Abholzung von Urwäldern in Schweden: Bis zum letzten Baum
Schweden vermarktet sich als nachhaltiges Land, dabei werden dort die letzten Urwälder Europas zerstört. Auch wegen unseres Verpackungswahns.
D ie Luft ist klar. Vögel zwitschern, Heidelbeeren wachsen am Boden zwischen knorrigen Bäumen. Vor einem Stamm, der sehr dick ist, kniet Sebastian Kirppu. „Diese Fichte ist mehrere hundert Jahre alt“, sagt er. Kirppu ist Waldbiologe. Aus seiner khaki-grünen Jacke zieht er eine kleine Lupe mit integriertem Licht. Damit möchte er den Baum genauer inspizieren.
„Die Urwälder in Schweden haben eine besondere Artenvielfalt“, sagt er. Mit 26 Millionen Hektar bedecken Wälder 70 Prozent des skandinavischen Landes. Kirppu, 50 Jahre alt, durchstreift sie ständig, vor allem die Urwälder in den Läns, den Provinzen. Seine Mission: Er will klarmachen, dass viele den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.
„Bäume gibt es zwar noch viele“, sagt er. „Aber sie sind kein Wald mehr, sondern eine Plantage – maximal sind es noch Nutzwälder.“ Die Bäume werden für die Industrie herangezogen, die Flächen, auf denen sie wachsen, bieten keine Artenvielfalt mehr. „Sie sind dann anfälliger für Feuer und Borkenkäfer“, sagt Kirppu.
Die Forstwirtschaft setzt auf Kahlschlag
Im Gegensatz zu richtigen Wäldern, deren Ökosysteme Schutzmechanismen haben, die von ihrer Biodiversität leben. Für solche Wälder braucht es viele unterschiedliche Baumarten, und vor allem auch richtig alte Bäume. Diese identifiziert Kirppu bei seinen regelmäßigen Bestandsaufnahmen. Dabei ist es ihm sehr wichtig, den Wald genau so zu verlassen, wie er ihn vorfindet. Was bedeutet, dass er jedes einzelne Blatt oder Holzstück, dass er hochgehoben hat, wieder an seinen Ursprungsplatz zurücklegt.
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In Schweden werden viele Bäume allerdings im ersten Zehntel ihres Lebenszyklus gefällt. Eine Kiefer etwa mit 100 Jahren, obwohl sie 1.000 Jahre alt werden kann. „Das ist fatal“, sagt Kirppu, „denn je älter ein Baum wird, desto mehr Artenvielfalt entsteht.“ Zudem kann ein älterer Baum mehr Kohlenstoff absorbieren. Intakte Wälder fungieren besonders gut als Kohlenstoffsenken, indem sie Kohlendioxid der Atmosphäre entziehen und den Kohlenstoff in der Biomasse und im Boden des Waldes speichern, erklärt Kirppu.
Schweden ist weltweit der viertgrößte Exporteur von Holzprodukten. Und mit 12 Millionen Tonnen ist das skandinavische Land auch Europas größter Zellstoffproduzent. Zellstoff ist ein wichtiger Rohstoff für die Papier- und Pappherstellung.
Hauptabnehmer der schwedischen Holzprodukte sind die anderen europäischen Länder. In diese wird 57 Prozent der schwedischen Zellstoffproduktion und 67 Prozent der schwedischen Papierproduktion exportiert.
Obwohl Deutschland selbst einer der größten Produzenten von Holz ist, ist es trotzdem auf Importe angewiesen und bekommt von Schweden zum Beispiel ein Fünftel dessen gesamter Papierexporte. Insgesamt werden über 80 Prozent der schwedischen Zellstoff-, Papier- und Schnittholzproduktion exportiert.
Dass die Wälder auf Borneo und im Amazonasgebiet bedroht sind, ist vielen Menschen bewusst. Aber wie stark der Waldverlust in Skandinavien ist, vor allem in Schweden, wissen nur wenige. 60 Prozent der schwedischen Wälder sind seit den 1950er Jahren bereits abgeholzt worden. Und die schwedische Forstwirtschaft setzt weiter auf Kahlschlag: Mehr als 300.000 Hektar, verteilt über das ganze Land, werden nach Angaben der schwedischen Forstindustrie jährlich kahlgeschlagen.
Trotzdem gibt es weiterhin viele Bäume in Schweden. Denn das Forstwirtschaftskonzept funktioniert so: Kahlschlag, dann vertikutieren und neue Baumsämlinge aus Baumschulen einpflanzen. Für jeden aus dem natürlichen Ökosystem herausgeholten Baum werden zwei bis drei neue Nutzpflanzen eingesetzt.
Nicht irgendein Wald
Viveka Beckeman ist Generaldirektorin von Skogs Industrierna. Der Verband vertritt die Mehrheit der schwedischen Forstwirtschaftsunternehmen und will nach eigenen Angaben „die stärkere Nutzung von Forstprodukten fördern und den grünen Wandel ermöglichen“. Beckeman, eine hagere Frau mit kurzen blonden Haaren, gibt sich im Videogespräch überzeugt: „Das schwedische Forstmodell ist nachhaltig, weil es den Anbau klimafreundlicher Produkte und die Verbesserung der Artenvielfalt ausbalanciert.“
Holz sei bestens geeignet für eine „fossilfreie Wirtschaft“, weil es ein Baustoff sei, der für seine Herstellung keiner fossilen Brennstoffe bedarf. Der Slogan des schwedischen Forstindustrieverbandes lautet deshalb: „More Forest = More climate benefit“ – mehr Wald bedeute einen größeren Nutzen fürs Klima.
Die verfügbaren Daten widersprechen den PR-Slogans des Verbands aber. Wenn die Abholzung in Schweden mit der derzeitigen Rate so weitergeht, werden laut einer Gruppe von unabhängigen Expert:innen die letzten europäischen Urwälder bis zum Jahr 2070 ganz verschwunden sein. Zudem ist die Nettospeicherung von Kohlenstoffdioxid laut einem Bericht der schwedischen Umweltschutzbehörde 2021 „erheblich zurückgegangen“.
Greta Thunberg, Klimaaktivistin
Hauptursache dafür, so der Bericht der Behörde, sind „das rückläufige Wachstum des Waldes und die hohen Abholzungsmengen der vergangenen Jahre“. Die Autoren befürchten, dass „der starke Rückgang der CO2-Nettospeicherung daher dazu führen könnte, dass es für Schweden schwer werden könnte, die gemeinsamen EU-Klimaziele einzuhalten.“
„Wir leben hier“
Die schwedische Regierung lud Mitte Mai vergangenen Jahres, als sie den EU-Ratsvorsitz inne hatte, alle EU-Forstdirektoren nach Skellefteå im Nordosten Schwedens ein. Medien durften nicht dabei sein. Ebenso wenig wie 60 Nichtregierungsorganisationen, 260 Forscher:innen und Greta Thunberg, die das zum Anlass nahmen, um vor Ort mit einem internationalem Appell zu warnen: „Schwedens Forstwirtschaft bedroht die biologische Vielfalt in Europa!“
Sie forderten einen sofortigen Abholzungsstopp in Wäldern mit besonderem Naturwert, zudem sollten abgeholzte Wälder im Einklang mit den EU-Richtlinien und dem UN-Übereinkommen zur biologischen Vielfalt wiederhergestellt werden. Und vor allem sollten größere Teile der noch unberührten Urwälder geschützt werden. Derzeit stehen lediglich 6 Prozent der schwedischen Wälder unter Schutz.
Was es bedeutet, wenn zu wenig Wald geschützt wird, weiß Brita-Stina Sjaggo. Sie gehört zu dem letzten indigenen Volk Europas: den Samen. „Was die Leute Natur nennen, ist unser Zuhause“, sagt sie. „Wir leben hier das ganze Jahr.“
Sjaggo ist Rentierhirtin. Sie möchte uns zeigen, was die Forstwirtschaft von schwedischen Urwäldern übrig lässt – in der Nähe des nordschwedischen Jokkmokk nördlich des Polarkreises. Sjaggo trägt eine pinke Outdoorhose, Wanderschuhe und eine blaue Samen-Mütze. Zusammen mit ihren beiden Kindern läuft sie mit uns durch einen mehreren Hektar großen Kahlschlag.
Rentiere brauchen Flechten
Nach einer Weile legt sie ein Rentierfell auf den Boden, gießt ihren Kindern etwas Wasser in Holzbecher und gibt jedem ein Stück Suovvasm, geräuchertes Rentierfleisch. Alles selbst gemacht. Dann bittet sie uns, sich mit ihr umzuschauen. „Die Forstunternehmen haben die Landschaft völlig verändert: Wälder und Böden wurden zerstört“, sagt die 40-Jährige. „Und neue, aus dem Ausland importierte Bäume wurden gepflanzt.“
Unter den veränderten Wäldern leiden auch die Rentiere der Samen. Denn sie brauchen die Urwälder, um zu überleben. „Normalerweise hilft im Winter der Geruch von Flechten den Rentieren, sie unter dem Schnee zu finden“, erklärt Sjaggo. Aber Flechten wachsen vor allem in Urwäldern. Und da es von denen immer weniger gibt – sie schrumpfen gerade auch in vielen Teilen von Sápmi, dem Siedlungsgebiet der Samen, das sich über Norwegen, Schweden, Finnland und Russland erstreckt –, wird es für die Rentiere immer schwieriger, etwas zu fressen zu finden. „Wenn selbst Rentiere, die sich seit der Eiszeit an diese Landschaft angepasst haben, hier nicht mehr überleben können, wer dann?“, fragt Sjaggo.
Die Vereinten Nationen haben Schweden mehrfach kritisiert, weil es die völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der Rechte von Indigenen nicht einhält. Der Europarat hat dies in einem Bericht ebenfalls kritisiert. In diesem heißt es unter anderem, dass das samische Volk keinen ausreichenden Einfluss auf Entscheidungen der schwedischen Behörden über die Ausbeutung traditioneller samischer Gebiete hat.
Schweden hat darauf reagiert, indem es für das internationale Zertifizierungssystem für nachhaltige Waldwirtschaft, die FSC-Zertifizierung, zusätzlich eingeführt hat, dass die Forstunternehmen sich auch mit den Samen zusammensetzen sollen, um deren Rechte zu berücksichtigen. Das machen sie in der Regel auch. Aber den Samen hilft das nicht wirklich, wie Sjaggo berichtet. „Sie posten Bilder mit uns, aber halten sich nicht an das, was wir mit ihnen vereinbart haben.“
Onlineshopping ließ die Nachfrage steigen
Den Forstunternehmen gehe es nur um den Profit, sagt Sjaggo. Die Samen würden immer als Problem wahrgenommen. Sjaggo versteht diesen Konflikt nicht. Den Samen ginge es – anders als den Forstunternehmen – nicht darum, etwas zu besitzen. Sie wollten die Urwälder erhalten, um dort mit ihren Rentieren leben zu können: „In der samischen Sprache gibt es kein Wort für Besitz, Krieg oder Kampf.“
Es geht auch um Freiheit. Die von der schwedischen Forstbehörde aber anders verstanden wird als von den Samen. „Schwedische Forstpolitik wird oft unter dem Motto ‚Freiheit in Verantwortung‘ zusammengefasst“, schreibt sie. „Mit ‚Freiheit‘ ist gemeint, dass die Waldschutzgesetzgebung relativ wenige regelnde und verbindliche Regeln enthält.“ Das ist aber für die Verbraucher:innen am Ende verwirrend. Das sieht man unter anderem bei der FSC-Zertifizierung. Sie variiert von Land zu Land. So stammt FSC-zertifiziertes Holz aus Schweden häufig auch aus Wäldern mit hohem Schutzwert. „Die FSC-Standards in Schweden sind zu vage“, befand eine neue Studie der Zertifizierungsorganisation FSC-International. „Sie ermöglichen es sogar, in Wäldern mit Arten, die auf der roten Liste stehen, zu fällen – und dies mit FSC zu zertifizieren.“
Wenn eine Waldbesitzerin in Schweden etwas fällen lassen will, muss sie eine Fällanfrage an die Forstbehörde schicken. Innerhalb der nächsten sechs Wochen kann jeder dagegen Einspruch einlegen. Die Forstbehörde hat dann sechs Wochen Zeit, den Einspruch und die Anfrage zu überprüfen. Im Jahr werden rund 60.000 Fällanfragen gestellt. Lediglich ein Prozent davon hat die Forstbehörde nach eigenen Angaben überprüft.
Rund um die Uhr fahren Lkws und Züge voll beladen mit Holz durch Schweden. Nur ein Bruchteil der Bäume wird dabei für Möbel oder ähnliche Produkte genutzt. Der ganz überwiegende Teil, etwa 80 Prozent, landet in Papierfabriken und wird dort zu Zellstoff, Papier und Pappe verarbeitet. Denn die Nachfrage danach ist – nicht zuletzt durch das Onlineshopping zu Pandemiezeiten – stark gestiegen.
„Durch Karton getötet“
Für alle Papierverpackungen, die in Kontakt mit Essen kommen, stirbt ein neuer Baum – das bestätigt das Thünen-Institut bei Hamburg. Für vieles andere auch. Nicht recyceltes Toilettenpapier besteht aus frisch abgeholzten Bäumen, ebenso wie Küchenrolle oder Zeitschriften. Durch diese Produkte gelangt immer wieder neues Kohlendioxid in die Atmosphäre – das befeuert die Klimakrise, statt sie zu bekämpfen.
Wir versuchen, ein Interview mit einer der großen holzverarbeitenden Firmen zu bekommen. Nach monatelangem Nachhaken bekommen wir einen Termin, der im letzten Moment aber wieder abgesagt wird.
Dann bekommen wir Kontakt zu einem ehemaligen Mitarbeiter, der in der Öffentlichkeit aber anonym bleiben will. Er erzählt uns, dass er wie alle anderen Angestellten eine strenge Verschwiegenheitsklausel unterzeichnen sollte. Als er anfing, die Nachhaltigkeit des Unternehmens infrage zu stellen, bekam er Probleme. „Sie haben Wälder mit hoher Biodiversität kahlgeschlagen“, sagt er. „Ich konnte nicht damit umgehen.“ Am Ende hat er gekündigt.
Dieser Artikel ist mit Unterstützung des Journalismfund Europe entstanden.
Er zeigt uns Muster von hochwertigen Verpackungen, die von seinem ehemaligen Arbeitgeber hergestellt werden. „Für die kann nicht jeder Baum genommen werden, weil es festes Material sein muss“, sagt er. Nicht alle Papier- und Zellstoffhersteller fassen das Betriebsgeheimnis eng. Einige zeigen ihre Produkte auf ihrer Internetseite, andere hat Greenpeace Schweden in einem jüngst veröffentlichen Bericht „Killed by Cardboard“ – „Durch Karton getötet“ aufgelistet. Alle großen Player im Verpackungsgeschäft sind mit dabei: vom Einzelhandel mit Aldi Nord oder dm-Drogeriemarkt über den Onlinehandel mit Amazon oder Zalando bis hin zu Konsumverpackungen von Apple, Philipp Morris und Nestlé.
„Wenn Menschen in Deutschland und dem Rest Europas Produkte, die aus schwedischem Holz gemacht sind, boykottieren würden, könnte sich etwas ändern“, meint der Waldbiologe Sebastian Kirppu. Er ist immer wieder mit jungen Menschen in den Urwäldern Südschwedens unterwegs, um sie für bedrohte Arten und die Natur zu begeistern. Er verbleibt mit einer Frage: „Wir wollen unseren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen, aber was für eine Zukunft ist das, wenn wir die letzten Urwälder Europas abholzen?“
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