70 Jahre Grundgesetz: Herr Kühne feiert nicht mit
Alle gratulierten dem Grundgesetz zum 70. Geburtstag, nur Rainer Kühne nicht. Er sammelt alles zur Verfassung. Dabei fällt ihm auf: Es ginge besser.
Manchmal stellt sich Herr Kühne vor, wie er zu Gast in einer großen Talkshow ist. Er und sechs Leute, die alle das Grundgesetz verteidigen. Wie er sie zunächst ihre Loblieder auf das Grundgesetz singen lässt, um ihnen dann freundlich, aber bestimmt, zu widersprechen und in reinster Sachlichkeit zu erklären, warum sie falsch liegen. Warum das Grundgesetz eben nicht die Idealverfassung ist, als die es immer dargestellt wird.
Wahrscheinlich würden sie ihm nicht folgen können, aber davon würde er sich nicht abhalten lassen, denn: Er, Rainer Kühne, Rentner, Jahrgang 1939 und zehn Jahre älter als das Grundgesetz, wäre dann endlich an einem Ort, der ihm und seinem Potenzial gebührt; der Verdienst für seine jahrelange Auseinandersetzung mit diesem Buch, das Ende Mai seinen 70. Geburtstag gefeiert hat.
Was er an dem Tag selbst, am 23. Mai, gemacht hat? Da zuckt Kühne mit den Schultern. „Jar nüscht.“ Kühne hat sich daran gewöhnt, dass er zu keinen Jubiläumsfeiern und auch in keine Talkshows eingeladen wird. „Die meiden mich“, sagt er, „ich bin denen zu kritisch.“
Fast jeden freien Tag verbringt Kühne, seit ihm seine Frau nicht mehr erlaubt, von zu Hause zu arbeiten, an seinem Arbeitsplatz in der Bezirksbibliothek in Berlin-Tempelhof. Ein grauer Sechzigerjahreklotz, in dem Kühne oben auf der Empore sitzt, vor den Regalen „Sprache und Allgemeines“ mit Blick über die restlichen Bücherreihen.
„Das Grundgesetz in Grund gesetzt“
So auch Anfang Mai. Vor ihm ausgebreitet liegt die Titelseite der Zeit, daneben seine Werkzeuge: Tacker, Schere, Kleber und Klarsichtfolien. „Das liebste Buch der Deutschen“ steht da in großen Buchstaben neben einem Bild des Grundgesetzes. Kühne schiebt die Brille über die Augen und murmelt etwas von Lobhudelei. Man sieht, wie es in ihm arbeitet, wie sein Kopf schon die ersten Zeilen einer Replik verfasst.
Nein, das Grundgesetz ist nicht das liebste Buch von Herrn Kühne. „Lieb“ ist ein Wort, das Kühne in diesem Kontext gar nicht erst benutzen würde, „lieb“ ist Gott oder ein Kind, aber keine Verfassung. „Lieb“, das klingt nach Harmonie, und das Verhältnis zwischen Kühne und dem Grundgesetz ist intensiv, ja kompliziert und voller Zerwürfnisse, aber nicht harmonisch. Kühne meidet Harmonie. Er liebt den Streit, die Auseinandersetzung.
„Wer eine Verfassung feiert, sollte sich vorher einige Fragen stellen“, steht in einem zehnseitigen Text, den er vor fünf Jahren zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes verfasst hat. Kühne stellt viele Fragen. Er fragt, wie eine Verfassung, für die alten Nazis die Auslegung des Rechts anvertraut wurde, heute noch gelten kann? Warum es keine vom Volk beschlossene Verfassung gibt? Oder auch, wie Hartz IV und Artikel 1 des Grundgesetzes, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, vereinbar sind?
Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt sich Kühne mit dem Grundgesetz, seiner Entstehung und der Auslegung. Seine Kritik ist inzwischen auf 1.500 Seiten angewachsen, Seiten, die kaum jemand liest. Denn Herr Kühne hat zwar seit einigen Jahren einen eigenen Blog und eine Facebook-Seite mit knapp 60 Followern, auf der er regelmäßig Texte veröffentlicht. Aber er findet keinen Verleger – obwohl Kühne bereit wäre, „das Ding auf 500 Seiten runterzukürzen“ und auf den ursprünglich geplanten Titel „Das Grundgesetz in Grund gesetzt“ zu verzichten.
Das mit dem Recht sei ihm angeboren gewesen
Doch das hält Kühne nicht davon ab, weiter zu tackern, zu schneiden, zu kleben, zu scannen, zu tippen. Die fertigen Texte und Ausschnitte heftet er in einem gelben Ordner ab und nimmt sie mit nach Hause, in sein Archiv. Herr Kühne sammelt eigentlich alles, was mit Recht zu tun hat, vor allem aber mit Sozialrecht. Hartz IV, Renten, Sterbehilfe, darüber kann er stundenlang reden. Er sucht sich Rechtssprüche und interpretiert sie neu. Dann schreibt er den Richtern, Politikern oder Journalisten seine Meinung.
Kühne hat schon an Wolfgang Schäuble („Den habe ich zur Rede gestellt“), Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle („Der enttäuscht mich“) oder den Kolumnisten Thomas Fischer („Mit dem bin ich auf einer Wellenlänge“) geschrieben. Er schreibt und schreibt. Repliken, Stellungnahmen, Kommentare. Nur „Leserbriefe“ will er seine Texte nicht nennen, denn das klänge zu banal.
Nebenbei berät er Freunde und Bekannte bei Rechtsfragen. Dabei war Kühne nie Richter oder Anwalt, er hat auch nie Jura studiert. Er sagt, das mit dem Recht, das sei ihm angeboren gewesen. Fragt man ihn, was ihn antreibt, dann landet man schnell bei seiner Biografie. Herr Kühnes meistgesagter Satz ist: „Die Gesellschaft ist der Spiegel des Grundgesetzes.“ Genauso spiegelt seine Kritik am Grundgesetz und sein Drang nach Gerechtigkeit sein eigenes Schicksal, die eigenen Versäumnisse und Enttäuschungen, wider.
Kühne wurde in eine Welt geboren, in der das Unrecht regierte. Nazi-Deutschland, 1939, Hitler überfällt Polen. Kurz vor Ende des Kriegs wird Kühnes Vater, Feldlazarettarzt in Ostpreußen, von einer Bombe der Alliierten erwischt. „Hochgebombt“, sagt Kühne und dann sofort hinterher: „Aber die Deutschen haben ja auch keine Rücksicht genommen“ – als wäre sein Verlust durch die historische Gerechtigkeit zu entschuldigen.
Vom Brotfahrer zum Bezirksleiter
Als Vollwaise wächst Kühne bei seinem Onkel auf, der, zurück aus sowjetischer Gefangenschaft, mit seinem eigenen Trauma zu kämpfen hatte. Trotzdem bezeichnet Kühne die Zeit heute als sein „größtes Glück“. Denn der Onkel arbeitet als Strafrichter, Kühne beginnt sich für Recht zu interessieren. Mit elf oder zwölf liest er das Grundgesetz zum ersten Mal.
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Nach dem Abitur geht Kühne zum Bund – zur Überraschung der Familie. Er bleibt sechs Jahre. Nachdem er einen kritischen Text über den Wehrbeauftragten veröffentlicht und einen Tagesbefehl zerreißt, stellt er fest, dass er dort keine Zukunft hat, und geht. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, dass Kühne sich mit seinen Vorgesetzten anlegt. Heute sagt Kühne: „Ich war ein Leichtfuß.“
Danach macht Kühne die verschiedensten Jobs. Er arbeitet eine Zeit lang als Zeitungsverkäufer für den Herald Tribune in Paris. Er beginnt ein Politikstudium an der Freien Universität in Berlin und bricht es wieder ab. Er wird Fernfahrer. Er baut den Teufelsberg mit auf. Irgendwann wird er Leiter einer Allianzfiliale. Doch sein Gerechtigkeitsdrang wird ihm zum Verhängnis. Kühne sagt, er habe die Filiale zu einer Sozialstation gemacht. Nach zehn Jahren wird er gekündigt. Er sagt: „Das war mein Kardinalfehler, davon träume ich heute noch.“
Danach musste er wieder ganz unten anfangen. Kühne arbeitet als Brotfahrer, später wird er Bezirksleiter. Doch wieder einmal legt er sich mit seinen Vorgesetzten an – bis er schließlich gekündigt wird. Auch im Ortsverein der SPD gibt es Konflikte zwischen ihm und der damaligen Vorsitzenden und späteren Frau von Willy Brandt, Brigitte Seebacher. Irgendwann tritt Kühne wieder aus. Er sei eigentlich nur wegen Brandt in der SPD gewesen, sagt er.
„Mich brauchen die Schwachen“
Kühne weiß, dass er hätte mehr erreichen können, wenn er sich angepasster verhalten hätte. Einmal sagt er leise: „Ich bedaure es vielleicht auch, dass ich es nicht zu größeren Höhen geschafft habe.“ Aber Kühne ist sich und seinen Ideen immer treu geblieben. Er sagt: „Viele, die in jungen Jahren revolutionär waren, haben sich im Laufe der Jahre abgeschliffen. Ich war weniger revolutionär, aber durch das alltägliche Leben habe ich gemerkt, dass hier im Staat manches faul ist. Und dass das auch mit dem Grundgesetz zusammenhängt.“
Immer wieder zitiert Kühne Carlo Schmid, der in seiner Rede zum Grundgesetz 1948 gesagt hat, eine Tyrannei könne Menschen ausschließen, aber eine Demokratie nicht. Dass sie das trotzdem tut, geht Kühne gegen den Strich. Gerade unterstützt er einen Kläger vor dem Sozialgericht, dessen Wohnung geräumt werden soll, weil das Jobcenter nicht rechtzeitig gezahlt hat. Kühne sagt: „Mich brauchen die Schwachen.“
Und er sagt, er wolle keine Anerkennung, ihm gehe es um die Wirkung. Überhaupt seien seine Erfahrungen mit Dankbarkeit sehr gering. Er mag sich daran gewöhnt haben, von denen da oben ignoriert zu werden. Doch wenn man seine Texte genau liest, dann hört man die Enttäuschung über die fehlende Würdigung heraus, den Wunsch danach, gesehen zu werden.
Herr Kühne kann nicht aufhören
Am 3. Mai schreibt er zum Jubiläum des Grundgesetzes: Durch den bevorstehenden 70. Jahrestag der Verabschiedung des GRUNDGESETZES – und damit der Konstituierung der BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND als völkerrechtlich anerkannter STAAT – jagen sich im Wettbewerb die verschiedensten Instanzen um einen Platz im Erinnerungsregister der Jahresbücher. Auch ich wäre gerne dabei gewesen, aber zu viel Kritik ist ein Haufen Stolperstein, die jeder für sich alleine schon eine gehörige Portion Mut hätte abfordern müssen, um als Verlag oder Organ das Risiko eines verlegerischen Flops einzugehen.
Wären da nicht immer wieder kleine Erfolge, eine erfolgreiche Klage, die er mit angestoßen hat, eine lobende Antwort auf seine Repliken, dann hätte er schon längst hingeschmissen. Vor ein paar Monaten verlor Kühne einige Materialien in der Bibliothek. Danach warf er all seine Ordner in die Luft und dachte, jetzt höre er endgültig auf. Aber Herr Kühne kann nicht aufhören. Es gibt einfach noch zu viele Ungerechtigkeiten. Außerdem, sagt er, habe er keinen Nachfolger, einen mit so einem wirren Geist wie er, der diese Arbeit überhaupt machen könnte.
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