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Abschluss G20-Gipfel in BrasilienDer Westen hat nicht mehr so viel zu melden

Auf dem G20-Gipfel wurde deutlich, wie sehr sich die Gewichte in der Welt verschieben. Der Westen steht mit seiner Kritik am russischen Einmarsch allein da.

Brasilianische Indigene protestieren am Strand von Botafogo in Rio beim G20-Gipfel, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen Foto: Bruno Prado/ap

Rio de Janeiro taz | Die Welt ist im Wandel, Machtverhältnisse verschieben sich. Das ließ sich nirgendwo so gut beobachten wie auf dem Treffen der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer im brasilianischen Rio de Janeiro, das am Dienstag zu Ende ging. Auf dem traditionellen Abschlussfoto der G20 fehlt der amerikanische Präsident Joe Biden. Der kam wenige Sekunden zu spät zum Fototermin, weil er sich auf dem Weg dorthin verquatschte. Offenbar vermisste ihn aber auch niemand. Dafür säumten auffällig viele chinesische Flaggen die Promenade an der Copacabana und den Platz vor dem Tagungsgelände.

Chinas Staatschef Xi Jinping wurde vom Gastgeber, Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, sehr herzlich empfangen und bleibt nach Gipfelende zum Staatsbesuch. Was sich im vergangenen Jahr beim G20-Gipfel in Delhi beobachten ließ wurde nun noch einmal überdeutlich – niemand wartet mehr auf die Ansagen des Westens, die sogenannten Schwellenländer spielen ihr politisches Gewicht selbstbewusst aus und schaffen selbst Fakten.

Das zeigt sich auch in der Abschlusserklärung, auf die sich die Staatschefs, unter denen Frauen nahezu nicht vertreten sind, überraschenderweise bereits am ersten Gipfeltag verständigten. Gastgeber Brasilien konnte seine wichtigsten Punkte, nämlich den Kampf gegen Hunger und Armut dort prominent unterbringen. Außerdem bekennen sich die G20 zu einer effektiven Besteuerung von Superreichen, ohne freilich konkret zu werden.

Lula da Silva wuchs selbst in einer armen Landarbeiterfamilie im vom Hunger geplagten Nordosten Brasiliens auf. Zu Beginn der G20-Präsidentschaft kündigte er die Gründung einer globalen Allianz an, die bis 2030 rund 500 Millionen Menschen durch Transferprogramme und Sozialschutzsysteme erreichen will. Auf dem Gipfel wurde die Allianz nun offiziell gegründet, als eines der ersten Mitglieder trat Deutschland bei.

Kampf gegen Klimawandel ist abgeschwächt

Der deutsche Bundeskanzler betonte am Montag, Deutschland sei der zweitgrößte Unterstützer von Entwicklungszusammenarbeit in der Welt, und appellierte: „Wir werden diese Aufgabe auch weiterhin wahrnehmen müssen.“ Geht es ihm doch auch darum, auf diesem Wege Partner aus dem Globalen Süden zu gewinnen und gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Freilich hatte seine auseinandergebrochene Ampelkoalition gerade noch beschlossen, ein Zehntel des Entwicklungshaushalts zu kürzen. Dass eine mögliche unionsgeführte Regierung diesen Trend bricht, ist eher nicht zu erwarten.

Ein weiterer, für die Entwicklungsländer eher ungünstiger Punkt ist die schleichende rhetorische Verwässerung konkreter Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel. Zwar bekennen sich die G20 zum Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Allerdings fehlen konkrete finan­zielle Zusagen, es heißt nur, man sehe die Notwendigkeit einer raschen und erheblichen Verbesserung zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen. Die Rede ist von Milliarden zu Billio­nen aus allen Quellen.

Außerdem wird mehrfach auf nationale Gegebenheiten bei der Reduzierung von Treibhausgase hingewiesen – Länder wie Saudi-Arabien wollen ihre Ölförderung bitte nicht beeinträchtigt sehen – und an einer Stelle sogar klar erklärt, dass Maßnahmen zum Klimaschutz kein Mittel sein sollten, um internationalen Handel zu beschränken.

Eigentlich erhoffte sich Brasilien vom Gipfel auch Weichenstellungen für die Klimakonferenz im nächsten Jahr, die ebenfalls in Brasilien stattfindet, in der Regenwaldmetropole Belém. Zugleich wollte man ein Signal für die parallel stattfindenden Verhandlungen der COP29 in Baku, Aserbaidschan, senden, wo die Gespräche bislang nur schleppend vorankommen. Beides ist nicht wirklich geglückt.

Scholz forderte klare Sprache

Genauso verschwiemelt kommen auch die Passagen zum Krieg in der Ukraine und zum Thema Nahost daher. Immerhin wird der Ukrainekrieg noch erwähnt, doch heißt es nur allgemein, dass sich alle Staaten zu den Prinzipien der UN-Charta bekennen und „auf die Androhung und Anwendung von Gewalt zum Gebiets­erwerb“ verzichten sollten. Der Name des Aggressors, also Russland, taucht anders als in den Abschlusserklärungen von Bali und Delhi gar nicht mehr auf. Scholz hatte noch am Montag eine „klarere Sprache gefordert“. „Zu diesen Prinzipien wollen sich alle bekennen, aber man muss dann auch Ross und ­Reiter benennen.“ Doch durchsetzen konnte er sich damit nicht.

Dazu passt, dass Lula da Silva nicht bereit war, auf Drängen der USA und Deutschlands, den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskyj nach Rio einzuladen oder zuzuschalten. Die Begründung Lulas lautete, er wolle Kriege aus den Gesprächen heraushalten, um nicht von anderen wichtigen Themen abzulenken. Gleichzeitig wirbt der brasilianische Präsident auch um die Gunst Chinas, das den Krieg zwar ärgerlich, aber nicht wirklich schlimm findet, weil er Russlands Abhängigkeit von China erhöht.

Die fehlende Präsenz der Ukraine zeigt auch, wie begrenzt der Einfluss der größten und der drittgrößten weltweiten Volkswirtschaft gerade ist. Sowohl US-Präsident Biden als auch Bundeskanzler Scholz, die in ihren Heimatländern als „lame ducks“ gelten, sind politisch stark geschwächt. Während Scholz in Rio am Montagabend mit den Staatschefs von Singapur und Vietnam sprach und Dienstagmorgen Chinas Staatschef Xi Jinping zum 25-minütigen Gespräch traf, braute sich in der Heimat ein Putsch gegen ihn zusammen, mit dem Ziel, ihn als erneuten Kanzlerkandidaten zu verhindern.

Noch deutlicher lässt sich die Schwäche des Westens in den Passagen zum Nahostkonflikt ablesen. Die G20 bringen ihre „tiefe Besorgnis über die katastrophale humanitäre Situation im Gazastreifen und die Eskalation im Libanon zum Ausdruck“, unterstreichen das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung und fordern einen Waffenstillstand. An keiner Stelle ist aber der Auslöser des gegenwärtigen Krieges erwähnt, das Massaker der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres.

Scholz lobte am Ende des Gipfels, dass es gelungen sei, auf Augenhöhe miteinander zu reden. Das Thema Klimaschutz habe am zweiten Tag eine größere Rolle gespielt. „Wir müssen und wollen an dieser Stelle zusammenarbeiten.“ Mehr als, dass man sich einig sei „dranzubleiben“, konnte der Kanzler allerdings nicht vermelden. Und konstatierte: „Der Wind in den internationalen Beziehungen wird rauer.“

Seinem Unmut über die laschen Formulierungen in der Abschlusserklärung zu den Kriegen in Nahost und der Ukraine macht Scholz ebenfalls Luft. „Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht hätte, dass wir an dieser Stelle noch ein paar weitere Worte finden, zum Beispiel zum Selbstverteidigungsrecht Israels und ganz besonders dazu, dass die Hamas die Verantwortung für die aktuelle Eskalation trage mit dem furchtbaren und menschenverachtenden Angriff auf israelische Bürger.“ Gleiches gelte für den Krieg, den Russland gegen die Ukraine führe.

Scholz bekräftigte dennoch keine Taurus-Raketen zu liefern. Die Ukraine könne sich auf Deutschland verlassen. Mit einer Ausnahme. Die Lieferung von Taurus wäre eine Fehler. „Ich sage ausdrücklich, ich bleibe bei meiner Entscheidung diese Waffe nicht zu liefern.“

Die Schwäche des Westens lässt sich deutlich ablesen

Eigentlich hätten weder die USA noch Deutschland einer solchen Abschlusserklärung zustimmen können, gemessen an ihren Solidaritätsbekundungen zu Israel. Doch offenbar entschloss man sich, das Ganze nicht platzen zu lassen. Ohnehin wurden die Erwartungen im Vorfeld tief gehängt. Man solle den Erfolg des Gipfels doch nicht daran messen, welche Adjektive in der Abschlusserklärung auftauchten, hieß es vor Scholz’ Abreise nach Rio aus dem Kanzleramt, und ohnehin sei die Bindewirkung solcher Dokumente doch eher eine politische.

Das ist wahr, gleichzeitig sind solche Erklärungen Haltepunkte für praktische Politik, sie markieren Festlegungen, hinter die die Staaten dann nicht mehr ­zurückgehen können. Eigentlich.

Wie wenig man sich auf einmal getroffene Vereinbarungen verlassen kann, erfährt der deutsche Bundeskanzler gerade am eigenen Leib. Dass Scholz beim nächsten G20-Gipfel in Südafrika noch auf dem Familienfoto ist, ist derzeit eher unwahrscheinlich.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde nachträglich um die Rede von Olaf Scholz nach dem G20-Gipfel ergänzt.

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27 Kommentare

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  • Alles gut, dann übernehmen China, Brasilien und Indien übernehmen in Zukunft die Transferleistungen an die „Noch-nicht-Schwellenkonkurrenten“ und die Ölstaaten finanzieren die Folgekosten des Klimawandels in Afrika und Asien. Trump macht Amerika wieder groß und wartet auf seine Gelegenheit durch Zukauf Neu-Mexiko nochmals neu zu gestalten. Die Ukrainer lernen von der kompromisslosen Selbstverteidigung der Israelis, pfeifen auf alle deutschen Bedenken und setzen Wladimir so unter Druck, dass er ernsthaft über Fair Handlungen nachdenken muss. Hierzulande diskutieren derweil Scholz und Merz, ob der runde Bierdeckel nun in den eckigen passen muss, oder umgekehrt.

  • Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden und das ist gut so!

    Jahrzehnte hatte der Westen eine globale Vormachtstellung inne und hätte sich dem Rest der Weltbevölkerung gegenüber offener und solidarischer zeigen können. Ab 1990 gab es ein Zeitfenster, indem fast alles möglich gewesen wäre: Eine faire Weltordnung, Angleichung der Lebensverhältnisse, nachhaltiges Wirtschaften und ein globaler Frieden.

    Der Westen hat die Chancen verstreichen lassen, verfolgte eigene Macht- und Wirtschaftsinteressen, sonnte sich in seiner vermeintlichen Überlegenheiten auf allen Gebieten. Andere haben ihre Chancen genutzt. Sie haben auf vielen Gebieten aufgeholt und aufgeschlossen. Sie sind ernsthafte Wettbewerber und sie haben keinen Grund, es nun anders zu machen, als der Westen. Der merkt noch nicht einmal, dass er seinen eigenen Lügen aufgesessen ist: Demokratie, Freiheit, Fortschritt, Wohlstand waren nur die Verkaufsargumente einer immer mächtiger gewordenen Wirtschaftsoligarchie. Die fordert nun eine härtere Gangart, gegen andere Oligarchen, die Wettbewerber, die eigene Bevölkerung und alles, was einer Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit im Weg steht.

    • @Stoersender:

      Dem ist nichts hinzuzufügen. Genau da liegt der Hund begraben.

  • Das doppelte Mass, welches, jedenfalls weltweit so empfunden, der Westen im Ukraine-Krieg einerseits und im Gaza-Krieg andererseits anwendet, kostet massiv an Glaubwürdigkeit, was die "westlichen Werte" angeht. Israel tritt die westlichen Werte mit beiden Füßen und bekommt dafür noch mehr Waffen aus den USA und eine nahezu uneingeschränkte Solidarität aus Deutschland - eben weil Israel zum "Westen" gehört.

    Das stößt bei den G20 auf Unverständnis - und schwächt die



    westliche Position im Ukraine-Krieg.

    Aus mehreren Gründen kann man sagen, daß die beiden Kriege Teil desselben globalen Konflikts sind und Putin den Ukraine-Krieg eigentlich am 7.10.2023 gewonnen hat.

    • @Deutschfranzose:

      Die Ukraine hat Russland - anders als Hamas Israel - nicht angegriffen. Entsprechend sind solche Vergleiche albern.



      Ein Detail stimmt allerdings überein: Sowohl Russland als auch die Hamas sind Terror-Organisationen.

    • @Deutschfranzose:

      Die "westlichen Werte" sind nicht spezifisch westlich, sondern universell. Das ist zumindest der Anspruch.

      Gesellschaften, die solche Werte verinnerlicht haben und hochhalten, sind weltweit eher in der Minderheit mit abnehmender Tendenz. Darüber können auch nett formulierte Erklärungen wie die von G20 nicht hinwegtäuschen.

      Es ist ein Fehler, von "westlichen" Werten zu sprechen. Denn so wird der Eindruck erweckt, dass der Westen immer noch alles besser weiß und besser kann. Da sind ehemalige Kolonien verständlicherweise besonders empfindlich - und Russland mit seinem tradierten Minderwertigkeitskomplex sowieso.

      • @Winnetaz:

        „…sondern universell. Das ist zumindest der Anspruch.“



        Ein Anspruch, der argumentativ einzulösen wäre – aber gerade daran hapert es. Denn weder herrscht im Westen Einigkeit darüber, was dessen Werte eigentlich sind (Kant oder Nietzsche, der Papst und die taz-Redaktion geben hier ja durchaus verschiedene Antworten) noch sehe ich einen überzeugenden Beweis für deren kultur- und geschichtslose Gültigkeit. Die reine Behauptung reicht nicht aus (die Taliban behaupten auch, dass ihre Werte universell wären – und nun?). „Der Westen“ – oder zumindest viele seiner Vertreter – haben sich sehr daran gewöhnt, Normen setzen zu können, dass sie verlernt haben, nach den Voraussetzungen dafür zu fragen – und die sind eher in der Kombination von rücksichtsloser Macht und ökonomischem Erfolg zu suchen. Beide kommen jedoch an ihre Grenzen – und damit auch die in ihnen gründenden Geltungsansprüche.

  • Es ist doch nur vernünftig, dass die zentralen Themen Welthungerbekämpfung, Reichensteuer und Klimaschutz waren.



    Als Nicht -Westler ist es schwierig zu verstehen warum die Ukraine immer einen so hohen Stellenwert bei Gipfeln haben sollen. Global betrachtet ist der Krieg in der Ukraine eine lokale Tragödie. Und viele Menschen außerhalb des Westen verstehen nicht warum Hunderte von Milliarden hungern müssen, obwohl man mit einem Teil des bisher in der Ukraine investieren Geldes vielen dieser Menschen helfen könnte. Ich glaube, dass müssten unsere westliche Politiker besser erklären können, um dafür Rückhalt gewinnen zu können.

  • Vielleicht, als Ergänzung, ein Zitat von Dr. Subrahmanyam Jaishankar, dem indischen Außenminister: "Europe must learn, that it can not expect that his problems are problems of the world, while the worlds problems are not europes problem".

    • @Kartöfellchen:

      Es wundert mich, dass es Leute gibt, die so einen Unsinn "kaufen". Es ist völlig irrelevant, wo dieser Krieg stattfindet. Es geht in diesem Kontext um die Frage, wie man zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg steht, der aus klassisch imperialistischen Motiven geführt wird. Was für eine Position man zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat.



      Die schlichte Wahrheit ist: Indien verdient Milliarden an diesem Krieg. Und das ist Indien eben wichtiger, als sich gegen die russischen Mörderbanden zu positionieren.



      Das nämlich würde das aktuelle indische Geschäftsmodell (kaufen von billigem russischen Erdöl, und anschließend teuer als eigenes verkaufen) torpedieren.

      • @Kaboom:

        "Es geht in diesem Kontext um die Frage, wie man zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg steht, der aus klassisch imperialistischen Motiven geführt wird. " Nicht nur, es geht auch darum, wie man universell dazu steht. Da haben wir einen Afghanistan Angriffskrieg der USA mit Verbündeten. Niemand im Westen interessiert es. Da haben wir einen Angriff auf den Irak, mit Lügen. Niemand im Westen interessiert es. Also warum bei einem Krieg wo der Westen nicht profitiert. Warum soll es nun jeden interessieren? Das ist das was die westl. Staaten seit Jahrzehnten in Misskredit bringt und er und wie auch sie verstehen eben nicht, dass man mit solchen doppelten Standards, sein eigenes Tun und Handeln massiv negativ gegenüber anderen aufzeigt.

  • Es ist relativ einfach: Der Westen hat lange Zeit andere Länder kolonisiert und ausgebeutet. China, Indonesien und Indien waren Opfer des westlichen Kolonialismus, China auch Opfer japanischer Aggression. Russland war Opfer der Deutschen Invasionen, zuletzt im als Völkermord angelegten 2. Weltkrieg. Mexiko wurde von den USA im 19. Jahrhundert große Teile seines Landes geraubt. Afrika: Sklavenhandel und Kolonialismus, Völkermorde.



    Nach dem 2. Weltkrieg ging es subtiler weiter.



    Der Westen hat, wann immer er wollte, Regierungen gestürzt (Mossadegh, Allende, Lumumba, Janukovich), Länder bombardiert (Serbien 1999, Libyen 2011) oder hat Kriege in anderen Ländern geführt, die den Westen nicht dort haben wollten (Vietnam, Afghanistan, Irak). Oder Drohnen in souveräne Länder geschickt, um dort Menschen zu töten, oft genug mit vielen Toten um das Ziel herum, die nichts damit zu tun haben. Die Ukraine selbst war im Falle des Iraks 2003 sogar dabei.



    Irgendwann hat der Rest der Welt beschlossen, dass



    a) Man dem Westen einfach nicht mehr glaubt, dass er "die Guten" repräsentiert.



    b) Einfach beschließt, dass der Westen nicht eine Regel für sich und eine Regel für alle anderen haben kann.

    • @Kartöfellchen:

      Es ist nicht einfach und ignoriert, dass alle Staaten auch die der Schwellenländer in realen Situationen eingebunden sind.

      Politik außerhalb des Westens ist nach wie vor Politik. Die Entscheidungen werden also auf Grund von Machtverhältnissen und Systemstrukturen getroffen.

      "Man" und "einfach beschließt" entlarven wie unmaterialistisch diese Analyse ist.

    • @Kartöfellchen:

      Wenn es so einfach wäre.

      Russland gehört eindeutig zu den europäischen kolonialen Ausbeutern und ist es (als einziges europäisches Land!) 1:1 bis heute noch - Sibirien ist kein historisch-slawisches Land (siehe Russlands Argumentation warum die Ukraine zu Moskau gehören soll). Russlands Grenze mit China ist das letzte Überbleibsel jener "ungleichen Verträge" des europäischen Kolonialismus in Ostasien.

      Auch die Türkei war eine Kolonialmacht des Hochimperialismus und war zum Beispiel zur Kongokonferenz eingeladen. China war bis 1912 ebenso koloniale Macht (Korea, Tibet) und ist es tw. bis heute (Tibet).

      Diese Staaten stellen sich trotzdem in der dritten Welt als Kämpfer gegen die Übergriffe des westlichen Imperialismus dar.

      Warum das funktioniert? Weil das alles akademische Diskussionen sind, die einen Diktator bei einem Abschluss von Waffen- oder Ressourcendeals nicht interessieren. Machtpolitik ist Moral und historische Verantwortung egal.

      Die Ironie ist dabei, dass Russland und China offen zugeben, die US-Dominanz durch eine gleichartige eigene Dominanz ablösen zu wollen.

    • @Kartöfellchen:

      Meine volle Zustimmung! Viele bei uns im Westen möchten den Krieg in der Ukraine gerne isoliert und aus dem Kontext herausgezogen betrachten, da es immer leichter ist mit den Fingern auf andere zeigen als eine kritische Selbstreflexion betrachten. Natürlich hat Putin diesen Krieg angefangen, aber wer verstehen möchte warum der Westen so wenig Rückhalt für seine Ukraine Politik bekommt muss diesen Krieg im Kontext betrachten.

  • Kleine Korrektur: im Text wird von erst- und drittgrößter Volkswirtschaft gesprochen, und gemeint sind die USA und Deutschland. Nach aktuellen Daten sind aber China und Indien die erst- bzw. drittgrößte Volkswirtschaft (GDP ppp).

  • Finde ich sehr gut, dass man nicht mehr auf dem Westen hört bzw. nach dessen Pfeife tanzt.

    • @Mouse:

      Können Sie ja und gerade die USA hat es dieser Ansicht viel zu leicht gemacht.

      Nur sollten Sie sich keinen Illusionen hingeben, dass dadurch irgendetwas etwas besser wird. Der Nicht-Westen ist wenig bis gar nicht demokratisch, deutlich rechter, kapitalistischer, militaristischer und mindestens genauso kolonialistisch wie die Europäer und Amerikaner.

      In diesem Zusammenhang ist die Verdrängungsleistung hinsichtlich der Rolle Russlands beachtlich. Das einzige klassische europäische Kolonialreich, das nicht auf sein europäisches Kernland zurückgeschrumpft wurde und den größten Teil seines Kolonialreiches behalten konnte (Sibirien, muslimisches Südrussland, Teile des historischen Chinas), wird im globalen Süden als Verbündeter im Kampf gegen den weißen Kolonialismus gesehen.



      Das zeigt doch, welche Rationalität und Moralität man von den Diktatoren des globalen Südens erwarten kann: Keine...nur zynische Machtpolitik.

      • @Chris McZott:

        Alles besser und besonders klüger, als ausgerechnet der Stiefelputzer von Trumps Gnaden zu werden ...



        Es reicht doch wenn wir das schon machen (müssen) ...

  • Tja, die Europäer in Gedanken ganz woanders, die USA in der Übergangsphase gar nicht richtig anwesend. Das kann nichts werden.



    Natürlich sollte man konzentriert bei der Sache bleiben und Erklärungen, die die Interessen des Westens nicht angemessen berücksichtigen, die Zustimmung verweigern. Konsens muss nicht alles sein.



    Man kann nur hoffen, dass Deutschland unter einem anderen Kanzler der Außenpolitik wieder eine angemessene Aufmerksamkeit schenkt, vor allem der Pflege der Beziehungen zu den "westlichen" Verbündeten. Ein enger Zusammenschluss und gemeinsames Handeln scheint wichtiger denn je.

  • BRICS in Kasan, G20 jetzt in Rio, das sind immer Schlaglichter darauf, dass die Welt vielleicht nicht mehr ganz so ist, wie sie bei uns im weltoffenen Teil des Westens gesehen wird. Bei uns dreht es sich etwa oft um unsere Schuld und unsere Verprflichtungen, endlich anderen die Hand zu reichen und alle mit ins Boot zu lassen. Ich glaube, die reale Welt ist weit weg davon - nicht nur im Kreise der Regierungen und Mächtigen - beliebig weit können auch die sich nicht von ihren jeweiligen Bevölkerungen entfernen. Auch die Masse der Menschen hat eher keine einheitliche und in sich stimmige Sicht der Dinge - und schon gar nicht, die Sicht, die in Teilen des Westens als fast alternativlos gilt.

  • „Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden.“

    Ein erster Erfolg also?

    War nicht die Agenda des Westens die Dekolonialisierung und die Überwindung des Nord-Süd- sowie des Ost-West-Gefälles?

    Wo liegt dann das Problem, wenn nun die „Anderen“ die Richtung vorgeben?

    • @Benzo:

      Denken Sie, dass der Weg die andere Richtung besser wird und zu mehr Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt führt? Ich glaube es nicht und ich hoffe das ich mich irre.

    • @Benzo:

      Das Problem könnte daran liegen, dass die Anderen eine nicht weniger Kolonialistische oder Imperialistische Agenda verfolgen. Das Ihnen das Gefälle in der Welt an sich völlig egal ist - wenn es nur sie nicht betrifft. Und das Ihnen der Kampf gegen Klimawandel lediglich dazu dient, sich ökonomische Vorteile ggenüber dem Westen zu sichern, er sonst aber keine Rolle in ihrer Politik spielt.

      • @mlevi:

        Ich nehme dem globalen demokratischen Süden für denn sich Lula als Represant sieht durchaus ab, dass er keine imperiliastische agenda vertritt und auch das hungerbekämpfung, klimaschutz usw wichtige punkte für ihn sind. Warum sollen Länder wie Brasilien den westen unterstützen, obwohl dieser täglich seine doppelmoral bei Werten und Regeln zeigt? Hinzu kommen noch die schlechten Erfahrung, die man selber gemacht hat (militärdiktatur unterstützt vom westen). Brasilien hat so paradox es klingen mag bessere Erfahrung mit Moskau und Peking gemacht.

        • @Alexander Schulz:

          Aber woher nehmen Sie den Glauben? China ewrden Sie kaum imperialistische Ambitionen absprechen können. Iran auch nicht, Russland sowieso nicht (Benzo sprach ja auch vom Ost-West-Gefälle. Auch bei der Hungerbekämpfung oder Hilfe bei diversen Katastrophen sind diese Länder - im Vergleich zu Ihre Wirtschaftsmacht noch nie in nennenswerter Weise in Erscheinung getreten. China kauft massenweiße Land in Afrika um dort Lebenmittel für den chinesischen Markt herzustellen - nur ein Beispiel. Brasilien holzt den Regenwald ab, China befeuert Kohle...