philosophische Klassiker zu besprechen. Kurt Scheel war gerade sechzig Jahre alt geworden. Er legte in der Runde all seine Schwere in den Satz: „Sechzig, das ist eine Beleidigung“, und er konnte viel Schwere in seine Sätze legen.
Altwerden als Peinlichkeit
Das eigene Altwerden, es war schlicht nicht vorgesehen. Es war eine Zumutung. Vielleicht sogar noch, irgendwo im Hinterkopf, ein Trick des kapitalistischen Systems (der letztere Gedanke bezieht sich nicht auf Kurt Scheel, aber ein bisschen schon auf viele aus seiner Alterskohorte).
Einem anderen Bekannten von mir war es vor allem zutiefst peinlich, sechzig Jahre alt geworden zu sein. Er wollte gar nicht darauf angesprochen werden. Außerdem ist es noch gar nicht so lange her, dass der deutsche Kulturbetrieb von Matadoren beherrscht wurde, die sich entweder im Besitz ewiger eigener Schaffenskraft wähnten oder mit dem eigenen Alter gleich die Gesellschaft als Ganze untergehen sahen.
„Nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.“ Der Vers stammt von Bertolt Brecht, aus dem Gedicht „Vom armen B.B.“, und stellt so ziemlich das Gegenteil zu den pädagogischen Ermutigungen dar, mit denen heutige Berufsanfänger zum Glück inzwischen versehen werden.
Ich habe den Vers früher ziemlich oft von Achtundsechzigern gehört. Viele ihrer Generation haben ihn geglaubt. Sie durften aus ihrer Sicht allein schon deshalb nicht alt werden, weil sie ihren Nachfolgern ihre Nachfolge nicht zutrauten. Nach lange eingeübten Mustern des Vater-Sohn-Konflikts gingen sie erst gegen ihre eigene Vätergeneration an und dann, selbst Vater geworden, gegen ihre Söhne.
Alles Männer? Ja, alles Männer. Frauen kamen, außer Christa Wolf vielleicht, außerhalb ihrer jeweiligen Familie kaum ins Bild. Sie müssen sich jetzt – als Pionierinnen einer neuen Form alt zu werden – noch einmal ganz anders fühlen als ich. Aus meiner Unizeit kann ich mich an eine einzige Professorin erinnern, und die freute sich sehr darüber, als ihre Studentinnen ihr erzählten, dass es doch gar nicht mehr schlimm und im Übrigen auch gar nicht mehr entsexualisierend sei, wenn Frauen Brillen tragen würden.
Insofern kann ich Iris Radisch gut verstehen, die neulich in der Zeit einen interessanten Artikel über ihren Umgang mit dem Altern geschrieben hat. Die 1959 geborene Literaturkritikerin schreibt: „Anders als meiner Großmutter fehlen mir Vorbilder und starke Erzählungen über das, was mir gerade passiert. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich auf die Suche nach einer guten Geschichte für das Altwerden zu machen.“
Ohne die spezifischen Geschlechtserfahrungen verwischen zu wollen: Auch als Mann können einem solche Vorbilder fehlen. Stattdessen hat man schnell eine ganze Reihe von Beispielen im Hinterkopf, wie man selbst nicht gern alt werden möchte.
Wobei es auch viele Ausnahmen von der Keine-Vorbilder-Regel gibt. Was ist etwa mit Hans Magnus Enzensberger oder Dieter Wellershoff oder neuerdings mit Helga Schubert? Bei Annie Ernaux ist man sich, jenseits ihrer literarischen Bedeutung, wiederum nicht so sicher.
Eine große Ausnahme in meinem Bekanntenkreis sind Katharina und Michael Rutschky gewesen. Sie gehörten zu den wenigen Intellektuellen ihrer Generation, die sich aktiv um den Nachwuchs gekümmert haben. Wobei das im Fall von Michael Rutschky mit Ambivalenzen verbunden war. Er pflegte starre Vorstellungen davon, wie „der Jungmensch“ – Rutschkys Begriff – so ist, nämlich hübsch (beide Geschlechter), bei aller Klugheit ein bisschen naiv und formbar. Wie man spätestens aus seinen Tagebüchern wissen kann, waren ihm zudem Altersdepressionen keineswegs fremd. Und statt Fitnessübungen zu machen, wie heutzutage üblich, hat er als Fotograf mit der Kamera den Verfall seines Körpers begleitet.
Als Dokument, wie es ist, als Mann seiner Generation alt zu werden und dabei die Welt aus den eigenen Fingern gleiten zu sehen, sind seine späten Tagebücher tatsächlich bedeutsam.
Zu den Klischees über das Altern gehört, dass man neidisch und auch sehnsüchtig auf junge Leute schaut. Das kann ich für mich nicht bestätigen. An ein unbeschwertes Jungsein habe ich nie geglaubt. Vielmehr ist da auch viel überkommenes deutsches Ursprungsdenken im Spiel, das besagt, dass die Reinheit an der Quelle und in den Anfängen sitzt und der ganze Fortgang im Grunde Dekadenz und eine Verfallsform des Anfangs darstellt. Das muss man nicht mitmachen.
Was für mich zutrifft, ist aber wohl, dass ich sozusagen rückwärts auf mein Altern zugegangen bin. Ich habe mich ihm genähert, ohne genau hinzusehen, was auf mich zukommt, dafür den Blick mit Unbehagen zurückgerichtet auf Modelle, wie ich auf gar keinen Fall alt werden möchte.
Ich wundere mich selbst darüber, wie vehement solche Bilder vom Alter noch in meinem Kopf sind, also entweder Herren und Damen beim Kaffeekranz mit Hut auf dem Kopf oder Siebzigjährige, die wild zu „I can’t get no satisfaction“ abhotten. Aber vielleicht ist das auch gar nicht verwunderlich, wenn man sich überlegt, dass noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik eine so breite, so ausdifferenzierte, auch so gut ausgebildete und weiterhin hedonistisch eingestellte Alterskohorte ins Alter kommt wie in der Gegenwart. Da ist vieles auch einfach Neuland und noch nie so dagewesen und muss erst neu in den kollektiven Bilderhaushalt eingepflegt werden.
Ins Alter kommen jetzt eben nicht mehr diejenigen, die Achtundsechzig auf den Barrikaden standen. Nicht die Anti-AKW-Inis, nicht die Grünen, nicht die taz. Die haben ihre Erfahrungen mit dem neuen Lebensalter bereits gemacht. Jetzt kommt die Generation danach ins Alter. Die Jahrgänge 1963 und 1964 sind im vergangenen Jahr sechzig Jahre alt geworden oder werden es in diesem Jahr. Das sind die geburtenstärksten Jahrgänge der alten Bundesrepublik, die von vor dem Pillenknick. Es sind viele. Ich bin einer von ihnen.
Was damit verbunden ist: Das sind diejenigen Leute, von denen viele in ihrer Biografie entscheidende Punkte möglichst weit nach hinten geschoben haben. Spät in den Beruf eingestiegen, spät Familien gegründet, gerade erst an das Fünfzigsein gewöhnt, da müssen wir schon sechzig sein und uns plötzlich womöglich beeilen, um vom Rest des Lebens noch etwas zu haben.
Ich will hier gar nicht allzu sehr in das Generationsschema verfallen – Altwerden ist ja auch ein intimer, ein individueller Vorgang –, aber ein weiterer Anlauf in der Wir-Perspektive sei mir noch gestattet: Wir konnten uns schon mit den Twentysomethings identifizieren, obwohl wir in den Neunzigern, als der Begriff aufkam, teilweise schon Thirtysomethings waren. Dann wurden wir Fourtysomethings, und ich erinnere mich noch genau, dass es um meinen fünfzigsten Geburtstag herum war, als ich zum ersten Mal das Wort Sixtysomethings in einem Text erwähnte.
Das war von mir damals aber noch ironisch gemeint. Die Endung -something drückt ja nicht nur das ungefähre Alter aus, sondern auch eine gewisse stets vorläufig bleibende Lebenseinstellung, ein Nichtfertigsein. Das konnte ich noch vor zehn Jahren nicht mit der Sechzig zusammenbringen. Jetzt kann ich es. Ich habe, auch wenn ich es nie erwartet hätte, nichts dagegen, als Sixtysomething durchs Leben zu gehen. Auf jeden Fall ist mir das lieber, als, wie das auch schon passiert ist, von Kollegen umstandslos in den Topf der Boomer geworfen zu werden.
Endlich Stabilität? Pustekuchen!
Wobei das alles wiederum keinesfalls heißen soll, dass ich mich vom Alter distanzieren möchte. Man wird nicht nur alt gemacht. Man wird schon auch alt. Oder, genauer: Es gibt, ohne dass sie das Ganze der Person ausmachen würden, Aspekte des eigenen Selbst, die auch ich als Alterungsphänomene begreifen würde. So bleiben die Eingänge und Hintertüren für neue Erfahrungen durchaus geöffnet, aber diese neuen Erfahrungen müssen sich eben einordnen in ein vorhandenes Reservoir von Eindrücken.
Eine Freundin, die in diesen Tagen sechzig wird, brachte ihre Verwunderung über ihr Alter neulich gut auf den Punkt. „Ich dachte, man hätte es dann hinter sich“, sagte sie und meinte damit die kleinen und gelegentlich auch größeren Dramen und Krisen, die damit verbunden sind, seine Identität, seine Rolle im Leben und seine Position in dieser Gesellschaft zu finden. Sie hatte wirklich geglaubt, das sei mit sechzig alles festgelegt – ob nun im Guten oder im Schlechten – und im eigenen Leben sei Stabilität angekommen.
Pustekuchen. Die Ich-Dramen mögen sich verändern, aber dass welche da sind, das geht weiter, so viel habe ich inzwischen auch schon mitgekriegt. Neue Herausforderungen können sowieso dazukommen. Kinder aus dem Haus, die eigenen Eltern sind inzwischen gegangen – nach der Sandwichphase stehen jetzt für manche letzte, entscheidende Karriereschritte an, für andere aber auch, sein Leben wieder mehr aus sich heraus zu organisieren, was eigene Schwierigkeiten bietet.
Außerdem wird sich mit unserem Eintritt ins Altern sowieso vieles ändern. Zum Beispiel wird sich, auch wenn sich das paradox anhört, das Jungsein ändern. Es ist etwas anderes, ob man bei Familienfeiern als eines von vielen Kindern am Nebentisch unter sich sitzt, so wie wir damals, oder ob man als einzelnes Wunschkind inmitten von Omas und Onkeln alle Aufmerksamkeit auf sich zieht – da kommen dann andere Persönlichkeiten heraus mit anderen Möglichkeiten, aber auch mit anderen Herausforderungen.
Der Arbeitsmarkt wird sich ändern, die Rentensätze werden bestimmt weiter sinken, die Abfertigungsgeschwindigkeit an den Supermarktkassen wird sich verlangsamen. Die Kinofilme ändern sich jetzt schon, was mir beim neuen „Indiana Jones“ besonders aufgefallen ist. Zuerst habe ich mir beim Zugucken noch Sorgen gemacht, ob der alternde Indy mit der jungen Assistentin, mit der er zusammen die Abenteuer besteht, in Richtung Liebesschmonzette gehen könnte. Aber nein, der Altersabstand wird zum Glück stets mitreflektiert, und am Schluss kommt Indy mit seiner gleich alten Exfrau wieder zusammen. Das wirkte auch kitschig, aber immerhin nicht restlos peinlich.
Vor allem wird sich aber natürlich das Alter selbst ausdifferenzieren. Fitte Senioren werden durch die Parks radeln. Pflegeheime werden boomen. Klar, das ist auch jetzt schon so. Aber es ist etwas anderes, ob man davon unbeteiligt in der Zeitung liest oder ob man das auf sich selbst bezieht. In den nächsten Jahren werden die existenzielle Ausdifferenzierung zwischen fitten und pflegebedürftigen Älteren immer mehr Menschen auf sich beziehen.
Unter meinen Bekannten und Kollegen finde ich dabei eigentlich ermutigend viele Beispiele, die mit dem Sechzigsein ganz gut umgehen. Womöglich halbe Stelle, wenn man es sich leisten kann, Gärtnern im Schrebergarten, wenn man einen Garten hat, Enkel, wenn welche da sind, Anmeldung in der Digital Concert Hall oder bei einem Chor, wenn man denn Lust drauf hat – so bastelt man sich in einer Mischung aus Arrangement mit der Lage, etwas Hedonismus und einem Daumendrücken, dass das wirkliche Alter noch auf sich warten lässt, den Übergang in die neue Lebensphase zurecht. Andere kriegen es vielleicht nicht so gut hin. Die Sechzigjährigen sind ja auch keine in sich geschlossene Gruppe; zu beobachten sind eher vielfältige Versuche, jeweils das Beste aus den Gegebenheiten und individuellen Möglichkeiten zu machen. Vielleicht spricht sogar vieles dafür, dass man niemals in der Geschichte so entspannt und auf vielfältige Weise sechzig werden konnte, wie man es heute kann. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Bilder und Erzählungen über diese Phase ist man aber, denke ich, noch nicht so weit.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wenn man das Tor der Sechzig durchschritten hat, traf man traditionell auf zwei Begriffe, die wie Portalsfiguren auf beiden Seiten des Durchgangs standen: „Verfall“ lautet der eine, „Reife“ der andere. Diese Begriffe stehen immer noch da, wenn auch inzwischen angebröselt und auch ein bisschen wacklig, und um gute Beschreibungen dieser Lebensphase zu entwickeln, muss man wohl genau aufpassen, was an ihnen überkommenes Bild und was Realität ist.
Was den Verfall betrifft, so ist vieles inzwischen individuelle Körperlotterie, man kann Glück oder Pech haben (wobei im Hintergrund auch Klassenfragen stehen, in einem akademischen Schreibtischjob kann man sich besser pflegen als als Paketbote). Zu berücksichtigen ist vor allem aber auch, dass es bei den vielfältigen Freizeittätigkeiten heutiger Senioren keineswegs nur um Fitness und das Aufhalten des Verfalls geht.
Lustigerweise stieß ich in der Besprechung einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zum Spätwerk von Goethe auf einen Begriff, der hier ganz gut passt: „Präsenzerfahrungen“. Goethe habe sich, so hieß es da, im Alter noch einmal besonders mit den Künsten beschäftigt, um sich „so intensiv wie möglich im Leben zu verankern“. Genau das und eben nicht nur Fitness suchen heutige Senioren beim Radfahren, Wandern, Jogging auch. Ich musste erst selbst sechzig werden, bevor mir das aufging. Dabei kenne ich das schon vom Yoga, das ich seit ein paar Jahren praktiziere. Wenn das jemand auf „Entspannung“ reduziert, kommt mir das auch unpassend vor. Es geht wirklich um die Erfahrung von Präsenz.
Und was die Reife betrifft: „Mein langer Lauf zu mir selbst“ hieß ein Buch, das Joschka Fischer geschrieben hat, bevor er sechzig wurde. Natürlich hat man diese Idee des Bei-sich-Ankommens weiterhin im Hinterkopf, und zumindest eine realistische Vorstellung von seinem eigenen Leben sollte man mit sechzig auch endgültig entwickelt haben, aber ein bisschen kichert man für sich auch darüber, oder? Reife, bei sich ankommen – das klingt wie ein letztes Klammern an bildungsbürgerliche Vorstellungen von Normalbiografien.
Statt möglichst lange Fitness performen oder in irgendeiner Weise bei einem ominösen „mir“ ankommen zu müssen, von dem ich nicht genau weiß, was das sein soll, würde ich mir für meine nun anstehende Lebensphase etwas anderes wünschen: dass sich gesellschaftliche gute, handhabbare und auch produktive Mechanismen herausbilden werden, mit den anstehenden inneren Krisen umzugehen.
Diese Krisen werden kommen, vielleicht nicht alles verschlingend, hoffentlich nicht, aber möglicherweise als Grundton. „Liegt es nicht wie ein leichter Staub auf den Dingen dieser Welt?“, diesen Satz von Wilhelm Raabe postete neulich ein Facebook-Freund.
Staub auf den Dingen – was Raabe, ein Autor aus dem 19. Jahrhundert, hier formuliert, ist die Möglichkeit einer Altersdepression. Es kann gut sein, dass der Umgang mit solchen Krisenphänomenen so wichtig werden wird wie vor einigen Jahren die gefühlt flächendeckende Beschäftigung mit Burnouts. Schließlich sind alle Übergänge im Leben mit Krisen verbunden, und wenn der Übergang zum Alter sich so massenhaft vollzieht wie in meinem Geburtsjahrgang, wird sich das bemerkbar machen.
Es gehört zu den großen zivilisatorischen Errungenschaften des späteren 20. Jahrhunderts, dass Lebensübergänge verstanden und wichtig genommen werden. Meine Elterngeneration hielt Pubertät noch für ein Fremdwort. Inzwischen ist sie nicht nur normal, sondern längst auch ein wichtiger Zweig der Kulturindustrie. Etwas Ähnliches ist, wenn auch nicht so offensiv propagiert, mit der Midlife-Crisis passiert. Ich-Suche und mögliche Neuorientierung in der Lebensmitte sind sogar Produktivkräfte unser Gesellschaft geworden.
Womöglich steht jetzt mit dem Sechzigwerden der geburtenstärksten Jahrgänge so etwas mit den Krisen des Alterns an. Schon jetzt erscheinen viele Bücher, die sich gegen Altersdiskriminierung, die jetzt Ageism heißt, wenden und in denen Autor:innen jenseits der Sechzig Sichtbarkeit und Terrain behaupten wollen. Dagegen möchte ich auch gar nichts sagen, schon aus Eigeninteresse nicht.
Aber bei mir kommt noch etwas hinzu, und ich glaube, dass das vielen derjenigen, die hier und heute sechzig werden, zumindest in ihren stillen Momenten auch so geht. Es geht darum, eine anstehende allmähliche Rückbesinnung auf einen selbst mit einem hoffentlich weiter bestehenden Offensein fürs Ganze zu koordinieren – was sich leichter hinschreiben als tatsächlich umsetzen lässt. Es geht darum, mit der Verletzlichkeit und Dünnhäutigkeit umzugehen, die damit verbunden ist, in absehbarer Zeit loslassen zu müssen. Und es geht darum, den Momenten von Verlorenheit und Mutlosigkeit, die kommen werden, immer etwas entgegenzusetzen.
Manchmal stehe ich vor dem Spiegel, und mein neues Lebensalter redet mit mir. Nicht wirklich natürlich, aber irgendwie schon.
„Ich bin real“, sagt es dann.
Und ich antworte, je nach Tagesverfassung, mit: „Ist mir auch schon aufgefallen.“ Oder mit: „Na und, mir doch egal.“
Oder wir schauen uns ernsthaft in die Augen, und ich stelle mir nur für mich die Frage: „Was denkst du eigentlich wirklich über dein Alter?“ Und ich muss mir eingestehen, dass ich dann manchmal einen seltsamen Gedanken im Kopf habe: Wenn sie nicht ausgerechnet mit dem eigenen Altern verbunden wäre, könnte die neue Lebensphase sogar ganz spannend werden.
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